Kapitel 5
"Was?", rief ich aufgebracht und schlug mit der Hand auf die Tischplatte. "Ich wollte nur wissen, wo der Ersatzschlüssel ist!"
"Es gibt keinen Ersatzschlüssel", murmelte Ricardo und sah mich mitleidig an. Ich schoss Emil einen wütenden Blick zu. Natürlich gab es keinen. Niemand, der auf der Flucht war und sich versteckte, war so leichtsinnig, einen Schlüssel unter einen Stein zu legen. Wie dumm von mir.
"Lorelai." Joshs Stimme hatte einen überraschten und gleichzeitig weichen Ton angenommen und Erleichterung spülte all den Aufruhr aus dem Band. Meine Chance, seine ungefilterten Gefühle zu ergründen, war verfallen. Ich ballte die Hände zu Fäusten.
"Sag deinen Freunden, wer euch die Informationen über Leonards Aufenthaltsort gegeben hat", forderte ich mit zusammengebissenen Zähnen und ignorierte die Schmetterlinge in meinem Bauch. Eins nach dem anderen.
"Was ist los bei euch?", fragte Josh und versuchte, meine Frage einfach zu übergehen.
"Wir sind noch in der Kennenlernphase", antwortete Ricardo leichthin und ich wollte irgendjemandem richtig fest ans Schienbein treten. Mussten sich denn alle ständig in sarkastische Halbwahrheiten und ignorante Ausweichmanöver flüchten?
"Schwachsinn", fauchte ich und hielt meinen Frust nicht länger zurück. "Keiner von euch hat versucht mich kennenzulernen, keiner will mich kennenlernen." Ricardo senkte den Blick, während Emil mich anstarrte wie ein Versuchsobjekt. "Nur weil ich Arenberg heiße, meint ihr zu wissen, wer ich bin. Dabei habt ihr weder eine Ahnung davon, wie der Orden wirklich ist, noch wie es ist, in meine Familie hineingeboren zu werden. Denn ihr hattet das Glück, dieses Leben erspart zu bekommen!"
"Lorelai", warf Josh warnend ein und ich erinnerte mich wieder daran, dass er auch mithörte und keine Ahnung hatte, was vor sich ging.
"Du", zischte ich zornig und zog das Handy an mich. "Du hältst jetzt die Klappe und hörst mir zu. Ich weiß nicht, wieso du deinen angeblichen Verbündeten nicht erzählt hast, woher die Informationen über Leonard stammten, aber ich werde mir nicht länger vorwerfen lassen, ich sei eine Lügnerin. Ich will, dass du das klarstellst." Ich holte tief Luft und schob mir meine Haare aus dem erhitzten Gesicht. "Deinetwegen sitze ich in dieser frostigen Hütte fest und lasse mich von voreingenommenen Schwachköpfen für etwas anfeinden, was ich nicht getan habe."
Ricardo räusperte sich beleidigt, aber es war mir egal. Ob die Nestflüchter mich jetzt für eine undankbare Ordenstochter oder für eine manipulierende Arenberg hielten, machte wohl kaum einen Unterschied.
Und wenn ich ehrlich war, mochte ich mich selbst wohl gerade am allerwenigsten. Doch das Gift, das dank meiner Mutter durch meine Adern floss, brauchte ein Ventil und hatte es endlich gefunden. Dennoch presste ich die Lippen zusammen, um mich daran zu hindern, noch mehr Anschuldigungen loszulassen.
Einige Sekunden verstrichen, bevor Emil fragte: "Sagt sie die Wahrheit?"
Angespannt umfasste ich den Tisch und kratzte nervös an einer Messerkerbe herum. Josh seufzte und vor meinem inneren Auge fuhr er sich durch die braunen Haare, eine freche Locke in der Stirn, die immer machte, was sie wollte. "Ja", erwiderte er schließlich kühl und ich ließ erleichtert meine Schultern sacken. Wenigstens jetzt war er ehrlich.
Emil presste die schmalen Lippen aufeinander und sah starr auf sein Handy hinab. "Wieso?", brachte er angestrengt hervor.
Ricardo schüttelte enttäuscht den Kopf. "Wenn wir einander belügen, wem können wir dann noch trauen?", knurrte er unterdrückt und rieb sich die müden Augen.
"Mir", schlug ich zynisch vor und hob die Hand wie eine Freiwillige, wurde aber von allen ignoriert.
"Es tut mir leid", erwiderte Josh. "Ich hatte Angst, dass ihr der Information nicht vertrauen würdet, wenn sie von Lorelai käme." Ich lachte bitter auf und lehnte mich an die Bank zurück. Auch drei Lagen Kissen machten sie nicht bequemer oder konnten darüber hinwegtäuschen, dass Josh mit seiner Annahme verdammt nochmal Recht behalten hätte. Musste seine Erklärung jetzt auch noch plausibel klingen? Mein Ärger auf ihn schrumpfte ein wenig.
"Mhm", brummte Ricardo ertappt und sein schelmisches Grinsen verzerrte seine Gesichtszüge. "Immer einen Schritt voraus, was?" Sein Blick heftete sich an mich und meine Wangen wurden heiß, als ich die Bedeutung hinter seinen Worten registrierte. Ricardo lächelte zufrieden in sich hinein, als er meine Reaktion bemerkte, und ich hätte mich ohrfeigen können.
"Du hattest genug Zeit, uns im Nachhinein aufzuklären", warf Emil ein und riss mich aus meinen Fantasien. Er behielt immer den Überblick und war dank seiner Beobachtungsgabe sicher an vielen strategischen Entscheidungen beteiligt. "Seit Leos Befreiung ist fast eine Woche vergangen."
Nur eine Woche, dachte ich erstaunt, dabei fühlten sich die letzten Wochen an wie Jahre. So viel Schönes und so viel Schreckliches war passiert, es konnte unmöglich alles in einen einzigen Monat passen.
"Ich war damit beschäftigt, Lorelai vor ihrer Familie zu retten." Und dann war eigentlich Funkstille vereinbart gewesen.
"Wie geht es Tabea?" Die Frage platzte unerwartet aus mir heraus, weil ich nicht noch eine Chance verstreichen lassen wollte. Was, wenn wir nach diesem Anruf den Kontakt wieder für den Rest der vereinbarten Zeit abbrachen?
Josh schwieg einen Moment und seufzte dann tief. "Sie macht sich Sorgen. Und sie ist wütend und traurig und..." Er brach ab und ich biss mir auf die Innenseite meiner Wangen, um die Tränen zu unterdrücken.
"Was hast du ihr gesagt?", flüsterte ich und malte mir im Kopf die schlimmsten Antworten aus.
Sie wurde von ihren Eltern entführt und ich weiß nicht, wo sie ist. Sie ist vor ihren Eltern weggelaufen und ich weiß nicht, wo sie ist. Sie hat uns ohne ein Wort verlassen. Ich weiß nicht, wo sie ist.
"Die Wahrheit", erwiderte Josh leise. "Mehr oder weniger. Dass ich dich bei alten Freunden untergebracht habe, um dich vor deinen Eltern zu beschützen."
"Oh." Überrascht schluckte ich den Kloß in meinem Hals hinunter und holte zitternd Luft. "Das... das ist gut."
"Sie wird Fragen stellen." Emil sprach sachlich und kühl und der Vorwurf, der in seinen Worten mitschwang, gefiel mir überhaupt nicht.
"Niemand rührt Tabea an", stellte ich klar und starrte Emil in die kalten grünen Augen.
"Lass das meine Sorge sein", warf Josh ein und Emil senkte widerwillig den Blick. Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen hellen Augenbrauen, als würde er bereits an einem Notfallplan feilen. "Kann ich bitte kurz mit Lorelai unter vier Augen sprechen?", bat Josh dann leise und eine nervöse Anspannung erfasste mich.
"Es ist schon gefährlich genug, dass wir überhaupt telefonieren." Emils Stirn legte sich nachdenklich in Falten, als ich zu einer Erwiderung ansetzte.
"Ach, komm schon." Ricardo verdrehte die Augen und setzte dann sein charmantes, aber irgendwie auch wölfisches Grinsen auf. "Tu es für die Liebe. Selbst in deiner steingemeißelten Brust schlägt ein weiches, warmes Herz." Er klopfte Emil auf besagten Körperteil und erntete dafür ein müdes Seufzen.
"Fasst euch kurz", brummte Emil und kurz darauf war ich mit seinem Handy und Josh allein.
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