Kapitel 2
Nachdem Henrik verschwunden war und ich meine Haare einigermaßen in Form gebracht hatte, schlich ich in den Flur. Joshs Pullover reichte mir bis zu den Oberschenkeln und saß viel zu locker, aber die einzige Alternative waren die durchgeschwitzten Trainingsklamotten. Mit einem tiefen Atemzug setzte ich den Fuß auf die erste Stufe und kündigte mich mit einem eindeutigen Knarzen an. Die Gespräche über mir verstummten und ich verfluchte mich für meine übereilte Entscheidung. Ein Rückzieher kam allerdings nicht in Frage.
Deshalb stieg ich seufzend die schmale Holztreppe hinauf und begegnete sechs Augenpaaren, die mich mit Feindseligkeit, Argwohn und Neugier musterten.
"Hier ist noch frei." Henrik deutete mit einem Lächeln neben sich und klopfte auf die Sitzbank. Sarai sah ihren Bruder kopfschüttelnd an und ihr Blick war eiskalt, als er mich traf. Je häufiger ich ihre Dunkelheit in den letzten Tagen zurückgeschlagen hatte, desto mieser war ihre Stimmung geworden. Außerdem machte sie mich für ihre Schussverletzung verantwortlich. Dabei hatte ich nicht einmal von dem Plan der Nestflüchter gewusst, mich an Silvester vor dem Ultimatum meiner Eltern zu retten.
Mit gesenktem Blick umrundete ich den langen, abgenutzten Tisch und setzte mich auf die unbequeme Bank, die mit durchgesessenen Kissen bedeckt war. Hinter mir tobte der Wind über den eingeschneiten Balkon und ich hätte lieber nackt in der Eiseskälte gestanden, als mich der angespannten Stille am Tisch auszusetzen.
Mein Magen grummelte laut und die spöttischen Blicke der Nestflüchter ließen meine Wangen rot aufflammen. Ich presste die Lippen zusammen und wünschte, ich wäre niemals mit ihnen gegangen. Dann säße ich zwar bei meinen Eltern am Tisch, aber ihre Art, unterschwellige Drohungen auszustoßen und ihre Macht zu demonstrieren, kannte ich wenigstens. Ich konnte damit umgehen. Doch die Nestflüchter... Ich wusste fast nichts über sie und das, was sie über mich wussten, entsprach nur teilweise der Wahrheit.
"Suppe?", fragte Henrik mit seiner hellen Stimme und schöpfte mir Linseneintopf in die Schale. Ich nahm das dampfende Essen dankend entgegen und wartete, bis auch alle anderen ihren vollen Teller vor sich stehen hatten, bevor ich gierig einen Löffel nahm und mir prompt die Zunge verbrannte. Josh drängte sich in meine Gedanken und ich biss mir frustriert auf die Unterlippe.
"Wie war das Training?", fragte Henrik leise und durchbrach erneut die angespannte Stille. Ich musste wirklich mitleiderregend wirken, wenn er sich wiederholt dazu durchrang, mich anzusprechen, und dafür die Blicke der anderen ertrug. Er schien die gute Seele der Nestflüchter zu sein und sich um Harmonie in der Gruppe zu bemühen, aber ich fürchtete, dass er sich damit selbst in Schwierigkeiten brachte.
Oskar am Kopf des Tisches musterte mich stumm. Der Platz ihm gegenüber war leer und ich hatte bereits einmal den Fehler gemacht, mich auf den freien Stuhl zu setzen. "Gut", antwortete ich vage und vermied es, in Sarais Richtung zu schauen. Sie saß neben Oskar und führte verkrampft ihren Löffel zum Mund.
Tamie, die rothaarige Begabte rechts von Sarai, hob eine Augenbraue. "Hört, hört", murmelte sie und schaute zwischen ihren widerspenstigen Locken hervor. Ich ignorierte sie und konzentrierte mich darauf, meine Suppe umzurühren, bis sie genug abgekühlt war, um sie gefahrlos zu essen. Wie konnte Josh mit diesen Menschen bloß befreundet sein? Sie hatten nichts mit Tabea und mir gemein. Viel eher kamen sie mir vor wie eine verjüngte Kopie des Ordens.
"Wir müssen den Trainingsplan umstellen." Oskar sah in die Runde und nickte dann in meine Richtung. "Wir haben sie unterschätzt." Ich schluckte schwer die weichen Karotten und Linsen in meinem Mund hinunter und ließ den Löffel sinken.
"Wieso trainieren wir sie überhaupt?", fragte Emil, der gegenüber von Sarai Platz genommen hatte, und verschränkte die sommersprossigen Arme. Er lief den ganzen Tag im T-Shirt herum, während ich selbst in den dicksten Pullovern noch fror. "Ist ja nicht so, als wäre sie eine von uns." Ich presste die Lippen zusammen und sah stur auf die Tischplatte. Dieses Gespräch hatte ich schon oft mitangehört.
Sie kann uns noch nützlich sein. Sie ist keine Gefangene. Sollte sie aber sein.
"Sie ist Valerians dunkle Gefährtin. Er wollte es so", stellte Oskar klar und legte die Fingerspitzen nachdenklich aneinander.
"Gefährtin hin oder her, sie ist und bleibt eine Arenberg." Tamie pustete sich ihre widerspenstigen Haare aus den Augen. "Wir können ihr nicht vertrauen. Und Valerian ist nicht hier."
Nein, das war er nicht. Und irgendwie doch. Denn da war dieses sanfte Pochen, ein Anklopfen, Anstürmen gegen das Band, das ich, so gut es ging, ignorierte.
"Wir haben es versprochen." Zu meiner Überraschung war es Sarai, die diese Worte aussprach. "Wir haben ihm versprochen, auf sie aufzupassen und ihr zu helfen, ihre Gabe zu kontrollieren, solange er fort ist." Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit.
"Du willst sie doch bloß endlich ohne Valerians Hilfe besiegen", spottete Ricardo und lächelte mich mit einem unverschämt charmanten Grinsen an. Ich konnte es nicht leiden, wenn sie Josh so nannten. Es fühlte sich an, als sprachen sie von einer anderen Person. Als würde ich ihn gar nicht kennen, und irgendwie tat ich das auch nicht mehr.
Er hasst es, Josh genannt zu werden.
Schnaubend verscheuchte ich die giftigen Worte aus meinem Kopf. Tamie hatte sie mir an den Kopf geworfen und mir damit deutlich zu verstehen gegeben, wer seine wahren Freunde waren.
Ricardos braune Augen blitzten amüsiert, weil er mein grimmiges Lächeln falsch deutete, und er beugte sich ein Stück zu mir vor. "Ich dagegen habe kein Problem, von Lorelai dominiert zu werden", fügte er mit rauer Stimme hinzu und sicherte sich damit meine Aufmerksamkeit in Form eines abschätzigen Schnaubens.
"Oh Mann, kannst du auch mal irgendwas ernst nehmen?", fragte Tamie genervt und verdrehte die Augen. "Außerdem würde dir Valerian sicher den Kopf abreißen, wenn du ihr auch nur einen Zentimeter zu nahe kommst."
Ich schüttelte mit dem Kopf und wusste, es wäre besser, die Klappe zu halten und das Essen einfach hinter mich zu bringen. Aber ich konnte es nicht mehr länger ertragen, dass sie über mich sprachen, als wäre ich gar nicht anwesend, und noch dazu, als könnte ich keine eigenen Entscheidungen treffen. Das würde ich nicht noch einmal zulassen.
"Valerian hat keinen Anspruch auf mich", sagte ich bestimmt und sah den Nestflüchtern nacheinander in die Augen. "Er trifft keine Entscheidungen für mich und ihr tut das genauso wenig. Wenn ihr über mich sprecht, während ich dabei bin, dann sprecht mit mir. Denn ich kann euch hören. Außerdem war es nie meine Absicht, euch zu kränken und euch hier zur Last zu fallen. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann-"
"Dann was?", zischte Sarai und Emil legte interessiert den Kopf schief, während Henrik seufzend den Kopf hängen ließ. "Dann würdest du jetzt mit deinen lieben Eltern in eurem Schloss Arenberg sitzen und dir von einem Diener den Mund abwischen lassen?"
"Für ihren Nachnamen kann sie doch nichts", flüsterte Henrik und Emil verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Ich war mir sicher, dass Henrik nicht viel jünger war als die anderen, aber er wurde wie ein Kind behandelt.
"Ihr habt keine Ahnung von meiner Familie", antwortete ich gepresst und schob appetitlos meine kalte Suppe von mir.
"Wir wissen alles, was wir wissen müssen", behauptete Emil und wedelte nachlässig mit der Hand in der Luft herum. "Ihr habt das Lügen zu einer Meisterschaft erhoben und deshalb trauen wir dir nicht über den Weg." Seine kalten Augen beobachteten mich über den Rand seiner Brille hinweg und er schnaubte lächelnd, als ich nichts erwiderte. "Dein Pokerface hast du auch von ihnen geerbt."
Ich hätte schreien können vor Wut. Egal, was ich tat, ob ich ruhig blieb oder tobte, ob ich die Wahrheit sagte oder schwieg, es machte keinen Unterschied. Aber ich biss erneut die Zähne zusammen und faltete meine Hände verkrampft in meinem Schoß, um ihnen meine nervösen Finger nicht zu zeigen. "Ich habe euch nie belogen", beteuerte ich zum hundertsten Mal und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Das Klopfen und Ziehen an der Seelenverbindung drängte sich in den Vordergrund, doch ich konnte jetzt nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen.
"Es wird nicht glaubwürdiger, wenn du es häufiger sagst." Tamie sah mich mitleidig an. "Armer Valerian. Da hat er das Glück, seine Gefährtin zu finden, und dann das." Ihre Augen wanderten über meine Erscheinung und sie rümpfte die Nase.
"Tch." Ricardo verschränkte die Arme. "Eifersüchtig?", stichelte er und grinste mich an, als täte er mir einen riesen Gefallen.
Ich spürte, wie ich mehr und mehr meine Fassung verlor, und mir wünschte, Josh wäre hier, um all die Missverständnisse aufzuklären. "Ich habe nicht gelogen! Ich habe Josh gesagt, wo Leonard gefangen gehalten wurde! Ich habe euch geholfen!"
"Es war unsere Kontaktperson, die uns diese Informationen gegeben hat", stellte Oskar fest und ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Wieso hatte Josh ihnen verschwiegen, dass ich es gewesen war, die ihm den Aufenthaltsort zugespielt hatte? Wieso hatte mir ausgerechnet das herausrutschen müssen, nachdem ich mich auf Leonards Stuhl gesetzt und damit die Laune verdorben hatte? Denn Leonard war noch nicht genesen und solange war sein Platz für alle tabu.
"Und es war auch nicht hilfreich, als du dich an Silvester gegen uns gewandt hast", zischte Sarai und ich sank hilflos in meinem Stuhl zusammen, denn diesen Kampf konnte ich so offensichtlich nicht gewinnen. "Wann kann ich mit Josh sprechen?", fragte ich leise und senkte den Blick, damit sie verstanden, dass ich aufgegeben hatte.
"Ich dachte, das könntest du jederzeit? Wie hast du ihm sonst Leonards Aufenthaltsort verraten?" Ich zuckte zusammen, als mir mein Fehler bewusst wurde und sich Emils Stimme wie ein Dorn in meinen Kopf bohrte.
"So funktioniert die Verbindung nicht", antwortete ich, aber ich hatte längst verloren. Keiner von ihnen hatte einen eigenen dunklen Gefährten und deshalb konnten sie die Verbindung nicht verstehen. Wir konnten keine Gespräche darüber miteinander führen, zumindest nicht so, wie ich es brauchte. Ich brauchte mehr als verschwommene Eindrücke und mehr als rohe Gefühle. Ich wollte die Wahrheit und ich wollte ihm dabei in die Augen sehen.
"Danke für das leckere Essen", sagte ich an Henrik gewandt und stand steif auf. Mein Hintern schmerzte von der unbequemen Bank und ich verbarg meine verkratzten Nägel in den langen Ärmeln des Pullovers.
"Zwei Wochen Funkstille", platzte es aus Henrik heraus und er zog den Kopf ein, als ihn die Blicke der anderen Nestflüchter trafen. Ich hielt inne und er präzisierte: "Wir hatten zwei Wochen Funkstille nach Silvester vereinbart. Zur Sicherheit, falls man ihn verdächtigt."
Also noch zehn Tage. Ich schaute in die zornigen Gesichter am Esstisch, die Henrik dafür verurteilten, dass er mir einen Teil des Plans offenbart hatte. Und auch, wenn er nicht der kleine Junge war, für den ihn anscheinend alle hielten, verspürte ich das Bedürfnis, ihn in Schutz zunehmen.
"Wenn ich euch hätte verraten wollen", erklärte ich bestimmt, "hätte ich es längst getan."
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