Kapitel 11
Ich hatte erwartet, dass die Nachricht unseres Aufbruchs die Nestflüchter in größere Aufregung versetzen würde. Aber sie packten vollkommen routiniert ihre Taschen und in weniger als zwei Stunden verließen wir auf zwei Autos aufgeteilt Grindelthal durch die verschneiten Serpentinen. Es war das erste und gleichzeitig das letzte Mal, dass ich mehr von dem alten Dorf zu Gesicht bekam als das Innere der Berghütte.
Ich wusste nicht sicher, wo wir waren oder wohin wir fuhren, aber bald schon wichen die glitzernden Berggipfel schroffen Felswänden, die wenig später in sanfte Hügel übergingen. Mit geschlossenen Augen ließ ich mir die Sonne ins Gesicht scheinen und versuchte, diese Flucht nicht zu sehr zu genießen. Denn wir konnten nicht wissen, ob es bloß Glück gewesen war, dass Henrik so lange unentdeckt geblieben war. Vielleicht hatte der Orden auch schon lange ein Auge auf das Nest um Henrik geworfen?
Ich verwarf den Gedanken sofort wieder und streckte mich haltsuchend nach dem Band aus. Wenn der Orden Henrik beobachtet hätte, dann wüsste er längst von Josh. Diese Chance hätte mein Vater niemals verstreichen lassen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er ihm antun würde, sollte er ihn jemals fassen.
Was ist los?
Ein zaghaftes Zupfen und eine Spur von Sorge. Ich lächelte in mich hinein, denn mehr brauchte es nicht, damit Josh und ich einander verstanden.
"Habt ihr Josh Bescheid gesagt oder soll ich das tun?", fragte ich in das angespannte Schweigen im Wagen hinein und Ricardo drehte die Musik leiser.
"Ich weiß nicht, ob Valerians Herz ein weiteres Missverständnis verkraften kann", antwortete er grinsend und zwinkerte mir über den Rückspiegel zu.
Ich sparte mir eine Erklärung und konzentrierte mich stattdessen auf die nervösen Impulse, die das Band erzittern ließen. Je besser wir uns kannten, desto besser verstanden wir einander. Und vor unserem Telefonat war mir Josh wie ein Fremder vorgekommen, doch jetzt...
Ich verband das Gefühl von Freiheit mit der Anspannung der Gefahr und verflocht sie mit dem, was ich sah: vorbeihuschende Autos und Straßenschilder, braune Bäume und grauer Asphalt.
Geht es allen gut?
Zufrieden lächelte ich in mich hinein und unterdrückte ein Gähnen. Dann sandte ich Zuversicht über die Verbindung unserer Schattenseelen, während Tamie auf dem Beifahrersitz die Musik wieder aufdrehte.
"Müsliriegel?", fragte sie einige Stunden später, während wir an einem Rastplatz hielten, und ihre Locken raschelten über den Sitz, als sie sich zu Henrik und mir umdrehte.
"Gerne, danke." Ich nahm ihr einen Riegel ab und den zweiten warf sie Henrik kurzerhand an den Kopf, weil er nicht reagierte.
"Aufwachen, du Baby!", rief sie und Henrik rieb sich verschlafen über die Augen. Er blinzelte verwirrt aus dem Fenster, nahm die Zapfsäulen und die offene Fahrertür in Augenschein, bevor er in seinen Schoß blickte.
"Danke", murmelte er, ignorierte Tamies freches Grinsen und riss die Verpackung des Riegels auf. Seit er von seiner Schwester von dem Foto erfahren hatte, hatte er kaum ein Wort gesprochen. Man konnte ihm ansehen, dass er sich schuldig fühlte, auch wenn ihm außer Sarai niemand Vorwürfe machte.
"Ach komm. Hör schon auf Trübsal zu blasen." Tamie verdrehte seufzend die Augen. "Wir werden weder verfolgt noch ist irgendjemandem etwas zugestoßen. Der Orden hat das Foto bereits über ein Jahr und seitdem bist du nicht erneut auf ihrem Radar aufgetaucht. Irgendwann, wenn ich Zugriff auf ihr Netzwerk bekomme, lösche ich unsere Akten, und du bist ein freier Mann." Sie grinste begeistert von ihrer eigenen Idee und ich beugte mich interessiert nach vorne.
"Könntest du das wirklich tun?", fragte ich und schlang meinen Müsliriegel hinunter.
"Na klar." Tamie hob ihre Hände und wackelte mit den Finger, als würde sie Klavier spielen. "Ich bin eine Meisterin der Tastatur." Beeindruckt hob ich die Augenbrauen. Eine Hackerin in den Reihen der Nestflüchter war sicher nützlich.
Während Tamie sich wieder umwandte, schweifte mein Blick nach draußen und ich entdeckte Ricardo, der seinen Charme bei einer vierköpfigen Familie auf einer Bank an der Raststätte spielen ließ. Er schüttelte den Eltern grinsend die Hand und wenig später drehte er sich triumphierend zu uns um. In einer Hand hielt er einen Autoschlüssel, mit der anderen deutete er auf einen hellblauen Minivan.
Tamie sprang erleichtert aus dem Auto. "Endlich mehr Platz", jubelte sie und gemeinsam mit Henrik holte sie ihre Tasche aus dem Kofferraum. Da ich nicht mehr als das, was ich an Silvester getragen hatte, besaß, schulterte ich meinen leichten Rucksack und rutschte argwöhnisch von der Rückbank.
"Was soll das?", fragte ich und beobachtete, wie Ricardo das neue Auto von innen inspizierte. "Hat er das etwa gerade geklaut? Am helllichten Tag mitten auf dem Parkplatz?"
"Sah das für dich nach Diebstahl aus?", fragte Tamie zurück und schritt eilig zu Ricardo hinüber. Fassungslos starrte ich den Nestflüchtern hinterher, für die der leichtfertige Umgang mit ihrer Gabe völlig normal zu sein schien.
Schnell stolperte ich ihnen nach, bevor jemand mein Verhalten verdächtig fand. "Aber jetzt hat die Familie kein Auto mehr!", zischte ich vorwurfsvoll, gerade als Ricardo den Rückspiegel einstellte.
"Sie werden unser Altes nehmen wollen", erwiderte er und zwinkerte verschmitzt. Ungläubig presste ich die Lippen zusammen und warf meinen Rucksack in den Fußraum. Von freiwillig wollen konnte wohl kaum die Rede sein.
Ich hatte eigentlich nicht vor, meine Gedanken laut aussprechen, aber die Worte kamen mir über die Lippen, bevor ich es verhindern konnte. "Manchmal seid ihr genauso schlimm wie der Orden."
Ricardo hielt inne, sein überraschter Blick traf meinen im Rückspiegel und Henrik sah mich von der Seite her bittend an, bloß die Klappe zu halten. Die Spannung hielt nicht lange an, denn Tamie warf lachend den Kopf zurück und schüttelte ihre widerspenstigen Locken. "Glaubst du etwa, der Orden wendet die Gabe nicht für weit schlimmere Dinge an? Wofür werdet ihr denn ausgebildet an eurer tollen Ordensuniversität?"
Ich starrte sie mit offenen Mund an. Sie tat gerade so, als wäre ich die naivste Begabte auf Erden. "Ich weiß genau, was sie dort lehren", erwiderte ich gepresst und ballte die Hände zu Fäusten. Es gab schließlich einen Grund, wieso ich all dem hatte entfliehen wollen. Weil ich nicht erlernen wollte, Unbegabte zu Geschäftsabschlüssen zu zwingen, die sie in den Ruin trieben und gleichzeitig den Orden bereicherten. Weil ich niemanden dazu zwingen wollte, seinen Ruf, seine Karriere und sein Leben aufs Spiel zu setzen, um die Machtposition des Ordens in den Hinterzimmern von Vorstandsmitgliedern, Politikern und organisierten Verbrechern zu stärken.
"Ach ja?" Tamie warf mir über die Schulter einen Blick zu, den ich ungerührt erwiderte. Sie würde mich nicht dazu bringen, ihre Frage zu antworten.
"Nicht alle Menschen im Orden sind gleich", sagte ich nach einem tiefen Atemzug und schnallte mich an. Ich dachte an Oma Grete und mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Sie musste sich unglaubliche Sorgen machen.
"Nenn mir einen, der seine Gabe nicht zu seinem eigenen Vorteil gebraucht", forderte Tamie mich heraus und ich straffte die Schultern.
"Meine Oma hat ihren Führerschein verloren. Sie hat ihn sich nicht zurückmanipuliert", antwortete ich fest und presste meine Lippen aufeinander.
Tamie legte entspannt die Füße auf das Armaturenbrett und seufzte. "Das wäre ja auch verboten, nicht wahr?" Sie wackelte mit den Zehen und mein Kiefer verkrampfte sich immer mehr. "Aber woher weißt du, dass sie den Orden nicht um seine Erlaubnis gebeten hat?"
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