22. Kapitel - Das fünfte Element
Augustus handelte sofort. Als er sah, dass das Lava aus dem Boden quoll und die erste Blase brodelnd platzte, stürmte er runter vom Podest. Er rannte zum Kreis-Gefängnis, wo er Enya, Fiona und Darius eingesperrt hatte. Unsanft brach er die Barriere und zerrte allesamt nach draußen.
"Raus hier! Wir haben den Kreis für euch zwar als Gefängnis genutzt, aber eigentlich ist es ein Schutzkreis, falls die Erde doch mal beben sollte. Eine Sicherheitsmaßnahme. Weg da!"
Er trat in den Kreis und seine Handlanger folgten. Ihre sonst steinharten Gesichter waren nicht mehr so ausdruckslos. Sobald alle Drei im Kreis waren, steckte Augustus einen seiner Schlüssel in den Boden. Er drehte ihn um - und damit auch die Barriere. Das Lava schlug von außen gegen die Wand und kam nicht mehr durch. Von innen konnte er aber seine Hand nach außen stecken. Der Schutzkreis funktionierte.
Die Drei waren in Sicherheit.
"Dummer Apothekersohn!", schrie er Kilian zu. "Du wolltest die Erde absichtlich beben lassen - jetzt werdet ihr alle sterben!"
Fiona und Enya rannten zu ihm. Darius hüpfte mit seinen kurzen Beinen so gut es ging um die brodelnden Lavablasen herum. "Heiliger, gerösteter Nusssalat!", quietschte er und schaffte es, das Podest sicher zu erreichen.
Gemeinsam kletterten alle Stufen des Podests in scheinbare Sicherheit hoch. Sie ließen sich neben ihn fallen.
"Kilian!" Enya hatte die Augen aufgerissen. Sie wirbelte zu Fiona herum. "Er hat die Prüfungen doch bereits bestanden! Was passiert gerade?"
"Die Balance." Fiona versuchte, ihm unter die Arme zu greifen, um ihm auf die Beine zu helfen. "Du musst die Balance herstellen!"
"Ich versuche es ja!" Kilian hatte das Gefühl, dass es mit jeder Sekunde schwerer wurde. Er hatte die Elemente kennengelernt, als sie eine Weile frei gewesen waren. Sie waren mit jeder Stunde stärker geworden - aber nicht so stark wie jetzt. Vielleicht hatte das Licht des Mondes sie ermächtigt, denn nun, als er sie gehen lassen hatte, hatte jedes schlagartig seine volle Kraft angenommen. Das war mehr, als er erwartet hatte. Das war zu viel.
Er hatte das Gefühl, er müsste vier Drachen fangen, statt vier Elemente. Sie waren zu groß, zu wild, zu mächtig. Sie zerrten an ihm und er hatte Mühe, sie überhaupt festzuhalten, geschweige denn, sie wieder zu sich zum Podest zu ziehen. Aber wenn er loslassen würde, wäre alles endgültig vorbei.
Sie wollten zurückkommen! Doch das taten sie nicht. Der Vulkan bebte. Die Elemente flogen immer wilder umher und lebten ihre Freiheit aus.
"Bitte, Kilian!" Fiona weinte. "Ich will dich nicht verlieren."
Und er wollte sich nicht verlieren.
Aber er konnte sich nicht auf alle Elemente konzentrieren. "Ich kann das nicht allein", hauchte Kilian.
Darius war plötzlich neben ihm und legte eine Pfote auf seine Hand. "Gut, dass du nicht allein bist."
Feuer. Darius hatte ihm beim Auslösen des Feuers geholfen. Enya bei Erde und Wasser. Kilian selbst hatte die Prüfung der Luft mit Leichtigkeit bestanden. Und Fiona hatte ihm gezeigt, worauf es bei allen Elementen und beim Jonglieren ankam.
Aber egal wann, er war niemals allein gewesen.
Das Beben der Erde wurde schwächer. Die Elemente wurden langsamer und drehten sich neugierig um, als Kilian wieder auf die Beine kam. Er stützte sich hoch und biss die Zähne zusammen.
In der Natur gehörten alle Elemente zusammen. Die Balance war ihr natürlicher Zustand. Er dachte an die Geister, die er getroffen hatte, und was sie ihn gelehrt hatten.
Stärke. Ruhe. Leichtigkeit. Vertrauen.
Kommt her. Es war kein Befehl, sondern eine Bitte. Doch die Elemente spürten, dass sich etwas veränderte. Je mehr er sich aufrichtete und innere Größe annahm, desto kleiner wurden sie. Sie wurden ruhiger. Sie waren immer noch kraftvoll, aber dieses Mal nicht jedes für sich. Weil er verstanden hatte, dass er nicht allein war, erkannten auch die Elemente, dass sie nicht allein sein wollten.
Es findet immer zusammen, was zusammengehört.
Die Elemente gehörten zusammen, in Balance.
Er streckte die Hände aus. Sie flogen zu ihm. Sie wollten vereint werden.
Luft flog rechts von ihm, Feuer war hinter ihm, Wasser glitt nach links und die Erde kam vor ihm zum Stehen. Vier Elemente, vier Kräfte. Manche waren Gegensätze und doch hatten sie mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick sah. Sie ergänzten sich und passten perfekt zusammen, als Kilian sie berührte und zusammenschob. Die vier Farben trafen aufeinander und verschmolzen im Schein des Mondes zu einer goldenen Kugel.
Die Quintessenz.
Das fünfte Element.
Er hatte es geschafft.
Dann stieß das Irrlicht von oben herab und vergrub seine Zähne in der goldenen Kugel.
"Nein!"
Schwärze breitete sich aus, als das Heilmittel vergiftet wurde. Das goldene Element sank zusammen, als hätte jemand all seine Energie abgesaugt. Sie wurde dunkler, wie eine eingehende Pflanze kurz vor dem Tod.
Es starb.
Dann erwachte es neu. Doch es war keine Quintessenz mehr, sondern ein Irrlicht. Es pulsierte wie ein Herz aus Dunkelheit, wie ein Schatten seiner selbst. Entkräftet gesellte sich das neugeborene Irrlicht zum anderen.
Kilian hatte vergessen, wie man atmete. Wie gelähmt starrte er seine leeren Hände an. Es war, als hätte jemand auch ihm alle Energie abgesaugt. Er fühlte sich taub. Die Quintessenz war verschwunden und damit seine einzige Chance, Enya zu heilen. Seine Beine gaben nach, doch er merkte es erst, als er auf dem Boden aufkam.
Der Vulkan verstummte und die letzte Lava härtete zu schwarzen Gesteinsbrocken aus, passend zu seiner verbrannten Hoffnung.
Selbst Augustus und seine Handlanger waren einen Moment still.
Dann begannen die Männer wie irre zu lachen. "Und es ist doch ein Irrlicht geworden!"
Kilian hörte ihn kaum. Er starrte weiterhin seine leeren Hände an. Dabei hatte er so sehr geglaubt, dass er es schaffen konnte. Er hatte es Enya versprochen.
Zwei dünne Arme schlangen sich um ihn. Kilian drückte Enya fest an sich.
"Es tut mir so leid", weinte er.
"Schon in Ordnung", gab sie zurück. Sie versuchte ein tapferes Gesicht zu zeigen, doch ihre Lippe bebte und in ihren Augen sammelten sich Tränen. "Du hast alles versucht. Erinnerst du dich an damals, als wir zu Hause saßen? Silber war immer meine Lieblingsfarbe. Wenn ich schon sterben muss, dann wenigstens silbern leuchtend und im Licht des silbernen Mondes. Es ist okay. Vielleicht sehe ich ja diesen schöneren Ort, wo Mama ist und von dem du mir erzählt hast. Bitte sorge nur dafür, dass Papa frei wird und ihr beide gemeinsam nach Hause könnt."
Kilian schüttelte stumm den Kopf. Er wollte nicht. Er wollte sie nicht aufgeben müssen.
Etwas Plüschiges schmiegte sich an sein Bein. Darius sah ihn mit großen Augen an. Auch Fiona kniete sich neben sie und legte ihre Hand auf seine Schulter. Sie sagte nichts, doch Kilian wusste, dass sie verstand, was in ihm vorging. Auch sie hatte damals ihre Schwester durch ein Irrlicht verloren. Es gab keine Worte, die ausdrücken konnten, wie sich das anfühlte.
Der Schutzkreis, in dem Augustus und seine Handlanger sich versteckt hatten, löste sich auf. Der Mann trat nach vorne und wartete, bis sie alle die Köpfe hoben und ihn ansahen.
"Was für eine traurige Nacht", sagte er. "Es tut mir beinahe leid, dass ich euch nicht gehen lassen kann. Ihr wisst zu viel."
"Was willst du tun?", fragte Kilian erschöpft. "Uns alle vergiften?"
Augustus klatschte in die Hände. "Ja."
Nur wenige Sekunden später erfüllte ein Brummen die Luft. Durch die Öffnung strömten dutzende Irrlichter hinein. Ihr tödliches Leuchten erfüllte die Elementarebene, als sie auf weitere Anweisungen warteten.
"Es gibt nichts, wie ihr das Gift noch heilen könnt. Falls jemand auf die Idee kommen sollte, sich absichtlich beißen zu lassen, damit eine neue Quintessentia erscheint - so schnell geht das nicht. Ihre Magie braucht eine Weile und bis dahin steht der Mond nicht mehr im Zenit. Wie tragisch", seufzte er, ohne dass es ihm Leid tat.
"So viele müssen sterben ... für Gold?", fragte Kilian.
Augustus zuckte mit den Schultern. "Es ist ein guter Deal. Und neben Gold bringt es uns noch etwas: Respekt. Und jetzt ..."
Er drehte sich um, bereit zu gehen und sie allein ihrem Schicksal zu überlassen. Dann gab er den Irrlichtern ein Zeichen, sich auf sie zu stürzen.
Einhundert Irrlichter folgten seinem Befehl.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro