2. Kapitel - Der Garten des Apothekers
"Verschwinde!"
Kilian stürmte auf das Irrlicht zu. Man durfte ihnen niemals zu nah kommen - das hatten alle Meister im Unterricht immer wieder betont. Sonst verfiel man ihrem gefährlichen Zauber.
Aber da lag seine Schwester. Kilian schleuderte einen Zapfen auf das leuchtende Unwesen, welches erschrocken in die Höhe stob. Es schien irritiert über seinen Angriff zu sein und floh in den Wald. Vielleicht war es auch einfach nur satt und hatte keine Lust zu kämpfen.
Kilian folgte ihm einige Meter, bevor er stoppte. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er dem fliehenden Irrlicht hinterher. Er hätte es gerne verfolgt, doch es gab Wichtigeres.
"Urgh", stöhnte seine kleine Schwester, die auf der Lichtung lag. Kilian ließ sich neben sie fallen und stützte sie, damit sie wieder zu Bewusstsein kommen konnte.
"Was ist passiert?", fragte Enya zitternd, bevor die Trance nachließ und sie es selbst verstand. Sie fuhr sich durch die Haare. Ihr Zopf hatte sich gelöst und ihre Locken standen wirr in alle Richtungen ab. "Bin ich auf ein Irrlicht hereingefallen?"
Kilian nickte verkrampft, seine Augen huschten über seine Schwester. "Geht es dir gut?"
Mit seiner Hilfe stand sie auf. Als sie schwankte, hielt er sie auf den Beinen.
"Ich kann selber stehen", betonte sie und versuchte es erneut. Dieses Mal blieb sie tatsächlich stehen und tastete über ihren Arm. "Guck, es sind nur zwei kleine Punkte, nichts Schlimmes. Es hat nicht richtig zugebissen - hoffe ich."
Weil er gerade noch rechtzeitig gekommen war.
Doch Kilian schwieg. Und hoffte, dass es wirklich rechtzeitig gewesen war.
Kinder wurden, seit sie Laufen konnten, gewarnt: Irrlichter waren die tödlichsten Unwesen in ganz Jelera. Es gab kein Heilmittel gegen ihr Gift. Enya wusste das auch. Sie zitterte, was mit Sicherheit nicht an der Kälte lag.
"Wir sollten nach Hause", sagte er. Ihr Vater war Apotheker, er konnte am besten beurteilen, ob es Enya gut ging. "Komm." Kilian bedeute ihr, dass er sie Huckepack nehmen würde.
"Ich kann selber laufen!"
"Wolltest du vorhin nicht getragen werden? Einmalige Chance."
Einen Moment sah Enya aus, als wollte sie widersprechen. Dann folgte sie seiner Aufforderung und schlang ihre dünnen Arme um seinen Hals. "Ich habe vorhin übrigens Wofbrigoe gefunden", sagte sie und schniefte. "Vater wird sich freuen."
Kilian hielt sie fest, als könnte er ihr den Halt geben, den sie soeben verloren hatte. "Das hoffe ich."
~•~•~•~•~
Die Freude ihres Vaters artete eher im Gegenteil aus. "Ein Irrlicht?!"
Damit schien der sonst so besonnene und stets gefasste Apotheker seine innere Ruhe verloren zu haben. Er eilte wie ein kopfloser Tiger durch sein Studierzimmer und fuhr sich über die Schläfen, wobei er fast sein dünnes Brillengestell verlor. Gerade so konnte er es fangen und setzte es verkehrt herum wieder auf seine Nase auf.
Kilian und Enya tauschten einen Blick.
"Ich habe es rechtzeitig verjagt", sagte Kilian vorsichtig, zumal bisher nichts passiert war. Enya ging es tatsächlich gut. Vielleicht hatte das Irrlicht gerade nur seine Zähne in ihren Arm gebohrt, jedoch noch nicht zugebissen. Zwei oberflächliche rote Flecken zeugten von der Beinahe-Katastrophe.
"Alles wird gut", murmelte ihr Vater und stolperte über einen Bücherstapel. Gerade so konnte er sich auf den Beinen halten. Staub wirbelte auf. "Seht ihr? Alles in bester Ordnung. Zeig mir deinen Arm."
Enya streckte ihn aus. Die Bissstelle war schon fast verschwunden.
"Es tut auch nicht mehr weh", beteuerte sie, um seine Sorgen zu beruhigen. "Und schau, Daria hat auch noch nichts getan. Du weißt, dass sie sonst auf Gift reagiert!"
Kilian verdrehte die Augen. Er glaubte immer noch nicht, dass ein Eichhörnchen auf Gift reagieren konnte. Enya hatte das verletzte Tier im Wald gefunden und kurzerhand adoptiert. Ihr Vater war mäßig begeistert gewesen. Dann hatte es ein Gejammer gegeben, bis Enya das Eichhörnchen entschlossen 'trainiert' hatte. Mit dieser neuen Fähigkeit, Gifte zu riechen, war es nützlich zum Heilen und sie konnten es nicht mehr aussetzen.
Kilian musterte das flauschige Eichhörnchen, das in der Ecke saß und Nüsse fraß. Er hielt an seiner Vermutung fest: Ihr Vater hatte nur zugestimmt, damit Enya glücklich war.
Wenn schon, hätte es seiner Meinung nach wesentlich coolere Haustiere gegeben: Ein Chinchidra wäre lustig gewesen - das war ein Wesen, das wie eine Mischung aus Chinchilla und Drache aussah und kleine Flammen speien konnten.
"Ja, ja", murmelte sein Vater auch jetzt und schenkte seiner Tochter ein Lächeln. Es sollte wahrscheinlich beruhigend wirken, sah jedoch nach einer Grimasse aus. "Ich mache dir trotzdem einen Wickel aus Penerella. Und einen Trank aus Tapenie. Und ... Uabek kann auch nicht schaden. Ach, warte einfach hier, ich komme gleich wieder."
"Ich komme mit", bot Kilian an und stand auf. Auch wenn er sich mit den Heilkräutern und Apothekerkram nicht so gut auskannte wie der Rest seiner Familie, konnte er wenigstens beim Tragen helfen. Und sicherstellen, dass sein Vater - so durcheinander wie er war - nicht unachtsam gegen eine Wand lief.
"Dann will ich auch mitkommen!", rief Enya.
"Schön, kommt beide mit." Der Apotheker murmelte leise die Namen von irgendwelchen Kräutern vor sich her, während sie in den Garten gingen. Es war ein wildes kleines Reich. Die einst sorgsam angelegten Beere waren voll bewachsen und die Ranken krochen bereits an der Hauswand hoch. Sein Vater sorgte trotzdem dafür, dass die Wege immer frei waren - auch wenn sie immer enger wurden. Oder Kilian war einfach nur größer geworden und es wirkte nur auf ihn so. Große Sträucher mit roten und blauen Blättern drehten sich im Wind und begrüßten sie mit naturverbundenen Umarmungen. Kilian eilte seinem Vater hinterher und bemühte sich, nicht versehentlich auf die wandernden Wildblumen zu treten. Einige Elfen flogen um seinen Kopf, ihre Flügelschläge klimperten wie kleine Glöckchen.
"Penerella, hier ist Tapenie, ... haben die Wolfsschnecken wieder meine Ostumbra angeknabbert? Diese Insekten! Egal, darum kümmere ich mich später. Ich brauche noch ..."
"Uabek", erinnerte ihn Enya, während Kilian seinem Vater den Korb hinhielt, damit er Blumen und Kräuter ablegen konnte.
"Genau. Hier ... nein, das ist Unkraut! Weg damit", murmelte er und Kilian musste sich ducken, als sein Vater es nach hinten warf. Un-Kräuter waren in Jelera mindestens genauso unbeliebt wie Un-Wesen. Vor allem in ihrem Apothekergarten mussten sie aufpassen, dass keine Wurzeln schlugen. Mit ihren tentakelähnlichen Wurzeln waren sie mehr als hartnäckig. Auch jetzt versuchte sich das jammernde Unkraut noch irgendwo festzuhalten, doch eine Elfe fing es und entfernte es leise schimpfend aus dem Garten.
Sein Vater stampfte derweilen orientierungslos zurück ins Beet. Dann hob er eine Knolle wie eine Trophäe in die Luft. "Na bitte!"
Enya hielt sich die Nase zu, auch die Elfen flohen entsetzt. "Soll die so komisch riechen?"
"Warte, bis ich daraus eine Salbe gemacht habe. Ich mache sie auf deine Wunde und sie muss vierundzwanzig Stunden einwirken."
Enya zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.
Kilian lehnte sich zu ihr. "Ich wette, der Geruch hält noch tagelang danach an", flüsterte er.
"Wirklich?", fragte Enya erschrocken.
"Nein", widersprach ihr Vater und sah seinen Sohn durch die schmalen Brillengläser an. Dann nahm er ihm den Korb ab. "Ich brauche mein Kompendium. Kannst du es bitte holen?"
Froh darüber, von der nach Socken riechenden Knolle wegzukommen, trat Kilian die Flucht an. "Klar."
Er wusste schon, warum er kein Apotheker werden wollte. Eine nach Honig duftende Kaplusara war eine Sache, eine stinkende Uabek eine andere. Er eilte durch den Garten - fort von den Beeten und an der Mauer vorbei. Dahinter wiegten die großen Bäume des Waldes im Wind, noch weiter entfernt konnte er die Silhouetten des Nebelgebirges erkennen.
Hier im Garten lag ein kleines Reich aus Kräutern. Doch hinter der Mauer wartete eine ganze Welt voller Möglichkeiten, Gefahren und Abenteuer.
Wie gerne er losziehen würde. Doch das konnte er nicht - erst recht nicht jetzt.
Wenn Kilian gewusst hätte, wie falsch er mit diesen Annahmen lag, hätte er nicht so wehmütig in die Ferne geschaut, sondern etwas näher an der Mauer entlang geblickt. Dann hätte er auch die drei Gestalten gesehen, die nun erwartungsvoll im Schatten verschwanden.
Doch so betrat er nur nichtsahnend das Haus, auf der Suche nach dem Kompendium.
Das Studierzimmer war sein Lieblingszimmer im ganzen Haus. Kilian atmete den Geruch nach altem Papier ein. Auch wenn er nur die Hälfte der Apotheker-Bücher gelesen hatte, gab es hier noch weitere Bücher mit Geschichten über Jelera und die Welt. Sie ermöglichten es ihm, sich von zu Hause auf die Reise zu begeben, ohne seinen Platz zu verlassen.
"Wo bist du?", murmelte er und begann sich umzusehen. Er fand das Kompendium schließlich im Regal. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf dem rauen Ledereinband gebildet, als hätte ihr Vater es länger nicht mehr gebraucht. Das Buch wog schwer in seiner Hand, jedoch nicht so schwer wie sein Gewissen.
Ja, er ärgerte seine Schwester oft. Ja, sie stritten sich manchmal.
Aber ... Der Staub legte sich und gleichzeitig ließ auch die Nachwirkung vom Adrenalin vom Kampf nach. Zum ersten Mal kam Kilian der Gedanke, was wäre, wenn ...
Er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals. Er blinzelte schnell, um aufsteigende Tränen zu unterdrücken, von denen er sich einredete, sie kamen durch den Staub.
Durch das geöffnete Fenster konnte er Enyas unbeschwertes Lachen hören, als ihr Vater wahrscheinlich gerade versuchte, sie mit einem Witz aufzumuntern. Sie waren nicht witzig - das waren sie nie - aber Enya lachte trotzdem jedes Mal.
Weil sie eine Familie waren.
Warum genügte eine Sekunde der Unachtsamkeit, um das alles zu gefährden?
Kilian konnte von Glück reden, dass er das Irrlicht schnell genug verjagt hatte. Trotzdem gab es eine Stimme in ihm, die ihm einredete, dass er Enya hätte beschützen müssen.
Ihre Mutter war damals wegen einer Verletzung durch ein magisches Unwesen und nicht schnell genug kommender medizinischer Hilfe gestorben. Das war kurz nach Enyas Geburt gewesen. Welches Unwesen es war, hatte ihr Vater nie verraten - sie redeten nicht darüber. Kilian wusste nur, dass der Apotheker seitdem alle Bücher über Heilkräuter und -mittel auswendig gelernt hatte, um nie wieder so hilflos zu sein.
Der Respekt und das Vertrauen, welche er von da an durch die Dorfbewohner bekommen hatte, änderten jedoch nichts an der Tatsache, dass er sich verändert hatte.
"Kilian?"
"Ich komme!"
Doch auf dem halben Weg zur Tür blieb er stehen. Auf dem Schreibtisch seines Vaters lag ein Buch, das er noch nie gesehen hatte. Es schimmerte golden und war dicker und größer als alle Bücher, die sein Vater besaß.
Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, aber Kilian fühlte sich, als würde es ihn magnetisch anziehen. Neugierig trat er näher. Seine Augen klebten auf dem magischen Einband. Ein Wort stand dort, hell und leuchtend. Ein Wort, das er nicht sofort entziffern konnte, doch als er es schaffte, löste es ein seltsam faszinierendes Prickeln in ihm aus:
Quintessentia.
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