10. Kapitel - Mehr als nur ein Schlüssel
Der Geist des Feuers füllte mit seiner Präsenz die ganze Ebene. Augenblicklich begann die Luft wieder zu glühen. Kilian spürte es - dasselbe Gefühl der Stärke und der Kraft, nur dieses Mal befand es sich nicht in ihm, sondern vor ihm. Die Hitzewelle brach über ihm zusammen, umschlang ihn und sorgte dafür, dass er sich kaum bewegen konnte.
Und gleichzeitig spürte er, dass etwas anders war. Es war ein anderes Brennen als vorhin, tiefgehender, eher wie eine Kerzenflamme. Größer, aber ruhiger.
Friedlicher.
Erhabener.
Und irgendwie beeindruckt.
Der Geist des Feuers nickte ihm kurz zu. Dann breitete er die Arme aus, damit das schwebende Element in seinen Ärmel fliegen konnte, und verpuffte in einem Funkenregen.
Mit ihm verschwand das Feuer im ganzen Wald restlos.
Zurück blieb nur die kühle Nacht, verwunderte Jugendliche und verwunderte Regenbogenkois, die sich mit lauten Flossenschlägen auf den Rückweg zum Wasserfall machten. Doch nicht nur das.
Enya sah es zuerst. "Dort!"
Unter der übrig gebliebenen Asche regte sich etwas. Ein Keimling streckte seinen Kopf in die Höhe und öffnete seine Blüte im Licht des Mondes. Wie eine Lotusblume reckte er sich und wuchs zu einer kräftigen Pflanze heran. Weitere folgten - jede Blüte in einer anderen Farbe, bunt schillernd wie der Regenbogen. Bald war der ganze Wald von den Blüten erfüllt, die im Wind wiegten und leise Töne von sich gaben.
"Glockenblumen", hauchte Enya.
"Kannst du seine Stärke hören? Es will erschaffen und zerstören", wiederholte Kilian gedankenverloren die Verse aus dem Loblied.
Die Kraft des Feuers hatte fast den ganzen Wald zerstört - doch nun blühten neue Blumen, weil die Asche den Boden düngte und neue Magie hervorbrachte. Der Wald sah aus, als wäre statt des Feuers der Frühling höchstpersönlich hier gewesen.
Das war die Kraft des Erschaffens.
"Wer war das denn?", wollte Darius mit offenem Mund wissen.
"Der Geist des Feuers", sagte Kilian und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare, bevor er die Hand tief in den Taschen vergrub. Dort stieß er gegen seinen Kompass, den er inzwischen vergessen hatte und der ihm normalerweise als Ruhe-Anker diente. Doch nicht einmal dieser schaffte es, ihn zu beruhigen.
Etwas hatte sich verändert, er spürte es.
Fiona zitterte. Sie wandte sich von den Blumen ab. "Ich kenne ihn. Er ... er redet manchmal mit mir. Ahh, mein Kopf!" Sie vergrub ihren Kopf in den Händen.
Feuer und Wasser - die Elemente hatte sie damals vereint und nicht balancieren können. Erde und Luft hatte sie verloren.
Kilian legte seine Hände auf ihre Schultern. "Entspann dich. Alles wird gut", versprach er. "Hör nicht auf ihn. Hör auf mich. Nur auf meine Stimme."
Fiona nickte und entspannte sich tatsächlich. "Okay, es geht wieder. Aber Kilian ... was hast du getan?"
Er hatte das Feuer gerufen. Als er sich umsah, glaubte er langsam, es zu verstehen. Darius und er hatten über bestimmte Eigenschaften geredet und irgendwie hatte das Feuer sich von diesen angezogen gefühlt wie ein Magnet. Es stand für Stärke und als er welche gebraucht hatte, war es mit seiner verlockenden Kraft da gewesen.
"Es ist kein Spiel, wie du gesagt hast", verstand er plötzlich. "Es ist eine Prüfung."
Normalerweise waren die Elemente im Buch. Man befreite sie auf der Elementarebene und musste für einen Moment die Balance halten. Die Elemente testeten, ob man es schaffte und stark genug war, ob man sich ihren Respekt und damit ihre Hilfe verdiente. Dann konnte man ihre Kräfte nutzen und zur Quintessenz verschmelzen.
Sie waren lebendig. Die Elemente waren lebendige Wesen, die nach Gleichgesinnten suchten.
"Es geht nicht darum, sie zu jonglieren oder festzuhalten", erkannte Kilian. Er hatte es gespürt, die Kraft des Feuers war sowieso stärker und konnte nicht festhalten werden. "Es geht darum, selbst die entsprechenden Werte zu verkörpern, damit das Element sich respektiert und angezogen fühlt. Dann muss man es nicht halten, sondern es hilft einem. Wie ... ein Freund."
Er wusste selbst nicht, woher diese Worte kamen. Aber er wusste, dass sie stimmten.
"Ich glaube, das Feuer hat dein Gehirn verkohlt", gab Darius zu bedenken. "Ein Freund? Das Feuer hat fast den halben Wald verbrannt!"
"Ja, weil es sich erschrocken hat. Es ist stark, aber auch impulsiv und ungezügelt. Es hat nicht auf mich gehört, weil ich ... nun ja. Dann waren da aber die Fremden, und plötzlich ..."
"Die drei Fremden?", wiederholte Enya mit großen Augen.
"Daher habe ich ja den Schlüssel." Kilians Gedanken rasten. Er war ganz aufgeregt, als hätte er das größte Mysterium der Welt gelüftet. Kannst du seine Stärke hören? Es will erschaffen und zerstören. "Es war ein Test. Aber nicht, um zu sehen, ob ich stark genug war, diese Kraft anzunehmen - sondern stark genug, ihr zu widerstehen. Das war auch eine Form der Stärke. Zu wissen, wo die eigenen Grenzen sind."
Enya, Darius und Fiona tauschten einen Blick. Kilian wusste, dass sie es nicht verstanden - aber das war nicht schlimm. Es waren seine Prüfungen, er musste die Elemente verstehen, damit sie sich von ihm verstanden fühlten und ihm halfen.
Es ging um Resonanz. Verkörperte er selbst die Werte, die die Elemente mochten, mochten sie auch ihn selbst. Dann halfen sie ihm und gaben ihm Zugriff auf ihre Macht.
Ansonsten flogen sie davon.
"Oh je", sagte Kilian.
"Was?", fragte Enya sofort voller Sorge.
Normalerweise stellte man sich den Prüfungen auf der Elementarebene. Doch Kilian hatte die Elemente vorzeitig befreit und nun kamen sie nach und nach. Ihre Kräfte spielten bereits jetzt mit ihm. Und es war noch ein weiter Weg, den sie vor sich hatten.
"Fiona, du hast gesagt, dass es nicht leicht ist, alle vier Elemente gleichzeitig zu halten, oder?"
Sie nickte. "Deshalb tut man es auch dort, dann ist es nur ein kurzer Moment. Ein Element geht, zwei auch. Aber sobald die Gegensätze auftreten - Feuer und Wasser, Erde und Luft - beginnt ein innerer Kampf. Bei vier habe ich verloren. Du hast jetzt schon das Feuer berührt. Jetzt musst du halten, bis zum Schluss."
"Moment, heißt das ...?"
Kilian sah zu Darius und auch dieser nickte nachdenklich. Kilian wurde bewusst, dass er sich wortwörtlich auf dünnem Eis bewegte. Sollte er nur einen Moment die Stärke verlieren, die das Feuer respektierte, würde er auch es verlieren - so wie Fiona zwei Elemente verloren hatte.
Es war noch ein weiter Weg. Und er hatte noch drei Elemente vor sich, die er unterwegs finden musste, denn auf der Elementarebene wollte er sich nicht allen Prüfungen gleichzeitig stellen müssen. Er musste vorher vorbereitet sein und verstehen, worauf es ankam.
Kilian straffte die Schultern. Was hatte Darius gesagt, als das Feuer zum ersten Mal aufgetaucht war? Sie hatten über Ehrlichkeit und Stärke eines Anführers geredet. Das Loblied bestätigte das: Stärke. Die Kraft des Erschaffens und Zerstörens. Aber auch der Mut, sich seinen Weg zu bahnen, unaufhaltsam, komme was wolle.
"Lass uns endlich unseren Vater befreien", sagte Kilian zu Enya, "Und dann machen wir uns auf den Weg ins Nebelgebirge."
Enya nickte, doch sie wirkte durcheinander. Auch Fiona nickte, aber starrte immer wieder auf die Stelle, wo der Geist des Feuers verschwunden war. Darius musterte Kilian, doch er schien ihm zu vertrauen.
Sie alle würden ihm folgen.
Keiner wich ihm von der Seite, als sie zurück zum Wasserfall marschierten, nur für den Fall, dass die Fremden ihnen noch auf den Fersen waren.
"Lass ihn uns gemeinsam aufbrechen", sagte er zu Enya. Sein Herz pochte schnell, als er ein Siegel auf dem Schlüssel entdeckte und er es Enya zeigte. Gemeinsam legten sie Hand an. "Drei, zwei, eins, ..."
Enyas Finger zitterten. Sie brachen das Siegel und damit den Schlüssel entzwei. Genauso schnell, wie ihr Vater damals verschwunden war, materialisierte sich jetzt wieder eine Gestalt vor ihnen.
Doch es war nicht ihr Vater.
Kilian schnappte nach Luft, Enya ebenfalls. Eine ältere Frau mit krausen Locken drehte sich verwundert um. “Hallo”, sagte sie und sah irritiert den Wasserfall an. “Mein Name ist Nerea Chrastna. Wer seid ihr?”
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