1.3 - "Hast du schon dein Kreuz gesetzt?"
00:06 Uhr
Nummer Fünf: Clementine
Manchmal hatte ich das Gefühl, ich sei nicht für diese Welt gemacht, ich würde hier nicht hingehören.
Denn es schien mein ganzes Leben lang so, als würde ich Emotionen viel stärker fühlen als alle anderen um mich herum. Ich war nicht nur glücklich, ich stand unter Strom. Ich wurde nicht bloß traurig, ich war am Boden zerstört. Ich empfand keine simple Wut, ich explodierte mehrmals hintereinander.
Und wenn die Tage dunkel wurden, die Nächte hell, war jedes Geräusch in meinen Ohren zu laut, jeder Geschmack auf meiner Zunge zu intensiv, jede Farbe vor meinen Augen zu stark und die Welt einfach zu viel für mich.
Doch ich war dank meinem Bruder niemals alleine. Er brachte mir Tag für Tag bei, meinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn es mal schwer wurde zu sehen, wohin dieser genau führen würde.
Heute Abend lag es aber an mir, ihn zu finden.
Jasper war nicht beim Pool und wirklich Niemand wusste wo er hätte sein können, was dezent beunruhigend war. Sonst verschwand er nie ohne jegliche Warnung.
Wenn nichtmal Xavier, sein bester Freund, von seinem Standort bescheid wusste, war alle Hoffnung verloren. Die Beiden waren normalerweise unzertrennlich.
Mitlerweile war Xavier auch, wie vom Erdboden verschluckt worden.
Angeline war sicherlich schon längst zu Hause, da sie morgen ja offiziell auszog. Ich schrieb ihr schnell eine Nachricht und beschloss dann, in's Bad zu gehen, um mich wieder zu sammeln. Es war gruselig die einzig übriggebliebene Gastgeberin zu sein. Außerdem tat mir der Bass von der Musik langsam in den Ohren weh.
Die Toilette unten war besetzt, weswegen ich die Treppen hoch in die erste Etage ging.
Hier war es deutlich ruhiger als unten. Einige Leute unterhielten sich auf den Stufen der Treppen, andere knutschten an der Wand gelehnt rum.
Ohne Weiteres öffnete ich die Tür zu unserem Bad und schloss sie für etwas Privatsphäre ab.
"Entschuldigung, ich-"
Die plötzliche Stimme erschreckte mich so sehr, dass ich aufschrie: "What the fuck?! Oh mein Gott!"
Jemand saß vor mir auf dem Boden, mit dem Rücken an die Badewanne gelehnt. Huh.
Ich kannte ihn, sein Name war Koda und er ging in meinen Jahrgang. Abgesehen von einigen Kursen, hatten wir zwar nicht viel miteinander zu tun aber er war mir schon immer sehr sympathisch gewesen. Koda wirkte stets gelassen, ruhig und zog komplett selbstständig sein eigenes Ding durch, authentisch halt.
"Ich dachte um ehrlich zu sein, das Bad sei frei, tut mir echt Leid!", taumelten die Wörter ungeschickt aus meinem Mund heraus. Wie unangenehm.
"Ist schon okay! Es ist mein Fehler, ich- ich wusste einfach nicht wie man abschließt.", erklärte er mit schwacher Stimme. Mit einer Hand zog er dann seine schwarze Mütze zurecht und mit der anderen fuhr er sich über das erschöpfte Gesicht.
Erst dann fiel mir auf, dass Koda geweint hatte oder eher gesagt immernoch weinte.
Langsam kniete ich mich neben ihm auf den Boden, was mit meinem engen Rock eine Meisterleistung war.
"Ist alles okay bei dir?", fragte ich dann vorsichtig.
Er seufzte tief, bevor seine geröteten braunen Augen die Decke musterten. Leicht nickte er.
Mein Herz zog sich zusammen. Ich wollte wirklich nicht aufdringlich sein. Zur gleichen Zeit wollte ich aber auch nicht, dass er ganz alleine mit seinen Problemen war. Jeder brauchte schließlich jemanden zum reden.
"Warum glaube ich dir nicht?"
"Weil ich ein Lügner bin.", lächelte Koda, doch das Lächeln war traurig.
Es wäre so ein unglaublich hübsches Lächeln gewesen, wenn es echt wäre. Er war an sich eine hübsche Person. Alles an ihm war attraktiv, von seinen weichen Gesichtszügen, bis hin zu seinen verdammten Klamotten.
Die unbeschreiblich tiefe Traurigkeit, welche er jeden Tag mit sich trug, verstummte jedoch jeglichen Funken von Freunde. Es war einfach Schade mit anzusehen.
"Ich weis, Worte sind bloß leere Versprechen aber mich musst du wirklich nicht anlügen.", ich legte eine Hand auf sein ausgestrecktes Bein, "Wir hassen die gleichen Lehrer, du kannst mir blind vertrauen."
Diese Aussage lies ihn auflachen: "Herr Augustin ist ein widerliches Arschloch."
"Oh ja, das ist er.", kicherte meine Wenigkeit und entzog wieder die Hand, um das Piercing an meiner Nase zu richten, "Wir können bloß hoffen, dass keiner von uns ihn dieses Jahr in irgendeinem Fach bekommt."
"Wenn ja, schmeiße ich die Schule und werde Callboy."
Nun war ich an der Reihe zu lachen: "Wer braucht schon Abitur? Prostitution ist auch eine Lösung."
Koda sah mich zum ersten Mal an diesem Abend an und wackelte mit den Augenbrauen: "Achzehn bin ich ja schon."
"Sexarbeit ist immernoch Abreit, also wenn's deine Leidenschaft ist, go for it!", ich zwinkerte, "Das Aussehen dafür hast du."
"Urgh, stop!", stöhnte er sofort, zog seinen schwarzen Rollkragenpullover so hoch, dass seine roten Wangen versteckt waren und nuschelte nun durch den Stoff, "Ich dachte, ich sei der einzige Lügner hier."
"Ach, du bist nie alleine, Koda.", versicherte ich ihm.
Der Junge lies den Kragen wieder runter und starrte mich an.
Bevor ich noch Etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür.
"Hallo? Bist du gleich fertig? Ich müsste dringend mal pissen!! Aber so wirklich dringend und unten wird gekotzt, da will ich nicht pissen!", sprach Jemand laut genug, durch das andere Ende der Tür.
Ich fluchte. Unsere arme Toilette.
"Uhm, ich sollte dich vielleicht pinkeln lassen.", meinte Koda und erhob sich dann vom Boden.
Ich tat es ihm, so gut es mit einem Rock eben ging, gleich und antwortete: "Eigentlich musste ich nicht auf's Klo. "
Nach einem verständnisvollem Nicken, drehte er sich von mir weg zu den Waschbecken, um dort in seine Hosentasche zu greifen.
Ich wollte mich aus irgendeinem Grund nicht von ihm verabschieden. Soll die Person draußen eben an meine Hauswand urinieren oder so.
Also stellte ich die erstbeste Frage, welche mir in den Sinn kam: "Hast du schon dein Kreuz gesetzt?"
Als ich wieder in seine Richtung sah, nahm Koda gerade Etwas rechteckiges, weißes in den Mund und schluckte es trocken runter.
Unsere Blicke fanden sich im Spiegelbild. Für einen Moment stoppte die Zeit.
Das war der Grund warum wir nie mehr miteinander zu tun hatten. Die stärkste Substanz für mich war Alkohol, ich rauchte nichtmal Zigaretten aber er, er war das komplette Gegenteil.
"Du weist, wenn du reden willst-"
Ohne mich ausreden zu lassen, wand er seinen Körper zurück zu mir: "Was meinst du mit Kreuz?"
Er wollte nicht darüber reden. Ich musste das respektieren.
Mit meinem Finger zeigte ich auf das Blatt Papier, welches ich heute Nachmittag bereits auf Instagram geteilt habe und erklärte: "Na, die Stimmungs-Liste! Da sollen die Gäste ein Kreuz drunter malen, wie sie sich heute Abend fühlen. Einfach um zu beweisen, dass sie nicht alleine mit ihren Gefühlen sind."
"Achso, das soziale Experiment.", Koda schien es wieder zu erkennen, "Das habe ich auf Insta gesehen aber tatsächlich noch kein Kreuz gesetzt."
Daraufhin schnappte ich den Kugelschreiber, welcher sich auf dem Rand der Badewanne befand und hielt es dem Jungen hin.
Er bedankte sich bei mir und setzte sein Kreuz als dritte Person unter den traurigen Emoji ganz rechts.
Danach verließen wir das Bad. Die arme, wartende Person war außersich vor Ehrleichterung.
Eigentlich wollte ich mit Koda die Treppen runter gehen, um einwenig Zeit mit ihm zu verbringen, doch mir fiel die leicht geöffnete Tür vom Zimmer meines Bruders in's Auge. Normalerweise schlossen wir vor jeder Party unsere Zimmertüren ab, damit niemand an unsere Sachen kommen konnte, weswegen ich deutlich verwirrt war.
"Ich muss hier noch ganz kurz Etwas nachschauen.", informierte ich ihn, "Vielleicht sieht man sich ja noch. Pass auf dich auf, ja?"
"Keine Versprechen, Clementine.", lächelte er gelassen und verschwand dann in das Erdgeschoss.
Ich seufzte tief, bevor ich langsam auf Jaspers Zimmer zuging.
Es war kein Geräusch, bis auf die Musik von unten, zu hören also öffnete ich die Tür ganz.
Das Zimmer war leer aber das Licht auf seinem Balkon war an, wodurch ich genau sehen konnte, dass mein Bruder dort mit jemandem saß. Ich nahm an, um in Ruhe zu rauchen. War es vielleicht Xavier?
Ich klopfte gegen die Glasscheibe der Balkontür, bevor ich auch diese öffnete.
"Hey Schwesterherz, wie geht's?", begrüßte mich mein älterer Bruder erfreut und ich hatte Recht, er rauchte hier mit Jemandem.
Jedoch rauchte er keine Zigaretten und der Jemand war auch nicht Xavier, sondern Eyas, meine Mathenachhilfe.
Was zum Teufel?
Ich habe die Beiden noch nie zuvor miteinander reden gesehen?
Ich wusste nichtmal, dass Eyas heute dabei war, sonst kam er nie zu unseren Parties!
Meine Arme verschränkten sich vor meiner Brust: "Du gehst nicht an's Handy, jemand kotzt unser Klo unten voll, Xavier ist weg.", und der Typ den ich mag, nimmt lieber Drogen als mich zu küssen.
Jasper stand vom Plastikstuhl auf und legte seine Hände auf meine Schultern: "Mein Handy ist auf stumm gestellt. Es ist eine Party, natürlich übergibt sich wer, wir bekommen das schon sauber. Weist du noch als ich unser Badezimmer mal ordentlich vollgereiert habe? Das haben wir auch wieder weg bekommen! Ach und Xavier wird schon wieder auftauchen! Er ist wahrscheinlich bloß beleidigt, dass ich nicht mit ihm abhänge. Du weist, wie anhänglich er sein kann."
Ich richtete meinen Blick auf Eyas, welcher mich bereits mit seinen hellen, grünen Augen anschaute: "Hey, ich wusste gar nicht, dass du auch gekommen bist."
"Um ehrlich zu sein, wollte ich eigentlich gar nicht rein kommen aber dann hat mich dein Bruder erwischt.", erzählte der Schwarzhaarige und kratze dabei seinen Nacken.
"Du meinst wohl er hat dich entführt!", deutete ich empört und schlug Jasper gegen die Schulter, "Wie unhöflich!"
Mein Bruder zuckte durch den plötzlichen Schlag zusammen und jaulte auf: "Ey, ganz ruhig, wir verstehen uns super!"
"Eyas, wenn er dich belästigt, sag mir bescheid und ich mache ihn fertig.", versicherte ich ihn, dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder an meinen Bruder, "Seid ihr fertig? Unten warten nämlich gewaltig viele Gäste auf ihren Lieblingsgastgeber."
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