N E U N U N D Z W A N Z I G
Mit zittrigen Knien und leicht angeknackstem Herzen erhebe ich mich und sammle routiniert meine Habseligkeiten zusammen. Besonders viel ist es schließlich nicht, weshalb es relativ schnell geht, bis ich wieder mit meiner gepackten Tasche dastehe. Status Quo, würde ich sagen. Irgendwie auch deprimierend und erniedrigend. Aber was soll's.
Für einen kurzen Augenblick erscheint St. Johns gequältes Gesicht vor meinem inneren Auge und ich zucke so heftig zusammen, dass ich beinahe mein Gepäck fallen lasse. Ich kneife die Augen zusammen.
Was für eine Scheiße! Ich habe wirklich angefangen, ihn zu mögen... auch wenn er ein Arschloch sein kann. Aber seien wir ehrlich: Es ist egal, was da gerade passiert ist, das mit uns wäre nie was geworden – weder auf freundschaftlicher Basis, noch sonst wie. Dafür hat Sage gründlichst gesorgt.
Gerade als ich den Türgriff herunterdrücke und leise austrete, lassen mich zwei gedämpfte Stimmen innehalten, die eine hektisch und zischend, die andere gedämpft und beschwichtigend. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und lausche.
»Ich fühle mich nicht gut dabei! Solange wir uns nicht zu hundert Prozent sicher sein können, finde ich es nicht in Ordnung, wenn–«
»Hören Sie, Mr St. John, ich verstehe Ihre Bedenken sehr gut, aber Ms Clues wird nichts weiter geschehen, als dass wir sie mitnehmen und eingehender befragen.«
Sämtliche Luft wird aus meinen Lungen gesogen. Die zweite Stimme gehört definitiv Officer Angela Los Carlos – diese Stimme würde ich mittlerweile unter tausenden wieder erkennen. Und dass der erste Sprecher St. John ist, war für mich auch nicht sonderlich schwer zu erraten.
Sie hecken was gegen mich aus. Die beiden wollen mich ans Messer liefern!
Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Mist, wie komme ich aus diesem Haus, ohne, dass sie mich bemerken?
In Zeitlupe bewege ich mich wieder rückwärts in mein Zimmer. Ich habe es fast geschafft und mache Anstalten, die Tür zu schließen... doch diese klickt eine Spur zu laut. Ich höre, wie das gedämpfte Murmeln mit einem Mal verstummt. Scheiße!
Ohne zu überlegen lasse ich mein Gepäck fallen und sprinte zum Fenster, welches ich hastig aufreiße. Gott sei Dank befindet sich mein Zimmer im Erdgeschoss!
Blitzschnell schwinge ich mich nach draußen und renne einfach in irgendeine Richtung los. Nur weg von hier!
Es dauert nicht lange, bis ich höre, wie das Fenster erneut aufgerissen wird, sodass es gegen die Wand innen knallt und sich jemand an meine Fersen heftet. Ich weiß nicht, wer von beiden es ist, doch ich traue mich nicht, nach hinten zu blicken. Womöglich gerate ich dann noch ins Straucheln und das kann ich mir bei Gott nicht leisten.
Meine Schritte sind schwerfälliger als sie sein sollten, was an diesem verdammten Sand unter meinen Füßen liegt. Doch schon bald tut sich vor mir ein Nadelwald auf und der Sandboden geht in erdigeren Grund über. Ich werde schneller. Leider gilt das kurz später auch für meinen Verfolger... oder meine Verfolgerin. Wer weiß, vielleicht sind sie mittlerweile sogar zu zweit? Doch als ich konzentriert lausche, höre ich nur ein paar Füße auf dem Boden aufschlagen.
Das Unterholz hält sich hier glücklicherweise in Grenzen, sodass ich nicht ins Stolpern komme. Schemenhaft ziehen die Bäume und das dunkle Grün der Nadeln an mir vorbei. Mein Atem geht mittlerweile ruhig und kräftig. Ich habe an Selbstsicherheit gewonnen, da ich gemerkt habe, dass ich dieses Tempo problemlos halten kann. Adrenalin peitscht durch meine Adern und ich fühle mich absurderweise unbesiegbar. Ein gepresstes Lachen entschlüpft mir. Wenn ich mehr Luft hätte, würde ich in ausgewachsenes Gelächter ausbrechen, doch ich muss sie mir gut einteilen.
Mit der Zeit merke ich, wie die Schritte hinter mir immer leiser und leiser werden. Das bedeutet, dass die Person, die mich verfolgt, nicht länger mit mir mithalten kann. Ein triumphierendes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Nicht übermütig werden, Harriet. Es ist noch nicht vorbei.
Schließlich verstummen die Schritte ganz und ich meine, ein frustriertes Zischen zu hören. Etwas tief in mir löst sich und ein Schrei verlässt meine Lungen, guttural und tief. Es erinnert mich an ein Donnergrollen.
Ich atme tief durch den Mund ein und schmecke nichts als den süßen Sieg über meine schlangenzüngigen, hinterhältigen Verfolger. Los Carlos mit ihrer heuchlerisch jovialen Art, der Besorgnis in ihrer Stimme... von ihr habe ich von Anfang an nichts anderes erwartet.
Doch St. John habe ich nicht so eingeschätzt. Sein Verrat tut tatsächlich weh. Er berührt mich. Tief. Er schmerzt.
Meine Schritte werden langsamer und ich komme zum stehen. Wenige Meter entfernt nehme ich das Ende des Waldes wahr und einen Felsvorsprung aus hellem Stein, der zum Meer rausgeht, wie eine Zunge, die sich sehnsüchtig nach dem Salzwasser ausstreckt. Sie schimmert im sanften Orange der untergehenden Sonne.
Schleppend setze ich mich wieder in Bewegung und steuere die Felszunge an. Hier scheint mir der perfekte Ort zu sein, um meinen Triumph angemessen zu feiern.
Jetzt, wo ich ruhiger bin, merke ich, dass ich doch nicht so unbesiegbar bin – mein Körper ist es jedenfalls nicht. Meine Knie knicken unter mir weg und ich komme unsanft auf dem rauen Boden auf. Ich stütze mich mit den Händen ab und kämpfe mich in eine sitzende Position hoch. So verharre ich eine Weile und sehe der Sonne beim Untergehen zu.
»Oh, Harriet...«
Ich zucke heftig zusammen und fahre herum. Natürlich steht er da. Natürlich.
»Hau ab!«, schnauze ich genervt. Wenn Los Carlos vor mir stehen würde, wäre ich vermutlich um einiges unruhiger. Aber das hier ist St. John. Miles. Der Typ, der mich kostenlos bei sich hat wohnen lassen, obwohl ich seiner kranken Ex bis aufs Haar gleiche. Er würde nie...
Der Stoff seiner Jeans raschelt in der Stille des Abends, als er langsam auf mich zukommt, so vorsichtig, als hätte er Angst, mich wie ein scheues Reh zu verjagen. Seine Angst ist auf jeden Fall nicht unbegründet – eine falsche Bewegung, ein krummes Wort und ich haue schneller ab, als er ›Salten Flags‹ sagen kann.
Ich versteife mich, als er sich neben mir niederlässt. Ich muss ihm zugute lassen, dass er einen Meter Abstand hält. Er weiß vermutlich, dass ich andernfalls sofort aufgesprungen und davon gerannt wäre. Die Fragilität dieser Situation schwebt zwischen uns.
»Was willst du?«, bringe ich schließlich hervor und schaffe es dabei, nicht beleidigt zu klingen. Wie kann er mich nur in der einen Sekunde so küssen und in der anderen der Polizei ausliefern?
»Ich... will das Richtige tun«, sagt er leise. Ich verdrehe die Augen. Was für eine pathetische Scheiße. »Und du denkst, das Richtige ist, mich dieser blutgeilen Polizistin zum Fraß vorzuwerfen? Herzlichen Glückwunsch«, entgegne ich trocken.
Er fährt sich frustriert durch die sandfarbenen, wirren Haare, sodass sie noch unordentlicher wirken. »Du verstehst das nicht! Es ist nicht so einfach, wie du –«
»Dann erklär's mir doch!«, rufe ich ungeduldig.
»Ich... es ist...«, stammelt er. Ich knurre verächtlich.
»Ich, du, es ist, bla bla, rück endlich raus mit der Sprache!«
»Du bist Sage!«
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