E I N U N D D R E I ß I G
Ich öffne die Augen und sehe flimmerndes Dunkelblau. Es kitzelt an meinen Beinen. Ich blicke nach unten und sehe, wie dicke Seepflanzen meine Waden umspielen. Mit einem seeligen Lächeln schaue ich wieder nach oben... und erstarre. Ich war hier schon mal.
Anabelle.
Ich blicke direkt in ihr Gesicht. Das Lächeln verlässt langsam meine Miene, denn sie lächelt nicht, nein. Sie sieht sehr wütend aus. Doch es ist nicht die Art von Wut, die man verspürt, wenn man enttäuscht wurde. Anabelle sieht aus, als würde sie mich bis auf den letzten Fingerknöchel in meinem Körper hassen. Der Blick in ihren Augen verursacht Todesangst in mir.
Ich blinzele, als ein Gedanke erneut meinen Geist kreuzt. Ich war hier schon mal. Ich habe diesen Traum schon mal geträumt.
Sie schwebt direkt vor mir im Wasser, unsere Nasen berühren sich fast. Als ihre Lippen sich öffnen, kommt kein Ton heraus, sondern Luftblasen, eine Menge Luftblasen, die im von oben in das Gewässer fallende Licht glitzern. Dabei bleibt ihr Blick unbeirrt an mir haften. Ein Traum. Es ist nur ein Traum.
Irgendwann kommen auch aus ihrer Nase Blasen. Dann aus ihren Ohren. Schließlich auch aus den Augen, die jetzt nur noch aus schwarzen Höhlen bestehen.
»Du weißt, wer mich getötet hat. Du weißt es ganz genau.«
Ich blinzele nur kurz, doch als ich die Augen wieder aufschlage, ist sie mit einem Mal verschwunden. Ängstlich rudere ich mit dem Armen und schaue um mich herum. Sie ist weg.
Das sanfte Streicheln der Seepflanzen unter mir wird energischer, bis es sich schließlich zu einem Peitschen entwickelt. Erschrocken sehe ich nach unten... und schreie laut auf, als ich Anabelles Rumpf zwischen dem dunklen Knäuel aus sich windendem Grün entdecke. Ihr Gesicht, welches ich stets als so durchschnittlich empfunden habe, ist nunmehr eine schreckliche Fratze mit grotesk verzerrten Zügen. Ihre dunkelroten, rissigen Lippen teilen sich und entblößen ein Gebiss voller Nadelspitzer, fauliger Zähne. Ein Fauchen dringt zu mir nach oben, welches sich schnell in ein ohrenbetäubendes Kreischen verwandelt. Nur ein Traum, nur ein Traum, nur ein Traum, nur ein...
Mit wild pumpendem Herzen versuche ich, an die Oberfläche zu schwimmen, doch ihre von grauer, glitschiger Haut umspannten knochigen Hände mit den schwarzen Krallen umschließen meine Knöchel wie Schraubstöcke.
»Du weißt, wer mich getötet hat!«, schreit sie jetzt wieder, wobei sich eine Zunge zwischen den spitzen Zähnen hervorwindet, wie eine Schlange. »Nein!«, schreie ich, doch der Klang geht in dem Wasser um mich herum unter, welches sich jetzt einen Weg in meine Lungen bahnt. Ich will tief Luft holen und schreien, doch es geht nicht. Plötzlich realisiere ich, dass ich dabei bin, zu ersticken. Ich werde sterben. Ich werde sterben, sterben, sterben...
Doch diesmal ist es anders. Hier hört der Traum nicht auf.
Die Gestalt, welche ich einst als Anabelle kannte, umschließt meinen Kiefer mit den Fingern, mit welchen sie noch kurz zuvor meine Beine gepackt hatte. Ihre spitzen Fingernägel bohren sich abermals in mein Fleisch. Ich bin so starr vor Schreck, dass ich sogar vergesse, erneut Luft zu holen. Die dunklen Höhlen, in welchen sich früher ihre Augen befunden haben, glühen jetzt, als wäre ein Feuer in ihnen entzündet worden. Ein Feuer, das so stark ist, dass es vermag, unter Wasser zu brennen.
»Nicht nur mich hast du auf dem Gewissen, du bösartige Schnepfe. Auch die Supermarkt-Besitzerin... alles dein Verdienst. Nur deiner.«
Ich schüttle heftig den Kopf, zumindest versuche ich es. Bei diesem Versuch bohren sich Anabelles Fingernägel noch tiefer in meine Haut und ich winsele vor Schmerz. Jetzt bekommt ihr Gesichtsausdruck fast etwas zärtliches, sofern man dies anhand ihrer entstellten Fratze festmachen kann.
»Pscht, versuch es gar nicht erst. Streite es nicht ab«, säuselt sie und streicht mir mit ihrer anderen Hand über den Kopf. Ich zittere. Erneut mache ich Anstalten, mit dem Kopf zu schütteln, doch ihr Griff um meinen Kiefer wird fester und der Tonfall ungeduldiger: »Gib es doch einfach zu, Sage.« Ich runzle die Stirn.
...
Ich erwache in einem kalt beleuchteten Raum mit grauen Wänden. Ich liege unbequem und als ich mich vorsichtig erheben will, pocht mein Hinterkopf. Schmerzerfüllt jaule ich auf.
Dieser verdammte Traum schon wieder.
Ich blicke an mir herunter und sehe, dass meine Klamotten an einigen Stellen aufgerissen und fleckig sind. Teils entdecke ich Schürfwunden auf meiner Haut und sehe, dass mich hier und da ein Zweig gekratzt hat.
Als ich es schließlich geschafft habe, mich aufrecht hinzusetzen, dreht sich der karge Raum um mich herum. Zusätzlich wird mir schlecht. Ich blinzele einige Male, um klarer sehen zu können. Als es irgendwann soweit ist, realisiere ich, wo ich bin.
In einer Zelle. Diese miese Schlampe hat mich in eine Zelle gesteckt.
Mir ist klar, dass ich nicht die sympathischste Person auf diesem Planente bin und ganz dicht werde ich wohl auch nicht im Kopf sein, doch eines weiß ich: Ich habe niemals irgendwas getan, das es rechtfertig, verfolgt, niedergeschlagen und eingesperrt zu werden!
»Hallo!«, rufe ich so laut ich kann. Ich stehe auf und umklammere die eisernen Gitterstäbe, die auf einen kargen Flur rausgehen. »HALLO!«, brülle ich aus Leibeskräften. Ich rüttle an den eisernen Stäben, doch sie bewegen sich kein Stück.
Das hier scheint ein kleines Präsidium zu sein, denn die Zelle in der ich bin, ist die einzige in Sichtweite. Aber vielleicht weiß ich auch einfach nur nicht, wie das funktioniert mit Zellen und Polizei. Wie sollte ich auch?! Das kriminellste, das ich je gemacht habe, war vermutlich diese blöde Tussi am Strand zu bedrohen, die mich für Sage hielt... Gott, das scheint Ewigkeiten her zu sein. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, hätte ich dafür vielleicht sogar in einer Zelle landen können...
Energisch schüttle ich den Kopf. Was zur Hölle ist los mit mir? Ich habe jetzt wirklich andere Sorgen als diese Schnepfe. Müde gebe ich die Stäbe frei und lasse mich zurück auf meine Pritsche sinken.
Ich schließe die Augen und lasse die letzten Ereignisse Revue passieren.
Wie um alles in der Welt kommen Los Carlos und vor allem St. John darauf, dass ich Sage sein könnte? Nur, weil ich ihr aufs Haar gleiche? Ich schnaube. Und selbst wenn es so wäre: Warum ist das gleich ein Grund, mich zu verhaften?
»Harriet.«
Ich schrecke hoch. Los Carlos steht auf der anderen Seite der Gitterstäbe, einen Schlüsselbund in der einen Hand. Die andere liegt wie eine unausgesprochene Warnung auf der Waffe an ihrer Hüfte.
»Ich werde diese Tür jetzt aufsperren und sie werden mich in den Vernehmungsraum begleiten. Wir können das hier auf die normale oder die harte Tour machen. Verstanden?« Ich nicke mit zusammengebissenen Zähnen.
Als sie die Zelle nachher hinter mir wieder absperrt, warnt sie: »Ich mein's ernst, ja? Keine Dummheiten.« Ich verdrehe die Augen. »Ist ja gut, ich werde Ihnen schon nicht davonlaufen. Nochmal habe ich sicher nicht Lust ausgeknockt zu werden.« Sie nickt mit grimmiger Zufriedenheit.
Wir gelangen in einen dickwandigen, grauen Kasten von einem Verhörungsraum mit dem obligatorischen Stahltisch, den Stahlstühlen und diesem verspiegelten Fenster. Los Carlos bedeutet mir, mich auf einem der Stühle niederzulassen. Sie selbst setzt sich nach mir.
Mit nachdenklich niedergeschlagenen Augen und angestrengt verzogenem Mund faltet sie die Hände vor sich auf dem Tisch. Dann hebt sie den Blick und sieht mich fest an.
»Harriet, ich mache es kurz: Sie leiden unter einer dissoziativen Identitätsstörung.«
Irritiert blinzele ich. »Warte... wie bitte? Was ist das überhaupt?«
»Im Prinzip bedeutet das, dass Sie in sich verschiedene Persönlichkeiten tragen, die abwechselnd die Kontrolle übernehmen. In ihrem Fall sind das zwei: Harriet, ihre ›normale‹ Identität und Sage, der etwas... sagen wir ›düsterere‹ Teil in Ihnen. Wobei das eine maßlose Untertreibung ist.«
Ich kann förmlich spüren, wie mir das Blut aus den Wangen läuft. Meine Lippen beginnen zu kribbeln und Schweiß sammelt sich unter meinen Achseln.
»I-ich... das ist nicht witzig... das ist nicht witzig!«, entfährt es mir.
»Witzig ist das gewiss nicht, da haben sie recht.«
Mit zitternden Knien erhebe ich mich, den Zeigefinger anklagend auf Los Carlos gerichtet. »Sie, Sie... Sie verarschen mich doch!« Fahrig blicke ich mich nach Überwachungskameras um und entdecke natürlich sofort eine in der oberen Ecke des Raumes. »Da! Das ist alles nur ein Scherz! Sie wollen, dass ich denke, dass... ich werde aufgenommen, richtig? Ich werde aufgenommen! Das hier ist ein Scherz. Das ist alles nur ein Streich! Ha!«
Ein blubberndes Lachen bricht aus mir heraus und ich haue mit einer Hand auf den Tisch. Sofort richtet die Polizistin sich auf. »Ich muss Sie bitten, das zu unterlassen.« Meine andere Hand gesellt sich dazu und ich knalle erneut auf den Tisch, diesmal lauter. Schnell wie ein Blitz ist sie auf den Beinen und baut sich drohend vor mir auf. »Hinsetzen!«, ordnet sie an.
Ich lache erneut. »Aber warum, wir haben doch alle so viel Spaß!«
Eine weitere Warnung erhalte ich nicht. Schneller als ich schauen kann, sitze ich mit hinter der Lehne fixierten Händen auf dem Stuhl.
»Sind Sie jetzt dazu imstande, mich bis zum ende anzuhören, Miss Clues?«
Grimmig nicke ich. Sie erwidert das Nicken und fährt fort: »Sie sind nicht nur Harriet, sondern auch Sage. Sie existiert nur in Ihnen. Alles, was Sage getan hat, haben Sie getan. Und umgekehrt.«
»Aber–«
Ein warnender Blick von Los Carlos lässt mich verstummen. Resigniert schließe ich den Mund und sie erzählt weiter.
»Wissen Sie, eigentlich bin ich lediglich nach Salten Flags gekommen, um mehr aus dieser verschlossenen, traumatisierten Frau herauszubekommen, deren Freundin im See ertrunken ist. Ich hatte schon das dunkle Gefühl, dass Sie den Behörden einerseits nicht alles erzählt hatten, was Sie wussten und andererseits, dass da insgesamt noch... mehr versteckt liegt. Ich dachte, nach getaner Arbeit würde ich wieder nach Pynings zurückkehren, die paar Löcher in den Ermittlungen stopfen können und Anabelles Tod als Unfall deklarieren können. Doch es sollte anders kommen.«
»Ich bin davon überzeugt, dass es ein Unfall war!«
»Tja, war es aber nicht. Denn in Wahrheit hat Sage sie umgebracht. Ebenso wie Berta, die Chefin des örtlichen Supermarkts.«
Ein fester Knoten bildet sich in meinem Bauch. Auf einmal ist mir gar nicht mehr nach Lachen zumute. Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich fühle... Ich fühle mich seltsam stumpf.
»Sie wollen mir also weismachen, dass ich Anabelle und Berta umgebracht habe, ohne mich daran zu erinnern? Sie spinnen doch!«
»Ich wünschte, das alles wäre nicht wahr, aber leider...« Sie seufzt schwer. »... ist es so.«
»Haben Sie denn Beweise? Anders glaube ich Ihnen diese scheiß Story nicht eine Sekunde lang, das dürfte Ihnen klar sein, oder?«
Plötzlich wird die Polizistin still Verdächtig still. Triumphierend grinse ich. »Ha! Dass ich nicht lache! Sie haben also rein gar nichts? Schwach, Angela, wirklich schwach!«
Unbeeindruckt lehnt sie sich in ihrem Stuhl zurück. »Das macht nichts, Harriet. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
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