E I N S
Ich öffne meine Augen.
Die weiße Decke spannt sich über meinen Kopf wie ein stuckbesetztes Leichentuch. Gleich stürzt sie herab, nimmt mir die Luft zum Atmen. Mir fällt die Decke auf den Kopf, haha. Nicht witzig, Harriet.
Mit aggressiv pochender Stirn richte ich mich auf und schlage die Bettdecke zurück. Kälte umspielt meine Waden, kriecht meine Beine hoch, bis sie sich um meine Hüfte wickelt, wie die Arme eines zu drängenden Liebhabers.
Lass mich los.
Ich schüttle den Kopf und stehe auf – zu schnell, mein Blutdruck sackt in den Keller und ich seufze gepeinigt auf.
Die Polizei ist da.
Sie ist ständig da, immer. Die ganze Zeit seit dem Vorfall. Sie suchen und suchen und suchen und finden und finden und finden nichts. Ich will schreien. Stelle mir vor, wie die leichenweiße Decke über mir Risse bekommt von den Schallwellen meiner Stimme. Wie der Putz herunter rieselt, als wäre es trockener Schnee oder abgelaufenes Kokain.
Barfuß tapse ich ins Bad, die Stimmen im Erdgeschoss ignorierend.
Meine Eltern. Mein Vater immer noch aufgelöst, meine Mutter nach wie vor still und geschockt. Die Polizistin mit ruhiger Stimme sprechend, fragend, drängend. Ich, die sie eigentlich will. Ich, die sich im Bad einschließt und so lange Zähne putzt, bis das Zahnfleisch blutig wird.
»Es ist wirklich wichtig, Mr und Mrs Clues, dass ich Ihre Tochter sprechen kann. Mir ist bewusst, in was für einer... sensiblen Situation wir uns befinden. Wenn es nicht so wichtig wäre, würde ich Sie, und vor allem Harriet, nicht weiter behelligen.«
Ein Räuspern, das meiner Mutter. »Sie haben in den letzten Tagen doch bereits zur Genüge mit ihr gesprochen. Sie hat Ihnen alles erzählt, was sie von jener Nacht weiß. Sie hat ein Alibi! Zum Todeszeitpunkt war sie nachweislich bei uns zu Hause! Auf ihrem Weg hierher hat Harold, der Tankstellenbesitzer im Ort, sie sogar eindeutig sehen können und das bereits ausgesagt. Was, um alles in der Welt, wollen Sie denn noch?!«
Angespannte Stille, einzig durchbrochen von dem beruhigenden Murmeln meines Vaters und dem darauffolgenden resignierten Atemzug meiner Mutter.
»Mrs Clues... Es geht nicht darum, Ihre Tochter des Mordes an Anabelle zu bezichtigen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir uns sogar relativ sicher, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte. Trotzdem müssen wir allen Hinweisen nachgehen. Wir versuchen lediglich, Licht ins Dunkel zu bringen und so viele Informationen zu sammeln wie nur irgend möglich. Harriet besitzt möglicherweise Erinnerungen an diese Nacht, die nur durch gezieltes Nachfragen an die Oberfläche geholt werden können.«
Meine Erinnerungen an die Oberfläche holen? Anabelle hat es nicht mehr an die Oberfläche geschafft und jetzt ist sie tot. Ertrunken. Wasser in ihren Lungen, welches sie klirrend kalt ausgefüllt und bis zum Grund des Sees herabgezogen hat.
Meine Erinnerungen an die Oberfläche holen?
Vielleicht sollten diese Erinnerungen sich auch mit Seewasser füllen und sterben. Das wäre das Beste. Vergessen vom Feinsten, wenn man so will.
Mein Vater schaltet sich ein. »Sie quälen sie doch nur. Gestern erst war die Beerdigung. Die Wunde ist noch frisch. Kann das nicht warten, bis unsere Tochter etwas Zeit hatte, um zu sich zu kommen?«
Das entschuldigende Kopfschütteln der Polizistin kann ich fast schon vor mir sehen. Schließlich sagt sie: »Ich bedauere, leider nein. Solange sie noch bei Ihnen ist, muss ich die Chance nutzen. Schon bald fährt sie zurück an den Campus, habe ich das gestern richtig verstanden?«
»Ja, übermorgen.«
»Ich bitte Sie... « Den Rest höre ich nicht mehr, da ich energisch die Badezimmertür schließe. Der Zahnpastaschaum brennt auf meiner Zunge und nimmt zu viel Platz in meiner Mundhöhle ein. Ich unterdrücke ein Würgen und spucke aus. Rosarote Wolken kleben am Waschbecken. Ich drehe den Wasserhahn bis zum Anschlag auf, dass es spritzt, und spüle meinen Mund aus.
Übermorgen werde ich abreisen, das stimmt. Von mir wird erwartet, dass ich zurück in mein Wohnheim am Campus fahre. Es wird erwartet, dass ich trauere, aber nicht zu viel. Dass ich durcheinander bin, aber nicht zu viel. Und dass ich dann irgendwann (am besten zeitnah) wieder mein Leben lebe, als wäre nichts passiert. Schließlich bringt es nichts, stehen zu bleiben, wenn Anabelle davon ohnehin tot bleibt, nicht wahr?
Also, ja: Schon bald werde ich abreisen. Doch dass ich nicht an den Campus zurückkehren werde, weiß niemand. Und ich habe auch nicht vor, es jemandem zu sagen.
...
An der Tür stehe ich stark und schwach zugleich da. Damit meine Eltern das Zittern in mir nicht sehen können, halte ich meinen Körper still. Wie ein Fels in der Brandung.
Irgendwann ist die Frau von der Polizei schließlich resigniert gegangen – nicht ohne das Versprechen, mich bald telefonisch zu kontaktieren. Sie kann es ja versuchen.
»Harriet... Solltest du irgendwas brauchen, kannst du immer zu uns kommen. Das ist dir klar, oder?«, sagt mein Vater leise. Ich nicke mechanisch, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
»Du wirst uns fehlen, Liebling«, sagt Mom. Ich glaube ihr. Aber ich sehe auch, dass sie bereits unruhig darauf wartet, dass ich das Haus verlasse. Ihre schmalen blassen Finger spielen nervös mit einem losen Faden am Saum ihres Oberteils. Meine dunkle, alles verschlingende Stimmung ist zu viel für sie. Ich kann das verstehen.
Nach einer mehr oder weniger herzlichen Umarmung löse ich mich von ihnen und gehe. Nachdem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist, seufze ich erleichtert auf – ich bin mir sicher, sie tun im Haus das Gleiche.
Mein klappriger Kleinwagen mit dem stellenweise abgeblätterten dunkelblauen Lack steht vor mir. Kurz stelle ich mir vor, dass alles nur ein Irrtum ist. Dass Anabelle in Wahrheit gar nicht tot ist, sondern immer noch auf dem Grund des Sees schwimmt, flink wie eine Meerjungfrau, und einfach komplett die Zeit vergessen hat. Bitte? Ihr habt mich gesucht?
Ich stelle mir vor, wie ich mein Auto zum See lenke, ins Wasser fahre, bis das kühle Dunkelblau mit dem Dunkelblau des Lacks verschmilzt und die Fenster umschließt. Wie der See mich in dieser Benzin-betriebenen Blechbüchse verschluckt wie ein Teufelsbarsch. Wie ich durch den See fahre und plötzlich Anabelle mit der flachen Hand gegen die Scheibe schlägt, ein breites Grinsen im Gesicht...
Ich schüttle den Kopf, werfe meine Reisetasche auf die Rückbank und fahre anschließend los. Den See vermeide ich.
...
Pynings ist der Ort, in dem ich geboren wurde. Es ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, zur Schule ging, meinen Abschluss gemacht habe, Freunde gefunden und auch verloren habe.
Es ist der Ort, an dem Anabelle gestorben ist.
Doch es wird, bei Gott, nicht der Ort sein, an dem ich sterbe. Das schwöre ich mir, während ich das Auto auf den Highway in Richtung Ostküste lenke.
So felsenfest mein Entschluss Pynings zu verlassen auch steht, so wenig habe ich darüber nachgedacht, wohin genau ich eigentlich will. Nur eines weiß ich: Es soll ans Meer gehen. Ein sich bewegendes Gewässer. Kein stehendes, auf gar keinen Fall ein stehendes. Und da die Ostküste näher als die Westküste ist, wird es darauf hinauslaufen. Vermutlich lande ich irgendwo im Staat New York. Was ich tue, wenn ich dort ankomme, weiß ich nicht. So weit denke ich noch nicht, ich will einfach nur weg.
Die Autofahrt verläuft ruhig und eintönig, einzig und allein durch kurze Pausen zum Tanken unterbrochen. In der Nähe der Grenze zu New York tanke ich wieder. Während ich darauf warte, dass der bullige Mann hinter dem Tresen mir mein Wechselgeld herausgibt, studiere ich die Tabak- und Zigarettenauslage hinter ihm. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, das Rauchen anzufangen, entscheide mich jedoch nach einigen Sekunden dagegen.
Ich bedanke mich bei dem Mann, raffe die überteuerten Snacks zusammen, welche ich mir noch gekauft habe, und verschwinde dann zügig.
Achtlos werfe ich die Chips und sauren Gummischlangen auf die Rückbank, dann fahre ich weiter, den Geruch nach Tankstelle noch immer in der Nase.
Ich würde gern behaupten, dass dieses Gewicht auf meiner Brust mit jeder Meile die ich zurücklege, leichter wird – doch leider ist das nicht der Fall. Ich bin vermutlich das beste Beispiel dafür, dass man vor seinen Problemen nicht davonlaufen kann. Trotzdem versuche ich es weiterhin hartnäckig.
Ich habe es keine Sekunde länger in Pynings ausgehalten. In diesem Ort haben wir Sechs Erinnerungen geschaffen, die Schule hinter uns gebracht, gelebt. Überall wo ich hinschaue, begegnen mir diese Erinnerungen, auf ewig dort eingebrannt, unauslöschlich. Wo ich hinblicke sehe ich Troy, Mallory, Vera, Kaden, und immer wieder Anabelle, Anabelle, Anabelle.
Ein scharfes Hupen reißt mich aus meinen Gedanken und ich schrecke hoch. Ohne es zu bemerken, bin ich langsamer geworden. Ich beschleunige und gestikuliere entschuldigend nach hinten.
Eine ganze Weile später – jegliches Zeitgefühl ist mir abhanden gekommen – ziehe ich es in Erwägung, zu rasten. Langsam kriecht mir die Müdigkeit in die Glieder und mein Magen grummelt. Seit einer Weile befinde ich mich bereits im Staat und dunkelgrüne Tannen zieren den Highway, auf dem erstaunlich wenig los ist.
Ich lenke meinen dunkelblauen Wagen auf einen verlassenen Rastplatz mit zwei heruntergekommenen Bänken samt Tisch, sowie einer einzelnen, ebenso heruntergekommenen Bank.
Die Sonne geht langsam unter und taucht den Platz in ein goldenes Licht. Mit einem labberigen Sandwich in der einen Hand und einer Chipstüte in der anderen setze ich mich auf die Bank.
Während ich esse, lese ich die unzähligen Wörter und Sätze, die in das trockene Holz geritzt wurden. Von kitschigen Pärchengleichungen, die ewige Liebe als Ergebnis haben, bis zu obszönen Zeichnungen ist alles dabei. Die frischeste soll vermutlich eine Vagina darstellen, an deren Realitätsnähe ich stark zweifeln möchte.
It's Anabelle and not Ana, my love.
Ich erstarre.
Meine Finger fahren über die Worte, über ihre Worte... Das ist unmöglich. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Anabelle hier war? Hier, mitten im Nirgendwo?
»Ich heiße Anabelle und nicht Ana, meine Liebe.« Wie oft habe ich sie diese Worte sagen hören? Durch ihre leicht kindliche Art hat sie die Leute stets dazu verleitet, sie Ana nennen und ihr dadurch einen verniedlichenden Spitznamen geben zu wollen. Es ist wirklich erstaunlich oft passiert. Doch nie wollte sie so genannt werden. Mit ruhiger und geduldiger Stimme hat sie dann stets erklärt, dass sie nicht so genannt werden wollte.
Plötzlich schmeckt das Brot in meinem Mund wie Pappe und die Remoulade schleimig. Angewidert spucke ich den Bissen in ein Papiertuch und schmeiße es weg, zusammen mit dem restlichen Sandwich. Die Chips öffne ich gar nicht erst.
Ungläubig den Kopf schüttelnd starre ich in die Ferne, immer noch vor dem Mülleimer ausharrend. Es ist so verdammt unwahrscheinlich, dass sie mal da gesessen ist, wo ich gerade ebenfalls saß. Und doch kann ich es nicht leugnen: Das ist ihre Handschrift.
Als ich aber zu der Bank zurückkehre, ist die Schrift nicht mehr da.
...
Herzlichen Willkommen bei ›Queen of Lungs‹! Freut mich sehr, dass du da bist. 😌
Ich hoffe, die Story konnte bisher dein Interesse wecken und wünsche dir noch ganz viel Freude beim Weiterlesen! ✨
Grüße,
Cady
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