D R E I
Als hätte ich einen lahmen Witz gemacht, rollt er mit den Augen. »Kotz das nächste Mal einfach woanders hin und nicht an meinen Laden.«
»I-Ich... Kennen wir uns?«, stammele ich, noch immer erschöpft vom Übergeben. Kurz sieht er aus, als würde er ernsthaft in Erwägung ziehen, mir zu antworten. Dann schüttelt er mit verschränkten Armen den Kopf und wendet sich zum Gehen. Über die Schulter ruft er noch trocken: »Das ist nicht witzig, Sage.« Dann ist er um die Ecke verschwunden. Wer zur Hölle ist Sage?
Wenn ich wollte, könnte ich den Laden umrunden und ihm nachblicken, wie er die Promenade entlang schlendert. Doch ich will mich nicht weiter mit diesem merkwürdigen Typen befassen.
Mürrisch blicke ich aufs offene Meer hinaus. Heute sind kaum Menschen dort, vermutlich ist es den meisten einfach zu frisch. Mit einem Mal ist mir komplett die Lust darauf vergangen, an den Strand zu gehen. Ich setze mich wieder ins Auto und fahre weiter.
...
Etwa eineinhalb Stunden später habe ich mir ein relativ akkurates Bild von Salten Flags machen können.
Ich parke mein Auto in der Nähe einer Klippe und steige aus, um meine steifen Muskeln zu dehnen. Mein Magen fühlt sich noch immer etwas wund und empfindlich an, weshalb ich mich damit begnüge, trockene Salzkekse und etwas Wasser zu mir zu nehmen. An die Motorhaube gelehnt stehend esse ich, den Blick auf den Horizont gerichtet. Ich kann ein kleines Segelboot in der Ferne ausmachen.
Als ich fertig bin, werfe ich die halb volle Wasserflasche und die Plastikverpackung der Kekse achtlos auf den Rücksitz. Anschließend schreite ich auf den Rand der Klippe zu, langsam und vorsichtig. Irgendwann bin ich so dicht am Abgrund, dass ich mich nicht mehr sicher dabei fühle, zu stehen, weshalb ich mich auf den Bauch niederlasse und vorwärts robbe. Dabei wirbele ich hellen Staub auf.
Als ich über den Rand blicken kann, fühlt es sich an, als würde jeglicher Atem aus meiner Lunge gesogen und ich schnappe nach Luft. Es sind Momente wie diese, die mich einen Heidenrespekt vor der Natur lehren. Die Klippe unter mir fällt senkrecht nach unten und gibt den Blick frei auf zackige Felsen, die von rauen Wellen umpeitscht werden.
Merkwürdigerweise verspüre ich nicht länger Unwohlsein bei dem Gedanken, mich am Rand einer steil abfallenden Felskante zu befinden. Wenn man dort herunterfällt... Ein falscher Schritt genügt, und der Kopf zerplatzt wie eine überreife Wassermelone.
Mein Magen hebt sich erneut, was sich durch meine liegende Position nicht gerade angenehm anfühlt. Ächzend robbe ich rückwärts und richte mich wieder auf.
Etwas unschlüssig stehe ich nun bei meinem Auto. Jetzt war ich überall in und um Salten Flags. Was nun? Ich setze mich hinters Steuer, ohne jedoch den Motor zu starten.
Durch die vielen Ferienjobs die ich in den letzten Jahren sowohl zu meiner Schulzeit, als auch während meines Studiums gemacht habe, bin ich einigermaßen flüssig. Ich könnte mich in dem netten Bed and Breakfast an der Küste einquartieren. Für eine Weile dürfte das Geld sicher reichen und in der Zwischenzeit könnte ich mir einen Job suchen.
Noch sieben Wochen, dann haben meine Semesterferien ein Ende und ich muss zurück an den Campus – diesmal wirklich. Allein bei dem Gedanken daran sträubt sich alles in mir dagegen, einfach wieder zur Normalität zurückzukehren, nachdem Anabelle den Tod gefunden hat.
Gedankenverloren schalte ich das Radio ein. »... die Leiche der einundzwanzigjährigen Anabelle Dreed gefunden worden war. Behördliche Ermittlungen ergaben, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte. Die Angehörigen der–« Fahrig schalte ich das Radio aus. Mein keuchender Atem hallt von den Innenwänden des Autos wider und mein eigener Herzschlag rauscht lauter in meinen Ohren als das Meer unten.
Ein Unfall. Sie sagen, es war ein UnfallJa . Das bedeutet, sie lassen mich endlich in Ruhe und ich kann vollends mit dieser Sache abschließen.
Erleichterung will meinen Körper durchströmen, stockt jedoch im letzten Moment. Fast so, als hätte man plötzlich winzig kleine Dämme in meine Blutbahnen gesetzt die verhindern, dass dieses Gefühl in meinen Kreislauf gelangen kann. Warum bin ich nicht erleichtert?
Weil irgendwas mir sagt, dass sie nicht durch einen Unfall gestorben ist.
Doch sobald ich diesen Gedanken fertig gedacht habe, schüttle ich den Kopf über mich selber. Natürlich war es ein Unfall! Das ist die naheliegendste Erklärung. Immerhin war sie in dieser Nacht mehr als nur sturzbetrunken und vermutlich auch noch auf Drogen. Die zugeknöpfte Anabelle, die stets beweisen wollte, dass sie mehr war, als nur das brave Mäuschen mit der gewählten Ausdrucksweise. Nun, diesmal hatte sie es eindeutig übertrieben.
Unwillkürlich überschwemmt mich eine Welle der Wut auf sie und ich kralle die Hände um das Lenkrad. Weil sie sich unbedingt so sehr gehen lassen musste, wird mir diese verfluchte Nacht auf ewig nachhängen.
Mein Herz krampft sich in meiner Brust zusammen und ich halte den Atem an. Angewidert von mir selbst reibe ich mir übers Gesicht und lasse dann die Stirn auf das Lenkrad sinken. Wie kann man nur so schrecklich von einer Toten denken?
...
Für den Rest des Tages bin ich ziellos durch die beschauliche Küstenstadt gefahren. Immer wenn ich mit dem Gedanken spielte, in eines der Geschäfte zu gehen, kniff ich im letzten Moment. Ich kann nicht genau sagen, was es war, das mich zurückhielt, aber ich brachte es einfach nicht über mich, jemandem gegenüberzutreten. Es fühlte sich fast an, als wären meine sozialen Batterien nach der Begegnung mit dem schroffen Mann, welcher mich Sage nannte, ausgegangen.
Als es jedoch langsam zu Dämmern begann, musste ich einsehen, dass ich nicht drumherumkommen würde, mir etwas zu essen zu kaufen. Mein Magen knurrte bereits lauter als der Motor.
So fahre ich also zu einem kleinen Imbiss am Ende des Küstenabschnittes, an welchem ich früher am Tag noch vorbeigefahren bin. Als ich jedoch dort ankomme, muss ich feststellen, dass er bereits geschlossen hat. Mürrisch steuere ich den kleinen Supermarkt in der Nähe an und parke dann auf dem fast leeren Parkplatz.
Es handelt sich nicht um eine Filiale einer Kette, sondern um ein kleineres, regionales Unternehmen. Als ich den Laden betrete, klingelt ein kleines Glöckchen über meinem Kopf und ich zucke zusammen. Gott, es ist nur eine Glocke, Harriet.
Seufzend setze ich meinen Weg in das Ladeninnere fort und greife zu einem in Plastik verpacktem Gemüse-Wrap, so wie einer kleinen Flasche Mineralwasser. Als ich meine Artikel auf den Tresen an der Kasse lege, achte ich nicht einmal richtig auf die Person, die dahinter steht. Als diese also plötzlich anfängt zu sprechen, erschrecke ich ein weiteres Mal.
»Wie schön, dich wiederzusehen! Irgendwie kommt es mir vor, als wäre es Ewigkeiten her, dabei kann es nicht länger als eine Woche gewesen sein, als du das letzte Mal hier warst. Wie geht es dir?«
Irritiert starre ich die Frau mittleren Alters vor mir an, die mich mit einem warmen Lächeln bedenkt und abwartend ansieht. »Äh, gut. Danke...«, so unauffällig wie möglich schiele ich auf ihr Namensschild, »... Berta.« Besagte streicht sich jetzt die kinnlangen, orangen Haare hinter die Ohren und holt ein Päckchen unter dem Tresen hervor.
»Gib das doch bitte St. John wenn du ihn das nächste Mal sehen solltest, sei so lieb.«
»Äh... wem?«, frage ich verwirrt. Sie lacht und winkt ab. »Miles, oder wie auch immer du ihn nennen willst. Bring es ihm einfach vorbei und richte ihm liebe Grüße aus.«
Bevor ich überhaupt ablehnen kann, drückt sie mir das Paket auch schon in die Hände und zieht meine Produkte über den Scanner. »Das macht dann genau drei Dollar.« Ich krame das Geld aus meiner Hosentasche und lege ihr die drei zerknitterten Ein-Dollarnoten auf die Theke. Sie nimmt sie an und packt mir meine Sachen in eine kleine Tüte.
»Vielen Dank und bis bald!«
»Äh, gern, danke«, stottere ich und verlasse den Laden.
Beim Auto angekommen halte ich einen Moment inne. Was zur Hölle war das eben?
...
Es wird mysteriöser und mysteriöser... Meinungen, Vermutungen? 🌚
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