A C H T
Verständnislos starre ich ihn an. »Bitte was?«, bricht es irgendwann aus mir heraus. Er sagt: »Du könntest bei mir wohnen. Ich habe ein Haus an der Küste, nicht weit vom Surferladen. Der läuft ganz gut, deshalb kann ich es mir auch leisten, dich bei mir einzuquartieren und du müsstest keinen Cent zahlen. Was sagst du?«
Was ich sage? Ich habe keine verfickte Ahnung, was ich darauf sagen soll.
»Ich, ähm... kenne dich nicht gut genug, um bei dir einzuziehen«, bringe ich dann hervor. Zu meiner Überraschung nickt er verständnisvoll. »Ich kann deinen Einwand verstehen. Als Frau würde ich mir das vermutlich auch zweimal überlegen. Falls es dich beruhigt, kannst du das Schlafzimmer in der Nähe der Haustür haben und ich gebe dir ein Pfefferspray. Deal?«
»Du scheinst das wirklich zu wollen«, entgegne ich langsam. Er nickt entschlossen. »Ja. Ich will es.« Wenn ich mir seinen harten Gesichtsausdruck ansehe, frage ich mich unwillkürlich, was meine liebe Doppelgängerin bloß gemacht haben könnte, um ihn so aufzuregen... mein Gefühl sagt mir, dass das weit über eine gescheiterte Beziehung hinaus geht.
St. John sieht, dass ich noch überlege. Ein kleines Lächeln umspielt seinen Mund. »Eigentlich sollte viel eher ich mir um meine Sicherheit Gedanken machen – du bist eindeutig gestörter als ich.« Ich verdrehe die Augen und schnaube.
St. John scheint zu merken, dass ich mich nicht recht entscheiden kann, denn er hebt beschwichtigend eine Hand und sagt: »Weißt du was? Überleg es dir noch. Ich bin heute im Laden, du kannst gern um sieben vorbeikommen und mir dann Bescheid sagen. Kein Druck. Wo der Laden ist, weißt du ja.«
Mit den Worten und einem knappen Winken verabschiedet er sich. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe ihm hinterher, bis er aus meinem Blickfeld verschwindet.
...
Stunden später sitze ich in meinem Auto am Strand, esse einen Burger und starre auf das Meer vor mir. Es ist zu kalt um schwimmen gehen zu können, aber wenn die Sonne scheinen würde, könnte man auf einer Decke im Sand sitzen und die Atmosphäre genießen. Nur leider schifft es heute wie aus Eimern und wenn ich die dunkelgraue Wolkenformation am Horizont richtig deute, kommt bald ein Gewitter.
Nachdem ich den letzten Bissen meines Burgers vertilgt habe, knülle ich das Papier zusammen und werfe es achtlos über die Schulter. Verdammt, ich muss mir einen Job suchen – und eine Unterkunft auch. Dass ich nicht bei St. John wohnen will, ist klar... zumindest versuche ich, mir das einzureden. Denn eigentlich sehe ich in dieser ganzen Sache mit Sage eine willkommene Ablenkung von dem Drama, welches ich in Pynings zu lassen geglaubt habe. Früher oder später wird mich die Polizei sicher auch hier aufsuchen – immerhin haben sie es sogar hingekriegt, das Hotel ausfindig zu machen, in dem ich gewohnt habe...
Aber mal sehen, wie lange ich ihnen noch aus dem Weg gehen kann. Challenge accepted.
Als ich bereits wegfahren will, klopft es plötzlich gegen meine Scheibe. Ich zucke leicht zusammen und drehe den Kopf zur Seite. Eine junge Frau, die etwa in meinem Alter sein muss, gestikuliert wild mit den Händen, dass ich das Fenster herunterfahren soll. Ihre quietschgrün lackierten Nägel brennen mir Löcher in die Netzhaut. Sie sieht extrem wütend aus, den roten Flecken auf ihren Wangen nach zu urteilen. Was ist denn jetzt los? Wer ist das bitte?
Betont langsam hebe ich eine Braue, was sie dazu treibt, mit der Faust gegen die Scheibe zu donnern. Okay, das reicht.
Ruckartig öffne ich die Tür, sodass sie zurück stolpert und baue mich vor ihr auf. »Vorsicht«, raune ich, ohne sie aus den Augen zu lassen. Wut durchströmt mich heiß und kalt zugleich. Ihre Nasenflügel flattern, als sie schnaubt. »Du ekelhafte Hure!«, speit sie mir entgegen und pustet sich eine Strähne ihres kunterbunten Haares aus der Stirn. Mittlerweile bin ich nicht einmal mehr verwirrt, sie hält mich sicher für Sage.
Kurz bin ich versucht, das Missverständnis aufzuklären, doch dafür finde ich diese Situation zu interessant. Meine Wut macht Neugier Platz.
Außerdem könnte ich auf die Weise mehr über meine Doppelgängerin in Erfahrung bringen, die sich anscheinend nur Feinde machen kann.
Also verschränke ich die Arme und fixiere sie dabei weiterhin. Es ist witzig, wie viel Leute von sich preisgeben, wenn man einfach nur schweigt und abwartet. Ich sehe ihr deutlich an, dass sie aufgewühlt ist, aber vor mir die Harte markieren will. Eigentlich ist sie das nämlich nicht... hart, meine ich. Viel mehr macht sie auf mich den Eindruck, dass sie sich dazu zwingen musste, mich blöd anzumachen. An ihrer Wut zweifle ich allerdings kein bisschen. So langsam fängt dieses Spiel an, mir zu gefallen.
Mit zitterndem Zeigefinger deutet sie auf mich. »Du... du musstest es ja unbedingt tun, ne?! Kannst einfach nicht die Finger von den Männern hier lassen, was?!« Ich betrachte sie weiterhin ruhig. Sie fährt mit zitternder Stimme fort, diesmal leiser: »Du hast einen Keil zwischen mich und Greg getrieben! Du verfluchte Schl–«
»Man kann keinen Keil zwischen Menschen treiben, die in einer soliden Beziehung stecken. Dank mir später«, unterbreche ich sie mit ruhiger Stimme. Sie schnappt nach Luft.
Dann geht alles sehr schnell.
Die Frau holt aus und trifft mich fast mit ihrer Faust im Gesicht – im allerletzten Moment kann ich noch ausweichen, sodass ihre Hand knapp an meinem rechten Ohr vorbeisaust.
In mir legt sich ein Schalter um.
Ohne zu zögern packe ich sie an den Schultern und dränge sie polternd gegen mein Auto.
Aus der Innentasche meiner dünnen Jacke pfriemele ich ein Taschenmesser hervor, mit welchem ich noch vor wenigen Stunden meinen Apfel geschält habe. Ich klappe es auf und halte es ihr mit der einen Hand an den Hals, die andere liegt quer über ihrem Schlüsselbein, um sie zu fixieren.
»So, Schatz, genug gespielt. Sag endlich, was du zu sagen hast, dann lass mich in Ruhe. Und wenn du mir nur mitteilen wolltest, was für eine Bitch ich bin, kannst du gleich wieder abziehen. Ich verschwende nicht gern meine Zeit.« Meine Stimme klingt so kalt, dass ich selbst fast Gänsehaut am Körper kriege.
Aus der Nähe erkenne ich, dass ihre Augen von einem verwaschenen Braun sind – ein wenig so wie das Innere einer Biotüte. Ihr Atem geht zittrig und schnell, wobei sich die helle Haut an ihrem Hals wieder und wieder gegen die schmale Klinge presst. Ich verstärke den Druck etwas und sehe, wie sich ein feines Rinnsal an Blut den Weg zu ihren Ausschnitt bahnt. Mild lächelnd fahre ich mit dem Finger darüber und male ihr mit der roten Flüssigkeit ein Herz auf beide Wangen.
»So, meine Liebe. Noch was zu sagen? Letzte Chance«, raune ich nach wie vor lächelnd. Sie sieht mich mit nichts als nackter Angst in den Augen an. »D-du... du...«, stottert sie kaum hörbar. Ich lehne mich ein wenig zu ihr vor. »Ich was?«, hake ich nach.
»Du bist gestört!«, keucht sie schließlich. Ich nehme ihr spitzes Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und streiche langsam über ihre weiche Haut. Dann wische ich mir das Lächeln aus dem Gesicht und zische: »Gestört? Möglich. Und deswegen überlegen wir es uns das nächste Mal ein bisschen besser, ob wir wie eine wild gewordene Wasserkuh auf mich losgehen, nicht?«
Sie nickt zitternd. Angewidert lasse ich von ihr ab und schubse sie mit einer Hand von mir. Sie stolpert zur Seite und landet im Sand. Hastig rappelt sie sich auf und rennt dann davon. Erstaunt stelle ich fest, dass das Spaß gemacht hat. Zufrieden setze ich mich zurück in mein Auto und verlasse den Strandabschnitt.
Nicht einmal eine Minute später parke ich erneut an der Küste und steuere den Surfershop an. Als ich eintrete, bimmelt ein Glöckchen über meinem Kopf.
Im Inneren des Ladens sieht es genau so aus, wie ich es mir vorgestellt habe: Die Wände sind in einem blassen Türkis-Blau gestrichen. Hier und da hängen Fischernetze und Muscheln als Deko. Verschiedene Surfbretter sind unten an der Wand befestigt worden und durch eine dünne Schnur miteinander verbunden. Überall im Laden verteilt findet sich noch Equipment, von welchem ich keine Ahnung habe, wofür es gut sein soll. Die eine Schaufensterpuppe trägt einen Neoprenanzug in den Farben von Salten Flags: Dunkelblau, Weiß und Koralle.
St. John verabschiedet gerade einen Kunden, der anschließend mit einer vollen Papiertüte an mir vorbeigeht. Die kleine Glocke ertönt erneut.
Während ich zu St. John laufe, der lässig am Tresen lehnt und irgendwelche Papiere liest, will ich mir meine Worte zurechtlegen. Doch als er schließlich aufblickt und überrascht die Brauen hebt, sage ich lediglich: »Ich mach's.«
...
Ich bin mir fast sicher, dass sich euer Bild von Harriet nach diesem Kapitel etwas verändert hat... 👀
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