037
Harrys Blick wandert langsam von meinem Gesicht rüber zu dem seiner Mutter. Tränen sammeln sich in ihren Augen, genauso wie in seinen. Nach ein paar Sekunden löst sie sich aus der Schockstarre und kommt zwei Schritte auf uns zu.
"D-Du-... Harry, du bist es wirklich, o-oder?" flüstert sie, als ihr die erste Träne über die Wange kullert. Ich lege ihm die Hand auf den Rücken und drücke mit der anderen sanft seine. Auch ihm laufen die Tränen durchs Gesicht, als er unsicher zu lächeln beginnt und "H-Hey, Mum..." wispert. Ganz leicht drücke ich ihn in ihre Richtung, als sie ihre Hand nach ihm ausstreckt und ihn ermutigend anlächelt. Ein lautes Schluchzen verlässt seine Kehle, als endlich wieder Bewegung in seinen Körper kommt und er nach vorn stolpert, von seiner Mutter aufgefangen und fest in die Arme geschlossen wird.
Auch ich kann die Tränen nicht zurück halten, als vor meinen Augen genau das passiert, was er sich heute morgen noch so sehnlichst gewünscht hat.
Eine feste Umarmung voller bedingungsloser Liebe von seiner Mutter.
"E-Es tut mir so leid, Mama, ich w-wollte dich n-nicht mit ihm all-alleine lassen, ich w-wollte so gerne sta-stark für dich sein, a-aber ich k-kon-konnte nicht, ich-" schluchzt er in ihre Haare, weshalb sie ihm sanft über den Rücken streichelt. "Ssshh, mein Schatz, es ist alles gut, hörst du? Du hast nichts falsch gemacht, okay?" Sie hebt seinen Kopf vorsichtig mit beiden Händen an und küsst sekundenlang seine Stirn, bevor sie ihn wieder in ihre Arme schließt. Leise schniefe auch ich vor mich hin, traue mich allerdings nicht, irgendetwas zu sagen oder die beiden in irgendeiner Form zu unterbrechen.
Das hier ist so lange überfällig und der Moment gehört ganz alleine Harry und seiner Mutter.
Nach ein paar Minuten, in denen sie es geschafft hat, ihn flüsternd etwas zu beruhigend, stupst mir plötzlich ein kleines flauschiges Köpfchen gegen die Hand. Leise gibt Dotty ein Fiepen von sich, das sich wirklich etwas besorgt anhört. Sie dreht den Kopf kurz rüber zu den beiden und sieht mich dann mit großen Augen von unten an. Ich streichle ihr beruhigend über den Kopf und flüstere "Es ist alles gut, Kleines." Harry löst sich daraufhin noch immer etwas aufgelöst aus der Halsbeuge seiner Mutter, die dadurch offenbar ebenfalls erst wieder realisiert zu haben scheint, dass ich überhaupt anwesend bin.
Tief atmet Harry durch, bevor er sanft lächelnd zu mir rüber sieht, nach meiner Hand greift und mich an seine Seite zieht. "Mum, darf ich-..." er atmet zittrig ein und wieder aus, bevor er mir einen zaghaften Kuss auf die Schläfe haucht und dann mit deutlich festerer Stimme, wieder zu seiner Mutter gewandt lächelnd sagt "Darf ich dir meinen Freund Louis vorstellen?" Sanft lächelt sie mich an und reicht mir die Hand. "Anne, es freut mich dich kennen zu lernen, Louis." sagt sie leise.
"...du glaubst gar nicht, wie sehr es mich freut, dich kennenzulernen." gebe ich zu, weshalb mein Freund leise schmunzelt und sein Gesicht kurz in meine Halsbeuge legt, mir einen federleichten, gänsehauthervorrufenden Kuss auf die Haut haucht und mich dann verliebt ansieht. "Ohne ihn würde ich jetzt nicht hier stehen." flüstert er.
Ich bin froh, dass seine Mutter nicht weiß, wie wortwörtlich wahr diese Aussage ist.
Sie sieht mich dankbar an und streicht mir sanft über den Arm, bevor sie tief durchatmet, sich die feuchten Wangen mit ihrem Ärmel trocknet und dann "Kommt, ich mache uns mal Tee und dann schlage ich uns noch etwas Sahne auf, ich habe Apfelkuchen vom Markt mitgebracht." sagt. Harrys Augen leuchten auf. "Er schmeckt noch genauso wie damals." grinst sie und streicht ihm kurz mit dem Fingerrücken über die Wange. Auch Dotty folgt uns mit nach unten, wo sie sich zu den drei anderen Katzen, die vor dem Fenster auf einem Kissen in der Sonne liegen, gesellt.
Harry und ich folgen stattdessen seiner Mutter in die Küche, in der sie mit einem Lächeln, dass wie festgemeißelt in ihrem Gesicht festklebt, und ziemlich zittrigen Fingern versucht, Teewasser aufzusetzen. "Ich mache schon..." sage ich sanft und nehme ihr den Kessel aus der Hand. "Danke, Liebes." flüstert sie und lächelt mich dankbar an. Sie geht daraufhin noch einmal zu ihrem Sohn herüber, um ihn erneut fest in ihre Arme zu schließen. "Ich kann noch immer nicht glauben, dass du wirklich hier bist..." wispert sie leise. Dann hebt sie plötzlich rasch den Kopf. "Gemma! Sie kommt gleich zum Nachmittagstee, sie-... oh Gott, sie wird hintenüber kippen, wenn sie dich sieht." Sie ist auf einmal noch viel aufgeregter, als sowieso schon, färbt dabei direkt auf Harry ab.
"Ich hoffe, sie ist mir nicht böse, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe..." murmelt er traurig. "Liebling, hör bitte auf, dir Vorwürfe zu machen, niemand ist dir böse. Wir lieben dich, egal was war." Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihm erneut mehrere Küsschen auf die Stirn zu geben. "Alles was wir sind, ist glücklich. Unendlich glücklich, dich wohlbehalten wieder in unsere Arme schließen zu können." Er hat aufgegeben, die Tränen heute noch wieder stoppen zu können, denn er lässt sie einfach auf ihre Bluse tropfen, als er sie liebevoll anlächelt, sie dann noch einmal in seine Arme zieht.
Beide mit Taschentüchern ausgestattet, nimmt mir Anne die Arbeit mit den Worten "Ich muss was tun, sonst höre ich nie wieder auf zu heulen." wieder ab und schiebt den Kuchen (der fast das ganze Blech füllt, als hätte sie gewusst, dass wir kommen) für einen kurzen Moment in den Ofen, um ihn aufzuwärmen, während sie etwas Sahne aufschlägt. Ich gehe stattdessen wieder rüber zu meinen Freund, streiche ihm vorsichtig über die gereizten Wangen. Er beugt sich zu mir runter, flüstert "Danke, Boo. Ich liebe dich.", bevor er seine Lippen mehrmals sehnsüchtig auf meine drückt.
"Ich bin so stolz auf dich, Sweetheart." sage ich und küsse sanft seine Nasenspitze. Leise höre ich ein Schluchzen hinter mir, weshalb ich mich umdrehe. "T-Tut mir Leid, ich-..." seine Mutter hält sich die Hand gerührt vors Gesicht. "...ich wollte Euch nicht stören, ich bin nur so froh, dass du-... Ihr seht so glücklich aus." Ihr Blick ist so voller Liebe, wie sie nur eine Mutter vermitteln kann. "Das bin ich, Mama." sagt der Mann, der mich noch etwas enger an seine Brust drückt. "Das bin ich wirklich." flüstert er dann in meine Richtung und gibt mir noch einen weiteren, federleichten Kuss.
Erneut ist das leise Knacken der Haustür zu hören, weshalb wir alle drei gleichzeitig in Richtung Flur schauen. Anne dreht sich dann breit strahlend zurück in unsere Richtung, bevor sie aufgeregt losläuft. "Gemma, Robin, Ihr glaubt niemals, wer hier ist!" Harry neben mir spannt sich etwas an, beruhigt sich allerdings schnell wieder etwas, als ich nach seiner Hand greife, ihr einen Kuss gebe und anschließend sanft darüber streichle. "Lass die Schuhe an, die kannst du gleich noch-... jetzt komm schon!" höre ich die aufgeregte Stimme seiner Mutter, die kurz darauf eine junge, dunkelhaarige Frau, die ihre Mutter etwas irritiert lachend ansieht, ins Wohnzimmer schiebt.
Als sie den Kopf zu uns dreht, entgleiten ihr dann allerdings sämtliche Gesichtszüge. "Oh-... Oh mein Gott, du-..." Ohne den Satz zu beenden hechtet sie die wenigen Meter nach vorn und schmeißt sich ihrem unsicher lächelnden Bruder in die Arme, der daraufhin ein paar Schritte nach hinten taumelt und meine Hand loslässt, um sie seiner Schwester liebevoll an den Hinterkopf zu legen. "Ich wusste, dass du zurück kommst, ich wusste, ich habe Recht! Ich hab's dir immer gesagt, Mum! Er hat uns nicht vergessen. Ich wusste es!" Sie wiederholt ihre Worte immer wieder, während sie sich mit ihm im Arm langsam im Kreis dreht.
"Ich habe jeden Tag an Euch gedacht, jeden einzelnen der 2537 Tage." sagt er, als sie sich von ihm löst und ihn mit feuchten Augen anstrahlt. "Ich hab mich nur nie getraut, zurück zukommen, ich dachte, Ihr hasst mich." schnieft er. "Wir könnten dich niemals hassen, du Doofkopf." sagt sie und knufft ihm neckisch in die Seite. "Ich habe meinen kleinen Bruder wieder, ich glaub's nicht." Erneut drückt sie sich gegen ihn und kuschelt das Gesicht an seine Brust.
"Na, das nenne ich mal eine Überraschung." Der Mann seiner Mutter kommt auf uns zu und legt meinem Freund die Hand auf die Schulter. "Wie schön, dich kennenzulernen, Harry. Ich bin Robin, der Mann deiner Mutter." Freundlich lächelt er ihn an und bekommt von Harry dafür ein schüchternes Lächeln.
"Danke, dass du für meine Mama da warst, als ich es nicht konnte." sagt er kleinlaut und senkt den Kopf. Ich sehe, dass ihm schon wieder die Tränen kommen. Auch Robin scheint das zu merken, denn er sagt leise "Hey, Großer, komm mal her...", legt ihm den Arm um die Schultern und nimmt ihn ein Stück zur Seite. Leise und ruhig redet er mit ihm und ich verstehe nicht viel, aber ich meine, Wortfetzen zu hören, die Dinge wie "Du hast für dein Alter damals Unfassbares geleistet", "Niemand nimmt dir übel, dass du nicht mehr konntest" und "Wir alle sind wahnsinnig stolz auf dich" beinhalten. Ich sehe Harry aus dem Augenwinkel immer wieder nicken, ab und an nervös lächeln und 'Danke' sagen.
Auch wenn es viel zu spät - und außerdem von dem falschen Mann - kommt, bin ich trotzdem wahnsinnig froh, dass Robin wie selbstverständlich eine Vaterfigur für einen jungen Mann einnimmt, den er erst seit 5 Minuten kennt. Dieses Gefühl, einen sich sorgenden Vater zu haben, scheint Harry immer verwehrt worden zu sein, weshalb ich für diesen Moment mehr als dankbar bin.
Während des Gesprächs hechtet Harrys Mutter schnell Richtung Ofen, um den Kuchen vor dem vertrockneten Brandtot zu retten, Gemma dreht sich stattdessen zu mir. "Und du bist...?" fragt sie lächelnd. "Louis, ich bin Harrys Freund." erkläre ich. Sie legt den Kopf etwas schief und flüstert "Freund-Freund?" Grinsend nicke ich. "Ja, Wir-sind-ein-Paar-Freund." antworte ich, um es so deutlich wie möglich zu machen. "Also hatte ich sogar doppelt Recht." schmunzelt sie. "Gemma, es freut mich wirklich sehr."
"Okay?" höre ich dann Robin hinter mir. Lächelnd nickt der Mann, dem mein Herz gehört, seinem neu gewonnenen Stiefvater zu, bevor dieser ihn fest in seine Arme schließt. Breit strahlend sehe ich die beiden an. "Ich habe mir für ihn immer jemanden gewünscht, der ihn so ansieht wie du, weißt du das?" Seine Schwester hat mir ihre Hand auf die Schulter gelegt und sieht mich glücklich an. "Pass gut auf ihn auf, versprichst du mir das?" Ich nicke sofort. "Er bedeutet mir mehr, als alles Andere. Deshalb wollte ich auch, dass er sich mit Euch ausspricht. Ich wusste, wie sehr er unter der Situation leidet, er macht sich solche Vorwürfe, weil er denkt, er hätte Euch im Stich gelassen." Nun nickt sie. "Ich hab's befürchtet. Er hat sich schon immer für Alles die Schuld gegeben und über Alles viel zu sehr nachgedacht. Ich bin froh, dass er jemanden wie dich gefunden hat, ich habe das Gefühl, er ist bei dir gut aufgehoben." Leise bedanke ich mich, bevor Harry mich von hinten in den Arm nimmt.
"Alles gut, Love?" frage ich, weshalb er lächelnd nickt. "Ich bin so froh, dass meine Mama ihn hat. Sie verdient jemanden, wie ihn." flüstert er in mein Ohr. Wir beobachten einen Moment, wie Robin seiner Frau einen Kuss auf die Schläfe drückt und ihr dann den Kuchen abnimmt, um ihn auf den Tisch zu stellen. "Ich habe ihm versprochen, dass wir ab jetzt häufiger vorbei kommen, ich hoffe, du kommst mit?" Ich drehe mich zu ihm und drücke ihm ein Küsschen auf die Lippen. "Natürlich begleite ich dich."
Bis zum frühen Abend sitzen wir zusammen, Harry erzählt, genauso wie seine Familie, was in den vergangenen Jahren so alles passiert ist, weshalb sich seine Mutter vor Stolz über die Annahme an der Clifford gar nicht wieder einbekommt. "Ich wusste immer, dass du es schaffst, mein Schatz. Mein Sohn studiert an der Clifford, ich glaub's nicht!" Sie nimmt seine Hand in ihre und lässt sie erst nach einer halben Ewigkeit wieder los.
Auch redet er ganz offen über seine Krankheit, was seine Mutter zwar wieder zum Weinen bringt, aber ausschließlich auf Verständnis trifft. Es sei ihm wichtig, dass sie verstehen, warum er damals nicht mehr konnte und gehen musste. Er sagt, er wolle nichts mehr verheimlichen.
Außerdem erzählt uns seine Mutter, dass Harrys leiblicher Vater mittlerweile seit 5 Jahren wegen schwerer Körperverletzung und Trunkenheit am Steuer im Gefängnis sitzt. Im Zuge dessen hat sie auch direkt die Scheidung eingereicht und in ihrem Scheidungsanwalt die Liebe ihres Lebens gefunden. "Es war wohl Schicksal, dass er mich von diesem Arschloch befreit hat und ich dann irgendwie gar nicht mehr gehen wollte." schmunzelt sie, als sie sich in die Arme ihres Mannes kuschelt. "Sie hat Wochen nachdem die Scheidung durch war, immer noch ständig wegen belangloser Fragen angerufen, nur um mit mir zu quatschen. Irgendwann hab ich sie einfach unterbrochen und gefragt, wann ich sie denn endlich zum Essen einladen darf, damit ich sie nicht immer irgendwann abwürgen musste, wenn ich seit einer Stunde nicht gearbeitet habe." lacht Robin daraufhin, weshalb seine Frau etwas rosig anläuft.
Jedes Mal muss ich schmunzeln, wenn ihr das passiert. Denn nun weiß ich immerhin, von wem Harry das hat...
"Und Ihr kommt wirklich bald wieder?" versichert sich seine Mutter noch einmal, als wir uns auf den Weg nach Hause machen wollen. "Versprochen." flüstert ihr Sohn, als er sie fest umarmt. Auch mich nimmt sie noch einmal ganz fest in den Arm, flüstert mir dabei "Danke, dass du meinen Sohn zum Lächeln bringst. Ich weiß, er ist bei dir in guten Händen." ins Ohr. "Danke, Anne." sage ich, als sie mich wieder loslässt. Wie den restlichen Tag schon nimmt Harry direkt wieder meine Hand und zieht mich neben sich. "Ich melde mich, wenn wir zuhause sind." sagt er, als wir vor der Tür ins Auto steigen. Bis ich um die Kurve biege, winken sie sich noch gegenseitig zu, dann dreht Harry sich wieder zu mir und greift wie bereits auf der Hinfahrt direkt nach meiner Hand, lässt sie bis zu meiner WG nicht wieder los.
"Ist Liam gar nicht da?" fragt er, als wir oben reinkommen. Ich schüttle den Kopf. "Danielle's Mum feiert doch heute ihren 50., die beiden schlafen heute bei ihr." Etwas nachdenklich nickt er, nimmt mir dann die Schlüssel aus der Hand und schiebt mich vorsichtig in Richtung meines Zimmers.
Und das leicht nervöse Lächeln, dass er dabei auf den Lippen hat, ist irgendwie anders, als jedes, das er mir zuvor geschenkt hat.
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2420 Words
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