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Ich höre die Spülung der Toilette, bevor die Tür zum Bad wieder geöffnet wird. Harry war maximal 20 Sekunden weg, er will mich noch immer nicht aus den Augen lassen. Obwohl ich erst seit 2 Tagen wach bin, bin ich schon deutlich fitter als die Ärzte anfangs vermutet haben. Ich lag lediglich in einem leichten Koma, die letzten zwei Tage wohl sogar in einer Art Wachkoma, was auch der Grund dafür ist, dass ich alles mitbekommen habe und auch keine Beatmungsmaschine, sondern lediglich eine zusätzliche Sauerstoffzufuhr zur Sicherheit bekommen habe. Und vorallem, dass ich auf Harrys Berührungen mit einem leichten Zucken (und einem heftigen Herzklopfen...) reagiert habe. Trotzdem ist Dr. Burnham überrascht, wie schnell es bergauf geht. Er vermutet, dass es an meinem jungen Alter und der Tatsache, dass ich vor dem Unfall regelmäßig Sport betrieben habe, liegt. Mein Körper sei sehr fit und mein Herz außerordentlich stark, wie bei 'einem richtigen Kämpfer', sagt er.
Ich bin mir sicher, dass er eigentlich nicht wollte, dass ich das höre, aber Harrys leichtes Schmunzeln, als er ganz leise "mein kleiner Kämpfer." ergänzt hat, hat mir verraten, dass ich sein Flüstern richtig verstanden habe.
Und es war wirklich schwer, daraufhin besagtes starkes Herz nicht eskalieren zu lassen...
Aufgrund dessen darf ich sogar schon wieder eigenständig durch die Gegend laufen, worüber ich mehr als froh bin. Vor allem Dinge wie zur Toilette gehen zu können lernt man erst so richtig zu schätzen, wenn man es nicht kann. Sofort am ersten Tag habe ich mich mit Harrys Hilfe irgendwie ins Bad gekämpft, obwohl ich wirklich extreme Probleme mit meinem Kreislauf hatte, aber dieser Schlauch an meinem besten Stück war keine Option.
Es war echt niedlich mit anzusehen, wie nervös Harry deswegen war. Er hat mir sogar angeboten, mit im Raum zu bleiben und sich umzudrehen, aber ich habe gemerkt, wie unangenehm ihm das Ganze sowieso schon war. Ich bin froh, dass mich zum Duschen eine Pflegerin begleitet. Ich habe darauf bestanden, dass es die ältere Dame ist, die ich sowieso schon so ins Herz geschlossen habe. Erstens, weil mir das vor ihr nicht unangenehm ist, weil sie genauso gut meine Oma sein könnte und zweitens, weil der Pfleger, der sonst für mich zuständig ist, viel zu attraktiv ist. Ich hatte Angst, dass mein Körper... sagen wir reagiert, wenn er mich anfasst und außerdem will ich nicht, dass Harry noch eifersüchtiger wird. Er wirft ihm schon einen Todesblick zu, jedes Mal wenn er mir auch nur einen Zentimeter zu nah kommt.
Es ist irgendwie so... komisch. Ihm ist natürlich bewusst, dass ich von seinen Gefühlen weiß, aber wir reden nicht darüber. Genauso muss er merken, dass ich ebenfalls etwas für ihn empfinde, denn ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich ihn hier haben will. Ich habe mit Rose, meiner Lieblingspflegerin, sogar irgendwie durchbekommen, dass er das freie Bett neben mir nutzen darf, damit er endlich etwas schläft. Auch wenn das der größte Kampf überhaupt war, ihn davon zu überzeugen. Ich musste ihm versprechen, seine Hand zu halten und sofort Bescheid zu geben, wenn irgendwas nicht stimmt. Er und Rose haben das halbe Zimmer umgeräumt, um das Bett irgendwie nah genug an meins zu bekommen, sodass das überhaupt möglich ist. Ich glaube, wenn ich hier raus bin, macht dieses Krankenhaus 3 Kreuze...
Am liebsten wäre mir ja eigentlich gewesen, er hätte sich zu mir ins Bett gelegt, aber dafür ist es leider definitiv zu schmal. Er hätte sich auf mich legen müssen, was mit der erst spärlich abgeheilten Rippe unmöglich gewesen wäre. Ich hätte das zwar trotzdem auf mich genommen (mit genug Schmerzmittel geht alles...), aber Rose hat mich nicht gelassen. Sie ist sowieso so neugierig, was zwischen uns läuft, dass sie ständig 'aus versehen' reinplatzt. Als er gestern duschen war, hat sie mich direkt ausgefragt, wollte wissen, ob er mein Freund ist und warum wir uns nie küssen. Es scheint für alle hier so offensichtlich zu sein, dass er mehr als ein guter Freund ist - was komplett nachvollziehbar ist. Ich meine, er klebt an mir wie Kaugummi am Schuh, kein 'normaler' Freund würde das tun.
Als Rose mich heute morgen zum Duschen begleitet hat (gottseidank darf ich das mittlerweile alleine tun, sie ist nur anwesend, damit mir nichts passiert) hat sie mich gefragt, ob wir etwa immer noch nicht über das Ganze geredet hätten. Sie will immer ganz genau alles wissen, man könnte meinen, sie wäre Nialls Spitzel.
Vermutlich ist sie allerdings einfach ein liebevoller und aufmerksamer Mensch. Ich habe ihre Stimme direkt wiedererkannt, als sie nach meinem Aufwachen das erste Mal in mein Zimmer kam. Ich kann mich erinnern, wie sie mir während ich im Koma lag, immer wieder motivierende Worte und liebevolle Dinge zugeflüstert hat.
"Ich weiß, dass du das schaffst, mein Hübscher. Ich freue mich schon, dir ganz bald in die Augen schauen zu können, nicht aufhören, zu kämpfen, hörst du? Hier wartet ein schöner Prinz geduldig auf dich." Und dann hat sie leise gekichert. Sie war also schon meine Lieblingspflegerin, bevor ich sie das erste Mal gesehen habe.
Von seinem kleinen Geschäft zurückgekehrt lässt Harry sich wieder auf seinem Stuhl nieder. Still isst er seinen Teller Suppe auf, denn ich habe ihm gesagt, dass er vorher nichts anderes tun darf. Er hat mittlerweile eingesehen, dass ich nicht locker lasse, weshalb er artig meine Anweisungen befolgt. Was auch gut so ist, denn er sah echt überhaupt nicht gut aus, als ich wach geworden bin. Er war so leichenblass, hatte tiefe Augenringe unter den Augen und ich war mir sogar fast sicher, dass er dünner geworden ist. Niall meinte zwar, ich würde übertreiben, aber... ich habe einfach Angst um ihn.
"Gibt es etwas Neues zu Simon?" frage ich wenig später gegen die Sonne anblinzelnd. Ich bin mit Harry nach draußen gegangen, weil der Arzt meinte, ich sollte versuchen, langsam wieder auf die Beine zu kommen, damit mein Kreislauf sich wieder dran gewöhnt, aktiver zu sein. Wir machen gerade auf einer Bank eine kleine Pause, da es doch noch anstrengender ist, als ich dachte. Er sieht von seinem Handy auf und schüttelt den Kopf. "Nicht wirklich. Aber er wird keine Chance haben, nachdem auch Cheryl und Mary ausgepackt haben." erklärt er.
Nachdem ich komplett durchgecheckt wurde, haben er, Liam und Niall mir erzählt, was ich alles verpasst habe. Obwohl ich nie Fan von sowas bin, war ich in diesem Fall sogar froh, dass einer der Schaulustigen um uns herum das Ganze gefilmt hat. Während Liam sich um einen Krankenwagen gekümmert hat, hat die Person die Polizei gerufen, die daraufhin Simon direkt eingesackt hat. Nicht nur wegen der schweren Körperverletzung, dessen Ausgang zu dem Zeitpunkt noch nicht klar war, sondern auch, weil er vor versammelter Mannschaft eine versuchte Vergewaltigung zugegeben hat. Nein - er hat sogar damit geprahlt. Auch wenn das Video aufgrund von Persönlichkeitsrechten nicht verwendet werden darf, haben sich dadurch mehrere andere Studentinnen gemeldet, die sich zuvor nicht getraut haben. Lottie war offenbar nicht das erste Opfer seines abartigen Plans und leider gab es auch 2 Personen, besagte Cheryl und Mary, die nicht das Glück hatten, dass Freunde vorher realisiert hatten, was los ist.
Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Seine Freunde schweigen über die ganze Geschichte, aber ihnen ist anzumerken, dass sie sich schämen, mit so jemanden befreundet zu sein. Einer beteuert, nichts davon gewusst zu haben und distanziert sich ganz offen von ihm, aber der Rest... ist ein feiger Haufen. Natürlich bin ich froh, dass diesem... - jedes Wort, das ich nennen würde, wäre alles, aber nicht jugendfrei - nennen wir ihn einfach "Mister Cowell", nun endlich das Handwerk gelegt wurde, aber trotzdem tut es mir Leid, dass erst so etwas schlimmes dafür passieren musste. Ich kann noch immer nicht verstehen, dass sich niemand vor mir gegen ihn gewehrt hat. Ich habe gehört, dass die halbe Uni nun in Aufruhr ist und Zivilcourage-Aktionen startet aber ganz ehrlich?
Wie lächerlich ist das bitte.
Außer Dave, der mit Liam angerannt gekommen war, als sie gesehen haben, was dort los war, hat niemand etwas getan. Ich kann mich an das Ganze zwar nur noch dunkel erinnern, aber ich weiß genau, dass der halbe Innenhof voll mit Menschen war. Niemand, absolut niemand, hat ein Wort gesagt oder ist dazwischen gegangen. Stattdessen wurde gegafft, getuschelt und gefilmt. Dave war der Einzige, der sich in die Schusslinie gestellt, Simon weggeschupst und selbst zwei ordentliche Schläge eingesteckt hat, bevor einige andere aus dem Footballteam dazukamen und Simon und die 3 'Freunde', die er mit gebracht hatte, überwältigen konnten. Liam hat sich währenddessen mit Harry um mich gekümmert, den Rettungswagen gerufen und dafür gesorgt, dass niemand auf die Idee kommt, mich direkt zu filmen oder zu fotografieren.
Natürlich ist jede Aktion, die dazu aufruft, sich für andere stark zu machen, gut. Aber trotzdem kommen sowas an dieser Uni VIEL zu spät.
Tief atme ich ein, als ich mich etwas zurücklehne und das Gesicht in die Sonne halte. Schmerzlich zucke ich zusammen, als dadurch ein unangenehmer Schmerz durch meinen Rumpf kriecht. Seit das Sauerstoffgerät weg ist, vergesse ich manchmal, dass das mit dem Atmen ab und an noch Schwierigkeiten bereitet. "Alles okay?" Harry greift besorgt nach meinen Arm und blinzelt mich gegen die Sonne an. Ich schenke ihm ein Lächeln und nicke. "Ja, ich muss das mit dem Atmen nur erst wieder lernen." grinse ich. Er nickt bloß, zieht dann schnell die Hand zurück und vergräbt sie erneut in seinem Hoodie.
Es ist eigentlich viel zu warm dafür, aber er traut sich noch immer nicht, etwas anzuziehen, das mehr von seinem Körper - und vor allem seinen Armen - preisgibt. Und das macht mich so traurig. Ich kann verstehen, dass es ihm unangenehm ist, wenn die Leute seine Narben sehen. Er will nicht darauf angesprochen werden und natürlich will er genauso wenig, das überhaupt jemand davon mitbekommt, dass sie da sind.
Aber ich sehe ihm an, das ihm in dem schwarzen Ding viel zu warm ist. "Zieh ihn aus, Harry." flüstere ich, als er den Stoff um seinen Rumpf kurz anhebt, um etwas Luft darunter zu lassen. Erschrocken sieht er mich an. "Ich weiß, dass du ein T-Shirt drunter hast und..." ich beuge mich etwas zu ihm rüber, damit mich niemand außer ihm hört. "Niemand ist nah genug dran, um sie zu sehen. Glaub mir." Zittrig atmet er ein lässt den Kopf hängen. Er weiß genau, dass mir bewusst ist, was er versteckt und es tut mir auch Leid, dass ich das überhaupt thematisiere. Aber ich will nicht, dass er sich bei über 25 Grad in diesem Pulli zu Tode schwitzt. Ich greife nach seiner Hand und male Herzchen auf seinen Handrücken. Sanft lächle ich ihn an, lege ihm die andere Hand vorsichtig an die Wange und flüstere "Bitte vertrau mir, Love. Ich will nicht, dass du mir in dem dicken Pulli hier gleich umkippst."
Ein ganz leichtes Lächeln huscht über seine Lippen, bevor er sich tatsächlich traut, den Hoodie auszuziehen. Sein T-Shirt rutscht ein Stück mit nach oben, weshalb ich es schnell festhalte, damit er sich nicht unwohl fühlt, vor den Menschen im Krankenhauspark halbnackt zu sein. "Danke..." murmelt er, als er es zurecht zieht und mir ein nervöses Lächeln schenkt. Ich greife nach seiner rechten Hand, schiebe meine Finger zwischen seine und lege sie gemeinsam zwischen uns ab, so herum, dass die Innenseite seines Armes nach unten zeigt. Selbst ich kann so die feinen weißen Linien nicht mehr sehen, sodass keine Gefahr besteht, dass jemand sie bemerkt.
Einen Moment beobachtet er unsere Hände, drückt meine dann fest und lehnt sich zurück. Eine Zeit lang genießen wir still die Sonne, als ich merke, dass er seinen Kopf vorsichtig an meine Schulter lehnt. Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung, hauch ihm ein Küsschen auf die Schläfe und lehne mich dann gegen seinen Kopf. Ich höre ihn leise kichern, dann atmet er deutlich hörbar aus und flüstert "Danke." - "Wofür?" Ich ziehe unsere Hände vor meinen Bauch und beginne, mit meinen Fingerspitzen über seinen Arm zu streicheln, wodurch er eine Gänsehaut bekommt.
Ich liebe es, wie er auf meine Berührungen reagiert.
"...dass du mich akzeptierst, wie ich bin. Mit..." er schluckt schwer. "...mit allem, was dazu gehört." Er kuschelt sich etwas enger an meine Schulter und ich bin erneut froh, dass das Gerät, dass meine Herzfrequenz misst, nicht mehr angeschlossen ist. "Du bist ein wundervoller Mensch, Harry. Alles an dir. Mit allem was dazu gehört. Und wenn du das mal selbst nicht so siehst, dann erinnere ich dich da gerne immer wieder dran. Du bist wunderschön, innerlich wie äußerlich." Ich kann ihn seufzen hören und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er die Lippen aufeinanderpresst. Er scheint so gerührt zu sein, dass er Tränen unterdrückt.
"Nicht so schön wie du." flüstert er und drückt erneut so fest meine Hand, dass sie fast weiß anläuft. Ich gebe ihm ein weiteres Küsschen auf die Schläfe, bevor ich meinen Blick wieder nach oben richte und gegen die Sonne anblinzle. Ich entdecke Rose, die auf dem Mitarbeiterbalkon steht und mit breitem Lächeln zu uns runter sieht. Ich erwidere dieses und drücke meine Wange dann mit geschlossenen Augen noch etwas stärker gegen Harrys weiche Locken. Sein Duft steigt mir in die Nase und meine Mundwinkel rutschen wie von Zauberhand noch ein kleines bisschen höher.
Ich weiß, dass wir irgendwann darüber reden müssen, was das genau zwischen uns ist, aber bis dahin...
Ist das hier alles was ich brauche.
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2221 Words
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