024
"Jetzt geh doch endlich an dein scheiß Handy Lotts'..." murmle ich genervt. Ich kenne dieses Verhalten von ihr und ich verstehe auch, dass sie sauer ist, aber dass sie mittlerweile seit fast 12h nicht an ihr Handy geht macht mich langsam echt nervös. Entweder hat sie mich blockiert oder es ist wirklich ausgeschaltet. Zweiteres ist bei meiner Schwester allerdings so unrealistisch, dass ich den Gedanken direkt wieder verdränge.
Ja, sie ist erwachsen. Ja, sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Nein, ich werde trotzdem nie aufhören, mir Sorgen zu machen. Sie ist und bleibt meine Kleine, egal wie sehr sie sich dagegen sträubt.
Was mir allerdings fast noch mehr Sorgen bereitet, ist Harry. Er liest meine Nachrichten, dass sehe ich an den blauen Haken dahinter. Aber er reagiert nicht darauf. Er hat mir doch gestern versprochen, sich zu melden. Ich muss unbedingt mit ihm reden - oder mich ihm alternativ einfach um den Hals schmeißen und ihn niederknutschen, dann muss ich mir auch nicht die richtigen Worte ausdenken.
Eigentlich sollte er lange da sein. Wir haben in 10 Minuten eine Vorlesung und ich stehe am gleichen Treffpunkt wie immer. Aber er taucht einfach nicht auf und langsam werde ich echt nervös. Niall geht ebenfalls nicht ans Telefon, ich vermute allerdings, der schläft einfach seinen Rausch aus.
Laut seufze ich auf, als ich aus dem Augenwinkel eine Gruppe Menschen auf mich zukommen sehe. DIE Gruppe Menschen. Die brauche ich jetzt auch noch.
Noch bevor sie mich erreichen, legt mir allerdings jemand von hinten vorsichtig die Hand auf die Schulter. "Harry!" Er lächelt mich verlegen an, scheint ziemlich nervös zu sein. "Ist alles okay bei dir? Ich hab mir so Sorgen gemacht..." Ich mustere ihn besorgt und greife nach seiner Hand, als er zaghaft den Kopf schüttelt. "M-Mir geht's gut, ich..." Ein flaues Gefühl macht sich in meinem Bauch breit, als ich sehe, wie die Farbe aus seinem Gesicht weicht. "T-Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet hab, ich... ich war nur die ganze Nacht im Krankenhaus und... ich wusste nicht, wie es dir sagen soll, ich..."
Ich reiße die Augen auf. "Im Krankenhaus?! Harry, was ist passiert?" Ich lege meine andere Hand auf seine Wange und sehe ihn schwer schlucken, als sein Blick an mir vorbei geht.
"Ach, sieh mal einer an, wen haben wir denn da?" Nein verdammt, nicht jetzt. "Verpiss dich, Simon, ich hab keinen Bock auf dein dummes Gelaber." zische ich, ohne mich umzudrehen. "Ach wie witzig. Genau das Gleiche hat deine kleine Schwester gestern Nacht auch gesagt." Schlagartig drehe ich mich um. "Was?!" Breit grinst er mich an. "Ja, sie ist einfach abgehauen, das freche Ding, also bin ich ihr hinterher. Sie wollte sich nicht mal nen Drink von mir ausgeben lassen, so ein undankbares Gör... Aber ein bisschen was hab ich trotzdem beigesteuert. Damit sie etwas weniger... widerspenstig ist, weißt du." Sprachlos starre ich ihn an. "Du-... Du hast ihr was ins Glas getan?!" Harry neben mir senkt traurig den Kopf aber scheint nicht sonderlich schockiert zu sein.
Was ist hier los?!
Simons breites Grinsen macht mich so wahnsinnig wütend, dass ich mich wirklich zusammenreißen muss, ihm nicht ins Gesicht zu springen. Ich versuche zu verarbeiten was hier gerade passiert, als Simon ungeniert fortfährt. "Naja, es nervt hält enorm, wenn Frauen sich so wehren..."
Er- Das-
Er will mir doch wohl hoffentlich nicht gerade sagen, dass er meine Schwester vergewaltigt hat, ich-
Mit geballten Fäusten will ich auf ihn losgehen, doch Harry stellt sich vor mich. "Lou, beruhig dich, es... es geht ihr gut!" Komplett verwirrt sehe ich ihn an. "Ich, sie..." Er atmet tief durch. "Ich war so nervös weil du-... ich brauchte frische Luft und bin spazieren gegangen und da hab ich sie gefunden. Sie... sie lag im Gebüsch im Unipark..." flüstert er mit Tränen in den Augen. "Oh mein-" Er nimmt meine Hand und drückt sie beruhigend. "Ich hab sofort einen Krankenwagen gerufen, es ist alles gut, Lou, wirklich! Mach dir bitte keine Sorgen!" Er lächelt mich aufmunternd an, aber ich bin gerade so absolut überfordert, dass das zum ersten Mal keine Wirkung auf mich hat. Ich drehe mich wieder zu Simon und brülle "Du widerwärtiges Stück, du hast sie missbraucht und dann da liegen lassen?!"
Wieder ist es Harry, der mich mit einer Kraft, die mich fast überrascht, am Arm zurück hält. "Er hat sie nicht angerührt, Louis." sagt er ruhig, weshalb ich ihn erneut verwirrt ansehe. "Sie kann sich zwar an nichts erinnern, aber sie haben sie untersucht, sie ist nicht... miss-missbraucht worden." sagt er mit zittriger Stimme. Mir fällt zwar ein Stein vom Herzen, aber trotzdem schrumpft dadurch meine Wut auf Simon nicht im geringsten. "Die prüde Alte ist einfach abgehauen, als ich 'nen Moment nicht aufgepasst habe..." sagt dieser daraufhin und sorgt damit dafür, dass mir die Sicherungen durchbrennen.
Ich reiße mich aus Harrys Griff und gehe ohne darüber nachzudenken, wie gering meine Chancen sind, auf Simon los.
Mit der Faust voraus stürze ich ihm entgegen, erwische ihn durch den Größenunterschied allerdings leider nicht ganz so präzise, wie ich will. Außerdem bin ich einfach zu lange aus dem Training, weshalb der Schlag wirklich beschissen ist. Zusätzlich scheint er leider damit gerechnet zu haben, dass ich auf ihn zuspringe, denn er reagiert so schnell, dass ich das Folgende nicht verhindern kann.
Und dann geht plötzlich alles ganz schnell.
Ein leises Knacken ist das Erste, was ich höre. Es folgt ein Schmerz, der alles, was ich bisher gespürt habe, zu übersteigen scheint. Es schnürt mir die Luft ab, meine Sicht verschwimmt und in binnen einer Sekunde verlässt mich jegliche Kontrolle über meinen Körper. Ein ekelhaftes Fiepen in meinem Gehörgang übertönt alles, sodass ich jegliche andere Geräusche nur noch dumpf wahrnehme. Ich strauchle ein paar Schritte zurück und werde von zwei starken Armen davon abgehalten, auf den Asphaltboden zu fallen. Mehrere Personen rufen panisch meinen Namen, doch ich kann kaum herausfiltern, wem die Stimmen gehören.
Die einzige, die ich bewusst wahrnehme, ist die von dem Körper hinter mir, der mich vorsichtig ablegt. Mein Rücken lehnt gegen etwas warmes, weiches, das mich festhält. "Louis? Louis, hörst du mich?" Schwach nicke ich. "Scheiße, Liam, seine Rippe!"
Liam? Liam ist hier?
Ich blinzle ein paar Mal, aber ich erkenne keine der Personen vor mir. "Ruf einen Krankenwagen, verdammt! Er bekommt keine Luft!" Die Verzweiflung in Harrys Stimme tut fast noch mehr weh, als das Stechen in meiner Brust. "H-Harr-Harry..." keuche ich und spüre daraufhin seine Hand an meiner Wange. "Ich bin hier, Lou, ich hab dich." flüstert er, doch ich höre seiner Stimme an, dass er gegen Tränen anzukämpfen scheint. Verschwommen kann ich sein Gesicht falschherum über mir erkennen, er scheint die Person zu sein, die mich festhält. "I-Ich... Luft, ich k-kann nicht a-at-atmen..." presse ich hervor. Ich höre ihn aufschluchzen, bevor er mir durchs Gesicht streichelt.
"Ich weiß, Boo, der Rettungswag... unterwegs, es... alles gut, hörst d-... Louis? Hey, Lou, bleib bei mir..."
Seine Stimme wird von Wort zu Wort dumpfer und mein Blickfeld verdunkelt sich plötzlich immer mehr. "Nein, bitte! Du musst wach blei..., L-Lou, bleib bei mir, ich- hör auf me.. Stimme, du b-bist doch so stark..." Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen und sehe, nur noch schemenhaft, die Umrisse von Harrys Gesicht, das meinem nun deutlich näher ist. "Ja, sieh mich an, Lou. Ich bin hier und ich weiß, dass du das schaffst, du bist doch-" Leise höre ich ihn schluchzen, bevor ich ganz leicht seine Lippen auf meiner Stirn spüre. "...du bist doch mein edler Ritter." Ein verzweifeltes, leises Schmunzeln verlässt seine Kehle. "Und edle Ritter gewinnen immer... immer."
Ich versuche zu nicken, aber auch nur die kleinste Bewegung schmerzt fürchterlich. Harry streichelt mir weiter beruhigend durchs Gesicht, als sich eine dominante, männliche Stimme in den Vordergrund schiebt. "Zur Seite, Alle zwei Meter zurück, wir brauchen Platz!" Jemand beugt sich zu mir runter und fragt mich, ob ich ihn hören kann. Auch diesmal klappt das mit dem Nicken nicht besonders gut und Reden kann ich auch nicht mehr. Gottseidank übernimmt Harry das für mich. Auch wenn ich davon nur noch Fetzen mitbekomme. "Er ist wach, aber reagiert kaum noch. Er ... keine Luft.... glaube seine Rippe... wieder gebrochen." Ich merke, wie etwas kaltes meinen Bauch berührt, reißenden Stoff, kurz darauf spüre ich Hände, die meine nackte Brust abtasten. "Wieder?" Die Person vor mir leuchtet mir mit etwas viel zu hellem in die Augen sodass ich kurzzeitig nur noch Sternchen sehe.
Nur am Rande bekomme ich mit, wie Harry ihm erzählt, dass sie bereits vor ein paar Wochen gebrochen war und ich in die gleiche Stelle einen Schlag bekommen habe. Ich selbst bin viel zu sehr damit beschäftigt, den Schmerz, der langsam wirklich fast unerträglich wird, zu verdrängen.
"In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?" höre ich den Sanitäter fragen, worauf Harry kurz überfordert zu stammeln beginnt. Ich will sagen, dass er zu mir gehört, sie ihn mit ins Krankenhaus nehmen sollen, dass ich ihn brauche - aber ich bekomme kein Wort heraus. Ganz langsam wird es immer dunkler.
"... können... nicht mitnehmen... brauchen den Platz hinten!" Eine andere Stimme.
Jemand greift nach meiner Hand. Irgendwas sagt mir, dass es Harry ist. "Aber ich-"
"...Kreislauf sackt zusammen... müssen.... ins Krankenhaus bringen!" Ein Rück, der mich leise winseln lässt, durchfährt meinen Körper, doch mit aller Kraft, die mir noch bleibt klammere ich mich an der Hand fest.
"Bitte, ich- lassen Sie mich mitfahren, ich kann nicht-" Das Klammern an meiner Hand wird immer stärker, während mein Griff von Sekunde zu Sekunde schwächer wird.
"Es tut mir Leid, wir können nicht-"
"Wir fahren hinterher, komm Harry!" Liam.
"Aber ich-" Ich höre ihn schluchzen, bevor ihm meine Hand entrissen wird. "L-Louis..."
Dann wird es dunkel.
____________________
1624 Words
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro