010
"Louis?"
Mit Stan zusammen will ich gerade aus dem Hörsaal gehen, als ich Harrys leise Stimme hinter mir höre. Ich drehe mich um und sehe ihn mit etwas unsicherem Blick vor mir stehen. "Kann ich mal kurz mit dir reden?" fragt er vorsichtig. "Klar." lächle ich ihn an. "Allein...?" fügt er dann mit Blick zu Stan, der noch immer neben mir steht, hinzu. "Oh, sorry... ich verstehe. Wir sehen uns beim Essen." sagt dieser schnell und verabschiedet sich in den Flur. Auch Harry deutet mir mit der Hand, ihm in den Flur zu folgen, wo er mich in eine ruhige Ecke zieht. Offenbar will er nicht, dass uns jemand zuhört.
"Was ist denn los?" frage ich und versuche, mir meine aufkommende Nervosität nicht anmerken zu lassen. "Warum machst du das?" Ich vermute, er redet von dem Frühstück, das ich ihm mitgebracht habe, aber ich entscheide mich dafür, mich doof zu stellen. "Was meinst du?" Er holt den leeren Kaffeebecher aus seinem Rucksack und hält ihn mir vors Gesicht. "Das." - "Hat es dir nicht geschmeckt?" frage ich scheinheilig. "Doch. Das waren meine Lieblingsdonuts und mein Lieblingstee." sagt er. "Ich habe keine Ahnung, warum du das weißt, weil es unmöglich ist, dass du das beides zufällig erraten hast, aber das ist nicht meine Frage. Warum machst du das?" wiederholt er sich. Ok, er wird nicht locker lassen, also komme ich wohl nicht drum herum, ihm meine Absicht zu erzählen. "Ich wollte dir einfach eine Freude machen." sage ich und ziehe meine Mundwinkel in die Höhe. "Okaaay..." Er mustert nachdenklich mein Gesicht. "Aber warum?" Ein kleiner Seufzer entfährt mir. "Harry, warum macht man jemandem eine Freude?" antworte ich mit einer Gegenfrage. "Sag du es mir." Ich muss grinsen. "Man macht jemandem eine Freude, damit er sich freut." erkläre ich ihm das offensichtliche Prinzip.
Entgeistert sieht er mich an, dann wandert sein Blick an mir vorbei und er presst die Lippen aufeinander. "Ok..." er atmet tief durch. "Ich frage das jetzt einfach grade raus... beziehungsweise... also..." - "Harry, was ist denn los?" sage ich ruhig und lege meine Hand an seinen Oberarm. Er sieht an die Stelle, an der ich ihn berühre und schluckt deutlich hörbar. Ich ziehe meine Hand langsam zurück, ich will nicht, dass er sich unwohl fühlt. "Also... eigentlich macht es keinen Sinn, weil naja, nur ich war fast nackt und du hattest was an, aber ich lag so nah an dir und ich weiß einfach nichts mehr von Freitagnacht..." er fummelt sich angespannt an den Fingern herum. "Harry..." flüstere ich, ohne zu wissen, was ich damit erreichen will, dann sieht er mich plötzlich direkt an und fragt mit zittriger Stimme "Louis, h-hatten wir Sex?"
Ich reiße die Augen genauso weit auf, wie den Mund. "W-Was?" Auf eine Antwort wartend starrt er mir in die Augen. "N-Nein... Harry, Nein!" Ich bin komplett überfordert. Ich habe mit Allem gerechnet, aber damit definitiv nicht. "W-Wie kommst du darauf?" frage ich. "Keine Ahnung, weil... ich weiß absolut nichts mehr und..." Die Verzweiflung steht ihm ins Gesicht geschrieben. "Harry, du warst extrem besoffen und nahezu unfähig, überhaupt zu interagieren. Traust du mir ernsthaft zu, ich würde dich vergewaltigen?!" Erschrocken sieht er mich an und sagt schnell "Nein, ich hatte nur Angst, ich hät-..." er beißt sich auf die Lippe und schließt die Augen. Ich mustere sein Gesicht, versuche zu erkennen, was er denkt.
Moment, wollte er mir gerade sagen, er hatte Angst, ER hätte die Initiative ergriffen? Aber das würde ja bedeuten... Ist er etwas doch schwul?
"Du dachtest, du hättest von dir aus...?" flüstere ich. Er lässt unruhig atmend den Kopf hängen. Plötzlich kommt mir der Kuss wieder in den Kopf. Verdammt, ja. Er hat von sich aus die Initiative ergriffen. Aber ich weiß noch immer nicht, wieso. Einen Moment überlege ich, ihm davon zu erzählen, denn eigentlich will ich ihm nichts vorenthalten, aber so unwohl wie er sich gerade zu fühlen scheint, bin ich mir absolut nicht sicher. "Mal abgesehen davon, dass du nichts mehr davon weißt... wäre es denn schlimm gewesen, wenn doch etwas passiert wäre?" frage ich vorsichtig. "W-Was?!" stammelt er, während er mich wieder mit seinem Blick mustert. "Naja, also... nicht wegen mir persönlich, aber... wäre es denn schlimm für dich, wenn du mit einem Mann intim geworden wärst?"
Sein ganzer Körper spannt sich an und er drückt sich gegen den Spint hinter sich. "Wieso... Warum fragst du sowas?" Er nimmt wieder seine abweisende Haltung ein, doch ich will nicht, dass er seine Wände wieder aufbaut. "Hey..." sage ich sanft. "Ich will dich nicht angreifen, Harry, ok?" Er sieht auf die Hand, die ich vorsichtig nach ihm ausstrecke, ohne ihn zu berühren. "Ich weiß, wie schwer dir fallen muss, dass zu glauben mit all diesen Arschlöchern die dich immer wieder versuchen klein zu machen. Aber ich bin nicht so. Wirklich nicht. Warum sollte ICH dich auch mit dieser Frage angreifen oder bloßstellen wollen, das würde ja überhaupt keinen Sinn ergeben." Er zieht eine Augenbraue in die Höhe. "Warum würde das keinen Sinn ergeben?"
"Ähm... weil ich schwul bin?" Seine Bewegung friert ein und er starrt mich emotionslos an. "Du-...?"
Oh... fuck, ich dachte, das wäre ihm bewusst? Anderseits: Woher sollte er das wissen? Ich habe das nie gesagt und wenn er nicht gerade danach fragt, gibt es ja auch keinen Grund für Niall, ihm das zu erzählen.
"...Ich dachte irgendwie, das wüsstest du. Tschuldigung..." murmle ich. Unruhig huschen seine Augen zwischen mir und dem Gang hinter mir hin und her. Ich kann die vielen Gedanken in seinem Kopf nahezu umherfliegen sehen und ich wüsste so gerne, was sie beinhalten. Obwohl ich doch eigentlich bereits mit meinen eigenen Gedanken überfordert genug sein sollte.
Verdammt, habe ich ihn damit gerade komplett vergrault? Aber was hätte ich anders machen sollen? Ich kann ja nicht verleugnen, wer ich bin... Ich kann und will nicht glauben, dass er homophob ist. Ich meine, er hat mich geküsst. Ja, er war besoffen, aber... wenn man wirklich, tief verwurzelt homophob ist, würde man sowas doch nie tun, oder?
"Ich..." stammelt er, fixiert einen Punkt links neben mir. "... du musst dich nicht entschuldigen... Ich..." er scheint komplett durch den Wind zu sein und das diese Info daran Schuld zu sein scheint, beunruhigt mich mehr, als es sollte. "Ich... tut mir leid, ich... ich muss los..." murmelt er und will sich an mir vorbei schieben, doch ich halte ihn vorsichtig am Arm fest. "Harry, ich wollte dich nicht überfordern, es tut mir Leid..." flüstere ich. "Ich..." er sieht mich mit traurigen, verzweifelten Augen an. "Ich melde mich, ok?" wispert er, bevor er seinen Arm wegzieht, ich ihn loslasse und er schnellen Schrittes zur nächsten Tür läuft.
Er... er meldet sich? Hat er gerade gesagt, er meldet sich bei mir? Aber das würde ja bedeuten, er wehrt sich nicht mehr gegen mich?
Wahnsinnig verwirrt durch die ganzen Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, stehe ich bewegungslos da und starre ins Leere, bis mich ein Typ von der Seite anspricht. "Alles gut bei dir, Bro?" fragt er und wedelt mir mit der Hand vorm Gesicht herum. Aus der Starre gerissen sehe ich ihn an und stammle "J-Ja, alles gut..." - "Okay... dachte kurz du hättest irgendeinen Anfall oder so, du standest hier so voll lange rum wie sone Statur..." sagt er mit hochgezogener Augenbraue. "Sorry, ich war kurz in Gedanken." - "Ah..." sagt er desinteressiert, dreht sich dann weg und geht weiter.
Noch immer etwas durcheinander mache ich mich auf den Weg in die Cafeteria. All die Dinge, die Harry gesagt hat werfen mich komplett aus der Bahn.
Er dachte, er hätte mich angemacht.
Er ist plötzlich extrem nachdenklich, nachdem er weiß, dass ich schwul bin.
Er will sich bei mir melden.
Ich versuche so sehr dagegen anzukämpfen, aber der Gedanke, er könnte mich eventuell auf diese Art mögen, ist so stark, dass mein Herz nicht mehr aufhört wie wild zu klopfen. Ich will das nicht. Ich will mich nicht in etwas hereinsteigern, was ich nicht sicher weiß. Vor allem nicht, weil ich mir eingestehen muss, dass ich selbst etwas intensivere Gefühle für ihn hege, als mir lieb ist.
In der Cafeteria angekommen winkt mich Liam zu sich, Niall und Stan an den Tisch. Da er außer mir noch kaum jemanden hier kennt, habe ich ihn vor ein paar Tagen das erste Mal mit zu uns an den Tisch genommen und die beiden fanden ihn auf Anhieb sympathisch. Ich bin froh, dass er nun nicht mehr alleine essen muss, ich kann es einfach nicht sehen, wenn jemand einsam wirkt.
Kurz lasse ich meinen Blick durch die Mensa schweifen, doch Harry ist nirgendwo zu sehen. So aufgewühlt wie er gerade war, wundert es mich allerdings nicht, dass er lieber seine Ruhe haben will. Trotzdem bin ich etwas geknickt, als ich zu den anderen an den Tisch komme. "Was ziehst du denn für'n Gesicht?" fragt Niall mit besorgtem Blick. "Alles gut, sorry... ich war nur kurz in Gedanken." murmle ich und schiebe ein künstliches Lächeln hinterher. Ich merke Stan's neugierigen Blick auf mir, doch ich versuche ihn zu ignorieren. Es ist schlimm genug, dass er weiß mit wem ich gesprochen habe und das er sieht, wie sehr mich das gerade durcheinander bringt. Zu meinem Glück sagt er allerdings nichts dazu, sondern isst nach kurzer Zeit ruhig weiter.
"Willst du gar nichts Essen?" fragt Niall, während er sich eine Hand voll Pommes in den Mund schiebt. "Ich habe irgendwie keinen Hunger..." sage ich mit dem gleichen falschen Lächeln wie eben. "Ich weiß gar nicht, wie man keinen Hunger haben kann." erwidert er schmatzend, weshalb ich lachen muss. "Das DU dir das nicht vorstellen kannst, wundert mich nicht." - "Was soll das denn heißen?" Immer noch mit vollem Mund zieht er die Augenbrauen in die Höhe. "Ach, garnichts..." grinse ich, woraufhin die anderen beiden zu Lachen beginnen.
Später am Tag, als ich gerade zum Ausgang der Bibliothek gehe, sehe ich Harry vorn am Tresen stehen. Einen Moment bleibe ich am Ende des Ganges stehen, aus dem ich komme und sehe zu ihm rüber. Wie immer wirkt er wahnsinnig freundlich, während er mit der Dame am Schalter redet und sich mit leichtem Lächeln bedankt. Ich wäre beruhigt, dass es ihm besser zu gehen scheint, würden mir nicht im selben Moment seine Hände auffallen.
Er zittert.
Obwohl er sie dauerhaft in Bewegung hat (Ich kenne diese Taktik von unserem Nachbarn in Doncaster, der seit ein paar Jahren an Parkinson leidet und so versucht, es zu verstecken), sehe ich es ganz deutlich als er sich eine Haarsträhne hinters Ohr schiebt. Die Bewegung ist zu gering und sein Zittern zu stark, um es zu leugnen.
Er schiebt sich die Hände nun in die Jackentasche, wünscht der Dame einen schönen Tag und verschwindet kurz darauf zur Tür hinaus.
Nein, Louis. Lass ihm die Zeit die er braucht. Wenn er deine Hilfe will, dann meldet er sich.
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Aber was, wenn nicht? Was, wenn er dir keine Last sein will und alles in sich hinein frisst anstatt sich jemandem anzuvertrauen?
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Du hast ihm schon einmal eine Entscheidung abgenommen und seine Ansprache damals tat höllisch weh, geh nicht das Risiko ein, ihn komplett zu verlieren!
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Aber ihn einfach mit einer unterdrückten Panikattacke durch die Welt rennen lassen ist doch keine Lösung... er braucht doch jemanden, der ihm Halt gibt.
Genervt von meinem eigenen inneren Konflikt seufze ich laut auf, woraufhin ich von der Bibliotheksdame, vor der ich mittlerweile stehe, irritiert angesehen werde. "Tschuldigung..." murmle ich, greife schnell nach dem Buch und meiner Mitgliedskarte und verschwinde schnellen Schrittes aus dem riesigen Raum, der so angenehm nach Pergament riecht. Draußen angekommen, halte ich nach ihm Ausschau, kann ihn allerdings nirgendwo entdecken.
Er will allein sein, es ist so offensichtlich, Louis.
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Ja, aber er sollte nicht alleine sein.
Verdammt, ich kann quasi Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern streiten hören. Ich drehe die Musik auf meinen Kopfhörern lauter, in der Hoffnung, meine Gedanken dann nicht mehr hören zu müssen.
Auch wenn kurz meine Hoffnung aufkeimt, dort wieder auf Harry zu treffen, mache ich mich auf den Weg zu Nialls Wohnheimzimmer, der vorhin in der Cafeteria seine Jacke hat liegen lassen. Ich habe ihm versprochen sie ihm nach dem Lernen noch schnell vorbei zu bringen.
Auf dem Weg dorthin komme ich an der unschönen Ecke mit den Mülltonnen vorbei, an der Harry mich damals angeschrien hat. Noch immer bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich hier lang muss und ich fürchte, dass wird auch nie wieder verschwinden.
Gerade, als ich auf den Schotterweg, der die einzelnen Wohnheimgebäude miteinander verbindet, einbiegen will, rollt mir eine leere Coladose vor die Füße. Ich sehe mich um, kann aber niemanden entdecken, der dafür verantwortlich sein könnte, dass sie sich bewegt. Ich will die Dose gerade aufheben, damit sie nicht mitten auf den Weg liegen bleibt und nehme dabei einen Kopfhörer heraus, weil mir kurz etwas mulmig wird, als ich in meiner Bewegung erschrocken einfriere.
Ich höre schnelles, unregelmäßiges Atmen zwischen den Glascontainern neben mir, ein leises Klimpern von Metall an Metall, dann ein dumpfes Aufprallgeräusch.
"Hallo?" rufe ich, traue mich allerdings nur zögerlich näher an die Mülltonnen heran. Es könnte genauso gut eine Falle sein, ich bin komplett allein und ich habe noch immer Angst, dass mir Simon und seine Jungs etwas 'Respekt beibringen wollen'. Vorsichtig sehe ich um die Häuserecke, von wo ich die hektische Atmung vermute.
Meine Angst, verprügelt zu werden, verpufft allerdings schlagartig als ich in 2 panische, grüne Augen blicke.
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2238 Words
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