006
9 Tage. 9 Tage sind nun vergangen. 9 Tage, seitdem er komplett aufgelöst in meinen Arm lag. 9 Tage, in denen sich Harry mit jedem Blick tiefer in mein Herz geschlichen hat.
Es ist so bescheuert. Ich kenne diesen Jungen überhaupt nicht und trotzdem kann ich nicht aufhören, über ihn nachzudenken. Immer wieder habe ich seinen Blick auf mir gespürt und immer seltener hat er weggesehen, wenn ich zurückgeschaut habe. Einmal meine ich sogar, eine kleines Lächeln gesehen zu haben, als ich mich getraut habe, ihm eins zu schenken. Ich hatte die Hoffnung, dass es funktioniert, einfach weil ich so gerne noch einmal dieses niedliche Grübchen sehen wollte. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber es war da.
Wieder merke ich, dass er quer durch den Park zu mir rüber sieht. Ich blicke hoch und grinse ihn demonstrativ breit an, weshalb er erschrocken den Kopf senkt und wieder in sein kleines, schwarzes Büchlein blickt, dass er immer dabei hat. Ich muss schmunzeln, denn seine Reaktion ist echt irgendwie niedlich. Auch frage ich mich aber, was er wohl dort herein schreibt. Ob es wie ein Tagebuch ist oder vielleicht ein Notizbuch, wo er Ideen drin verewigt?
Langsam komme ich mir allerdings vor wie in einem kitschigen Hollywoodstreifen, in dem sich 2 Leute ständig von weitem anstarren und man als Zuschauer irgendwann denkt 'Jetzt sprich ihn doch endlich an, zur Hölle!' Nur, dass das hier keine Romanze ist, sondern das echte Leben und Harry und mich etwas verbindet, was weniger romantisch ist.
Trotzdem entscheide ich mich in diesem Moment dazu, ihn anzusprechen, denn so kann das auf Dauer nicht weiter gehen. Ich muss mit ihm reden, sonst wird dieses Chaos in meinem Kopf nie geordneter werden.
Als ich gerade aufstehe, sehe ich allerdings, wie 4 Typen auf ihn zugehen, die mir leider viel zu bekannt vorkommen. Diesmal ist Simon ebenfalls dabei und steigt direkt mit einer 'netten' Begrüßung ein. "Ach guck mal einer an, wen haben wir denn da..." sagt er mit sarkastischem Unterton. "Lass mich doch einfach in Ruhe Simon, wird das nicht auf Dauer langweilig?" entgegnet Harry, sieht dabei aber unsicherer aus, als er klingt. "Nö, eigentlich... eigentlich nicht. Ich find's immer wieder amüsant, dein ängstliches Gesicht zu sehen, Prinzessin." lacht er dreckig und klimpert überheblich mit den Wimpern. Er tritt ihm gegen seine halbhohen Stiefel, als wäre er Müll, der auf dem Boden liegt, und stellt sich dicht vor ihn, sieht von oben auf ihn herab. Harry steht daraufhin auf, sodass sein Gesicht knapp unterhalb von Simons ist.
Ich gehe ein paar Schritte näher ran, ich habe Angst, dass er ihn körperlich angreift, wenn Harry eine falsche Bewegung macht und ich bin bereit, dazwischen zu gehen - egal, wie lebensmüde das mit meiner nur notdürftig verheilten Rippe ist. Ich würde mir 3 weitere brechen lassen, wenn Harry dadurch unversehrt bleibt.
Wow, habe ich das gerade wirklich gedacht?
"Was schreibst du eigentlich immer in dein hässliches, kleines Buch da? Liebesbrief an Grace?" sagt Simon mit breitem Grinsen, so laut, dass jeder im Park ihn verstehen kann. "Lass sie daraus." zischt Harry wütend und wenn Blicke dazu fähig wären, würde Simon jetzt tot umfallen. Dieser versucht stattdessen nach dem Buch in Harrys Hand zu greifen, doch der schafft es, es rechtzeitig zur Seite zu ziehen und dann sicher in seinem Rucksack zu verstauen, den er mit beiden Händen fest umklammert. "Warum?" fragt Simon dann. "Denkst du, sie kommt sonst um sich für dich mit mir zu prügeln? Oh warte, nein. Das kann sie ja gar nicht mehr." Selbstgefällig grinst er ihn an und legt den Kopf etwas schief.
Ich sehe wie Harrys Atmung unruhig wird und auch ich bin kurz davor, ihm von hinten meine leere Glasflasche überzuziehen. Wie kann man so respektlos und absolut ekelhaft sein? Es ist eine Sache, einen Menschen grundlos nieder zu machen, der vor einem steht. Aber nicht mal davor Halt zu machen, eine tote Person in den Dreck zu ziehen, ist das Widerwärtigste, was ich je erlebt habe. Ich koche vor Wut, aber Harrys Blick, der mich gerade an Simon vorbei trifft, hält mich davon ab, ihm von hinten die stumpfe Bastelschere meiner Schwestern in den Rücken zu rammen, die versehentlich beim letzten Heimatbesuch in meinem Rucksack gelandet ist.
Simon merkt allerdings ebenfalls, dass Harrys Aufmerksamkeit nicht mehr ihm allein gilt, weshalb er sich zu mir umdreht. Mit kurzem Nicken zu seinen Kumpels scheint er sich zu versichern, dass ich derjenige bin, der beim letzten Mal dazwischen gegangen ist. "Ooooch, wie schön, schau mal, dein edler Ritter ist ja auch da!" sagt er übertrieben freundlich. "Er ist nicht mein edler Ritter." faucht Harry genervt und wirft mir einen emotionslosen Blick zu, bevor er die Situation nutzt, sich umdreht und verschwindet. "Oh, oh... da hängt aber der Haussegen gewaltig schief, pass auf, dass er dich nicht auch umbringt, mit Ablehnung kann er nicht so gut umgehen."
Umbringen? Hat er gerade wirklich behauptet, Harry hätte Grace umgebracht?
Auch wenn mich Simons Worte komplett verwirren, ignoriere ich ihn und folge stattdessen Harry, der schnell in Richtung Parkplatz läuft. "Ja, genau, geh ihm besser schnell einen Blasen, vielleicht hat er dich dann wieder lieb, Schwuchtel." ruft er mir hinterher, weshalb ich mich doch entscheide, mich noch einmal umzudrehen. "Sag mal ist dein eigenes Leben wirklich SO langweilig, dass du dich in das von anderen Menschen einmischen musst, Simon? Ganz ehrlich, du tust mir wirklich, aufrichtig Leid." sage ich, drehe mich wieder um und folge Harry, der offensichtlich kurz langsamer geworden war, um zu hören was ich sage, denn er ist nicht viel weiter gekommen.
Ich höre Simon nichts erwidern, weshalb ich vermute, dass meine Aussage gesessen hat. Ich bin mir sicher, dass ich dafür bezahlen werde, ihn vor all den Leuten so bloßgestellt zu haben und mir ist bewusst, wie dämlich das war, aber ich kann mich einfach nicht zurückhalten, wenn ich solchen widerwärtigen Menschen gegenüber stehe. Eventuell sollte ich vorerst, solange ich mich nicht so verteidigen kann, wie sonst, besser in Liams Nähe bleiben. Ich will zwar eigentlich nicht, dass er mich verteidigen muss, aber wenn Simon und seine Crew auf mich losgeht, bin ich nicht sicher, ob ich das sonst überlebe.
"Harry, bitte warte doch..." rufe ich, während ich versuche ihn einzuholen. Obwohl ich die Dosis bereits etwas runterschrauben konnte, merke ich bei dieser Anstrengung schon noch, das meine Rippe noch nicht wirklich wieder intakt ist. "Lass mich in Ruhe, Louis." brummt er, doch ich schaffe es mit einem kurzen Sprint ihn einzuholen. Mir ist egal, wie schmerzhaft mein Herz dadurch von innen gegen meinen Brustkorb zu hämmern scheint. "Harry, bitte. Wir müssen darüber reden..." sage ich leise. Wir sind in der Nähe der Mülltonnen gelandet, wo sich aufgrund der eher ungemütlichen Atmosphäre ungern Leute aufhalten, weshalb wir tatsächlich alleine sind.
"Ich muss gar nichts, Louis." will er mich abwimmeln und verschwinden, doch ich stelle mich vor ihn und halte ihn am Arm fest. "Doch, Harry. Das was auf dem Dach passiert ist, geht uns beide an, ich kann seitdem nicht mehr schlafen, ok?" sage ich, woraufhin er mich abwertend ansieht. "Das hast du dir selbst ausgesucht, Louis. Hättest du mich einfach springen lassen, müsstest du jetzt nicht mit gebrochener Rippe und schlechtem Gewissen leben." Ich starre ihn mit weit aufgerissenen Augen an. "Ich... Harry, ich habe kein schlechtes Gewissen! Ich mache mir Sorgen. Ich will dich nicht beschuldigen, dass du mich in eine scheiß Situation gebracht hast, ich... ich will dir helfen." sage ich und werde dabei immer leiser und ruhiger, gehe eine Schritt auf ihn zu. Doch er macht daraufhin 2 zurück und sagt laut und bestimmt "Ich dachte ich hätte mich letzte Woche klar ausgedrückt. Ich will deine Hilfe nicht."
Ich atme tief durch. Ich wusste, dass er mich nun nicht plötzlich mit offenen Armen empfängt. "Warum siehst du mich dann ständig an?" frage ich mit ruhiger Stimme. "Ich..." Es ist offensichtlich, dass ihm dafür kurz eine passende Antwort fehlt, dann sagt er allerdings nervös "Ich darf ja wohl hinsehen wo ich will, außerdem starrst du mich doch selbst ständig an!" - "Ja, das tue ich. Weil ich mich frage, was in deinem Kopf vorgeht." gebe ich zu. Kurz sieht er mich an, ich kann seinen Blick allerdings nicht deuten. "...und das wird auch so bleiben. Du hast keine Ahnung, wer ich bin, Louis. Du weißt nicht, was in mir vorgeht, du weißt gar nichts!" Seine Stimme wird plötzlich hysterisch. "Denkst du, es wäre auf einmal alles wieder gut, weil du mir das Leben gerettet hast? Ein Scheiß ist wieder gut, Louis! Ich fühle nicht einfach anders, alles ist genauso scheiße wie vorher und ich will noch immer nicht hier sein, hier in diesem Scheißleben! Nichts ist anders, ok? NICHTS!" Er ist auf einmal so laut und aggressiv, ich hätte nicht mal gedacht, dass er so sauer werden kann.
"Doch. I-Ich bin jetzt da." murmle ich, ohne zu wissen, was ich mir davon erhoffe. Ich weiß, dass ihm das nicht plötzlich zu der Erkenntnis verhelfen wird, dass ich der Lebensmut bin, den er sucht. Nie hätte ich allerdings damit gerechnet, was er mit dann schonungslos an den Kopf wirft.
"Ja, stimmt! Du hast Recht! Du bist jetzt da." Er verzieht das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen, bevor es plötzlich ernst wird. "Du bist jetzt da, mein Held! Anstatt tot zu sein und meinen Frieden zu haben, muss ich dir jetzt dankbar dafür sein, dass du mir das Leben gerettet hast, weil mich sonst ein schlechtes Gewissen plagt, wenn ich es nicht bin. Ich MUSS dir dankbar dafür sein, dabei sträubt sich Alles in mir dagegen!" Sprachlos stehe ich da und bin absolut unfähig mich zu rühren. Ich öffne meinen Mund, ohne zu wissen, was ich sagen will, doch er ist noch nicht fertig.
"Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass ich gar nicht gerettet werden wollte, Louis?! Ich wollte - und will immer noch - nicht mehr leben. Es gibt nichts was mich noch auf dieser Erde hält. Die einzige Person, die mich je verstanden hat, ist tot, von zuhause bin ich weggerannt, als ich 14 war und wie beliebt ich hier bin, hast du ja selbst gesehen. Niemand würde mich vermissen, was soll ich also noch hier?" wirft er mir entgegen. Sofort schüttle ich den Kopf "Das stimmt nicht." sage ich mit zittriger Stimme. Wieder lacht er verzweifelt auf. "Oh Gott, jetzt komm mir bitte nicht mit 'Aber ich würde dich vermissen', Louis... Du kennst mich überhaupt nicht, du sagst das nur, weil du das Pech hattest, derjenige da oben gewesen zu sein, der mir das Leben retten musste. Weil, das muss man ja, wenn man sowas mitbekommt, sonst macht man sich das ganze Leben lang Vorwürfe, denkt, man hätte ein Leben auf dem Gewissen. Aber das ist eine Lüge, Louis. Es war meine Entscheidung, mein Leben zu beenden. Meine ganz allein, denn es ist MEIN Leben. Aber du hast mir diese Entscheidung abgenommen. Und das, obwohl du doch selbst angeblich der Meinung bist, das niemand Fremdes über das Leben einer anderen Person entscheiden darf. Warum handelst du dann nicht selbst danach, hmn?"
Ich versuche die Tränen zurück zu halten, die sich langsam den Weg in meine Augen bahnen und verschränke meine Hände, um das Zittern zu unterdrücken. Komplett überfordert sehe ich ihn an und habe absolut keine Ahnung, was ich antworten soll.
Denn er hat Recht, so weh es mir auch tut, das zuzugeben. Ich habe ihm die Entscheidung über sein eigenes Leben abgenommen. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, was ihn dazu bewegt hat, sich das Leben nehmen zu wollen. Wahrscheinlich hat er auch Recht damit, das ich in dem Moment aus Reflex gehandelt habe, weil mir unterbewusst klar war, dass ich an der Gewissheit, einen Selbstmord nicht verhindert zu haben, wenn ich gekonnt hätte, kaputt gegangen wäre.
Aber ich weiß einfach, tief in mir, dass ich nicht aus schlechtem Gewissen hier stehe und um ihn und sein Leben kämpfe. Oder weil ich 'muss'. Ich weiß nicht, was dieser Mann mit mir gemacht hat, aber ich will einfach, dass der Lebenswille wieder zurückkehrt, sonst werde auch ich nie wieder glücklich werden. Ich kann es nicht beschreiben, dieses Gefühl. Es ist einfach da.
"Verschwende nicht deine Zeit damit, mich retten zu wollen, Louis. Das haben schon Andere vor dir versucht und auch du wirst es nicht schaffen. Glaub mir." Seine Stimme ist weitaus ruhiger als zuvor und es tut weh, wie sicher er bei dieser Aussage klingt.
"Du kennst mich schlecht, Harry." Er sieht mich irritiert an. "Weißt du, was der Unterschied zwischen mir und den Anderen ist?" Fragend zieht er die Augenbraue hoch. "Ich werde dich nicht aufgeben." Verächtlich rümpft er die Nase, stößt abschätzig Luft aus und dreht kopfschüttelnd den Blick ab.
"Niemals, Harry."
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2118 Words
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