004
Reflexartig lasse ich den Hoodie fallen und starre Harry durch den Spiegel an. Wie angewurzelt steht er in der offenen Tür der Toilettenkabine. Sein Blick klebt noch immer auf Höhe meiner Rippen fest. Schockiert hält er sich die Hand vors Gesicht und es dauert einen Moment, bis er zu mir hoch sieht. Sein Ausdruck ist schmerzverzehrter als meiner, mit dem Unterschied, dass es bei ihm kein physischer Schmerz zu sein scheint.
"D-Das ist meine Sch-Schuld..." stammelt er und kommt einen Schritt näher. Sofort schüttle ich den Kopf. "Quatsch nein, das war ich! Ich hab meine Kraft unterschätzt." Er scheint mir allerdings gar nicht zuzuhören, greift stattdessen vorsichtig nach dem Saum meines Hoodies und will ihn erneut nach oben ziehen. Ich lege meinen Arm darüber, um ihn daran zu hindern. Ich will nicht, dass er sich auch noch die Schuld an meinen Verletzungen gibt, doch er schiebt meinen Arm behutsam, aber bestimmt zur Seite und sieht mich bittend an, weshalb ich letztendlich nachgebe. Mit gesenktem Blick lasse ich zu, dass er mir den Pulli bis zur Brust hochschiebt und daraufhin leise besorgt Luft einzieht.
Ganz leicht fährt er mit seinen warmen, weichen Fingern über die blutunterlaufene Haut, bis er plötzlich auf Höhe meiner gebrochenen Rippe ankommt und ich unwillkürlich zusammenzucke. Er zieht erschrocken die Hand zurück und sieht mich traurig an. Ich hebe den Kopf und kann so unser Spiegelbild sehen. Dadurch dass er mit einer Hand den Hoodie festhält und mich mit der anderen gerade noch berührt hat, steht er wahnsinnig nah und ich kann seinen unruhigen Atem auf meinen Gesicht spüren.
Wie unfassbar gut er riecht...
"Ich-... Ich hab dir w-wehgetan..." Er entfernt sich wieder einen Schritt von mir, als hätte er Angst, mir noch mehr Schmerz zuzufügen. Schnell schiebe ich meinen Pulli wieder herunter und drehe mich zu ihm um. Es haben sich Tränen gebildet und er sieht mich mit seinen großen grünen Augen an, wie ein verschrecktes Reh. Ich schüttle langsam den Kopf und greife nach seinen Händen, doch er zieht sie weg. "Immer tue ich allen Menschen weh..." flüstert er und geht noch einen weiteren Schritt zurück, wodurch er vor den Türrahmen der Toilettenkabine stößt. Perplex sieht er hinter sich, dann wieder zu mir.
"Du hast mir nicht wehgetan, Harry, hörst du? Das war allein meine Schuld, ich bin über meine eigenen Füße gestolpert und konnte uns dann nicht mehr abfangen." versuche ich ihn zu beruhigen, auch wenn das nicht komplett der Wahrheit entspricht. Aber das ist gerade egal, ich will nur, dass er sich nicht schuldig fühlt.
Doch all meine Bemühungen scheinen hoffnungslos, denn er wirkt so aufgelöst und abwesend, dass er mir gar nicht wirklich zuhört.
"Warum musst du immer... j-jeder Person, die du magst, weht-tun, du Monster..." Kopfschüttelnd murmelt er vor sich hin, geht immer weiter zurück. Sein Blick geht dabei ins Leere, neben mir auf den Boden, seine Hände so fest zu Fäusten geballt, dass seine Knöchel weiß hervortreten.
Jeder Person, die er mag? Harry mag mich?
"Harry, es ist alles gut, bitte glaub mir doch. Du bist nicht Schuld!" versuche ich es noch einmal ganz ruhig und gehe ihm vorsichtig 2 Schritte entgegen. Als würde ihm jetzt erst wieder bewusst, dass ich da bin, schnellen seine verängstigten Augen zu mir hoch. Er sieht so gebrochen aus, so verletzt, dass ich ihn am liebsten in meine Arme schließen und nie wieder loslassen möchte. "Vertrau mir, Harry. Bitte. Ich will dir nur helfen." flüstere ich und bleibe, wo ich bin, um ihn nicht einzuengen.
Augenblicklich verengt sich sein Blick und sein Körper spannt sich an. "Ich will keine Hilfe." zischt er und ich erschrecken mich, wie gefestigt seine Stimme schlagartig klingt.
"Harry..." flüstere ich, doch ich habe ihn schon verloren. Seine hohen Wände sind schlagartig vollständig wieder aufgebaut, keine Chance zu ihm durchzudringen.
Sein Blick ist wieder kalt, distanziert, auch wenn ich mir einrede, für eine Zehntelsekunde Enttäuschung darin zu erkennen. Ohne ein weiteres Wort dreht er den Kopf weg und verschwindet schnellen Schrittes zur Tür hinaus. Kurz überlege ich, ihm zu folgen, aber mir wird bewusst, dass es sinnlos ist. Er wird nicht mit mir reden. Mir war klar, dass er sich nicht einfach so öffnen wird, aber ich fürchte, das wird noch schwieriger werden, als ich dachte. Ich muss mir irgendwas einfallen lassen, eine Art, zu ihm durchzudringen...
Aus der Verzweiflung heraus kommt der Boxer in mir durch und ich schlage mit voller Wucht gegen die Kabinentür, die daraufhin mit lautem Knall gegen die Innenwand kracht. Schlagartig durchfährt mich ein so heftiger Schmerz, dass ich mir die Hand vor den Mund halten muss, um nicht laut aufzuschreien.
Shit, ich muss mir die nächsten Wochen echt angewöhnen, mich zu kontrollieren, sonst kriege ich noch richtig Spaß mit dieser Drecksrippe...
Ich schließe einen Moment die Augen, lege meine Hand an meinen demolierten Brustkorb und konzentriere mich auf meine Atmung, während der Schmerz ganz langsam etwas abebbt. Als ich sie wieder öffne, sehe ich mich im Spiegel an, atme schwer aus und greife nach dem Blister in meiner Hosentasche. Ich habe erst heute Nachmittag wieder eine Vorlesung, zwischendurch ist es mir egal, ob mich die Tabletten zum Zombie machen. Ich will, dass dieser Schmerz aufhört, alles Andere ist mir gerade egal.
Ich nehme mir noch einen Moment, um mich zu sammeln, dann trete ich wieder raus auf den Flur, wo es noch immer von Menschen wimmelt. Alle reden wild durcheinander und die plötzliche, laute Geräuschkulisse überfordert mich so sehr, dass ich meine Kopfhörer heraushole, die Musik auf volle Lautstärke drehe und mich schnell auf den Weg nach draußen mache. Die Sonne ist rausgekommen und mir wird in meinem Hoodie schlagartig viel zu warm. Ich habe allerdings keine Lust auf neugierige Blicke, weshalb ich sogar die Ärmel unten lasse, um den Verband an meinem Arm versteckt zu halten.
Ich suche mir einen ruhigen, schattigen Platz unter der alten Eiche im Unipark und mache etwas die Augen zu. Die letzten 24h haben mich emotional wie körperlich so ausgelaugt, dass ich in kürzester Zeit erschöpft wegdöse. Erst das Vibrieren des Handys in meiner Hosentasche lässt mich wieder die Augen öffnen. Angestrengt blinzle ich gegen die helle Sonne und ziehe es hervor. Liam ruft mich an. Ich reibe mir kurz durchs Gesicht, bevor ich abnehme.
"Hey, alles gut? Wo springst du rum? Ich dachte du kämst zum Essen zwischendurch nach Hause?" Ich reibe mir die Schläfen und kneife noch einmal die Augen zusammen. "Ach shit, ja... das hab ich voll vergessen, tut mir Leid! Ich komme sofort..." murmle ich und richte mich langsam auf. Diesmal denke ich dran, dass ich nicht ganz intakt bin... "Wo bist du denn?" fragt Liam noch einmal nach. "Ich war so müde und ich glaube die Schmerztabletten haben mich etwas ausgenockt, ich bin im Unipark eingeschlafen." erkläre ich ihm, als ich mich gequält nach meinem Rucksack strecke. "Ach herrje... Dann komm mal schnell nach Hause, ich mach dir das Essen nochmal warm und du ruhst dich noch etwas aus."
Es ist echt irgendwie süß, wie er sich um mich sorgt und kümmert. So Macho-mäßig er auch aussehen mag, mit seinem bulligen Körperbau, den perfekt frisierten Haaren und Bartpartie und den Ketten um den Hals, tief im Innern ist er ein kleines, niedliches Hundebaby, was am liebsten den ganzen Tag kuscheln will. Er würde das niemals zugeben, aber das muss er auch gar nicht. Ich kenne ihn mittlerweile gut genug und wie er sich gerade verhält, spricht definitiv dafür. Ich hoffe nur, dass es irgendwann ein Mädchen schafft, die harte Hülle zu durchbrechen und den Weg in sein Herz findet. Ich bin mir sicher, er macht sie zur glücklichsten Frau auf diesem Planeten.
"Möchtest du noch Tee?" Liam steht mit aufmerksamen Blick vor mir und wartet auf meine Reaktion.
Hundebaby, sag ich ja...
"Danke, Li. Es ist wirklich süß, dass du dich so kümmerst, aber ich hab Alles, wirklich. Danke." Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln, womit er sich fürs Erste zufrieden gibt und neben mir auf dem Sofa niederlässt. "Bist du sicher, dass du noch zu 'Sportpsychologische Diagnostik' willst? Der Stoff der ersten Vorlesung ist echt nicht so heavy und ich kann dir gerne helfen, das kriegst du easy aufgeholt..." Liam studiert ebenfalls Sportwissenschaften, wie ich im zweiten Schwerpunkt. Anders würde es bei ihm allerdings auch keinen Sinn ergeben. Ein Blick reicht, um zu sehen, dass er für den Sport lebt. Dadurch, dass er schon ein Semester weiter ist als ich, hat er mir direkt zum Einzug angeboten, mir zu helfen, wenn ich mal irgendwo hänge. Ich kann mir vorstellen, dass das noch nützlich werden könnte.
"Ja ich bin sicher, ich gehe hin." sage ich trotzdem. "Ich weiß, du meinst es nur gut, aber der Arzt hat selbst gesagt, ich soll mich nicht nur schonen. Ich will so schnell wie möglich wieder fit werden." Seufzend sieht er mich an. "Ja, Louis. Du musst aufpassen, dass du nicht einrostest, aber der Bruch ist nicht mal 24h alt. Dein ganzer Körper steht unter Stress, gönn' ihm doch mal etwas Ruhe." sagt er eindringlich.
Ja, er hat Recht. Mein ganzer Körper ist gestresst. Aber vor allem hört mein Kopf nicht auf, über Harry nachzudenken und diese dämliche Vorlesung scheint mir die einzige brauchbare Ablenkung zu sein, die mich für ein paar Stunden abschalten lassen könnte. Obwohl Liam bis zum Verlassen der Wohnung versucht mich vom Gegenteil zu überzeugen, schleppe ich mich ein paar Stunden später mit einer frischen Ladung Schmerzmitteln intus zurück in die Uni.
Ich schaffe es zwar, mich einigermaßen auf den Stoff zu konzentrieren, aber wirklich abschalten kann ich nicht. Zu oft schiebt sich Harrys schmerzverzehrtes Gesicht wieder vor meine Gedanken und seine Worte schwirren mir im Kopf herum.
'Immer tue ich allen Menschen weh...'
Wie meinte er das? Wen hat er verletzt? Hat diese Grace etwas damit zu tun? Und wer war sie überhaupt, wenn er sich laut Nialls Aussage nach ihrem Tod so verändert hat? War sie eine Familienangehörige, eine gute Freundin oder vielleicht sogar seine feste Freundin?
Schwer atme ich aus, weshalb das Mädchen neben mir irritiert zu mir rüber sieht. "Sorry..." murmle ich, bevor ich schnell wieder nach vorn schaue.
Ich werde keine Ruhe finden, wenn ich nicht mehr darüber weiß, das steht fest. Auch ist mir allerdings klar, dass ich Harry nicht einfach so danach fragen kann. Niemals würde er mir davon erzählen, vermutlich würde er danach sogar nie wieder ein Wort mit mir wechseln. Ich muss mir also etwas anderes einfallen lassen.
Auf dem Weg nach Hause versuche ich weiter krampfhaft nach einer Idee zu suchen, mehr über all das rauszubekommen. Als ich zuhause reinkomme, bin ich noch immer nicht schlauer, aber kratze am Rande der Verzweiflung. Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe Liam an seinem kleinen Schreibtisch sitzen, er scheint offensichtlich zu lernen. "Liam?" - "Hey, Louis. Wie war's?" fragt er und hebt nur kurz den Kopf, ohne wirklich von seinen Unterlagen aufzusehen.
"Liam... Wer ist Grace?"
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1813 Words
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