4. Kapitel: Built For Two
KAPITEL VIER
"It's better than I ever even knew
They say that the world was built for two
Only worth living if somebody is loving you
And baby, now you do"
(lana del rey – video games)
Frühjahr 2020
Während Tims Abendvorlesung hatten Stegi und Oskar das Küchenwohnzimmer bereits für die WG-Zeit vorbereitet, und als er endlich seinen Laptop schließen und in die Küche treten konnte (blinzelnd gegen das grelle Licht der Deckenlampe, nachdem sein Zimmer nur von dem Bildschirm erleuchtet gewesen war), saßen sie bereits mit je einer Flasche Bier am Küchentisch und waren in ein Gespräch vertieft.
„Ecuador?", fragte Stegi gerade und runzelte die Stirn. „Was macht man denn so in Ecuador?"
Oskar zuckte mit den Schultern. „Du kennst Paulina. Die findet überall was zu tun, wenn sie nur will."
Paulina war eine weitere von Stegis Schulfreundinnen. Tim wusste nicht viel über sie, außer, dass sie extrovertiert genug für fünf Leute war, immer über alles Bescheid wusste, und sich seit dem Abitur von Freiwilligendienst zu Freiwilligendienst und von Land zu Land hangelte. Das letzte Mal, als er von ihr gehört hatte (was zugegebenermaßen bereits einige Monate her war), war sie auf einer Pferdezucht in Island gewesen. Dagegen war Ecuador sicherlich schön warm.
Tim griff sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich gegenüber von Stegi an den Tisch fallen.
„Vorlesung überstanden?", fragte Oskar.
„So gut's eben geht, ne?"
„Worum ging's?", fragte Stegi.
Tim zuckte mit den Schultern. „Nichts, das du verstehen würdest."
Stegi zeigte ihm den Mittelfinger und lachte. Er lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten und legte die Beine hoch – so, dass seine Füße auf Tims Knien ruhten. Tim wollte protestieren und sich umsetzen, aber um ihren Küchentisch herum standen nur drei Stühle; hätten sie einen vierten hinzugestellt, würde er die Tür blockieren.
Also fügte Tim sich seinem Schicksal. Er prostete den beiden zu, ehe er einen großen Schluck Bier trank. „Ecuador?", sagte er dann. „Und sie durfte noch hinreisen?"
„Sie ist schon seit Februar da. Wahrscheinlich dürfte sie gar nicht mehr zurück."
„Aber sie ist bestimmt glücklich", warf Stegi ein. „Also ist das gar nicht so schlimm."
Tim würde einiges dafür geben, nicht in seinem Supermarktjob im selbst im April kalten Deutschland festzustecken – sicherlich war Paulina in Ecuador glücklicher. Es war ja schwer, Nieselregen und 14 Grad zu unterbieten.
„Die viel wichtigere Frage", sagte Oskar, und seine Stimme wurde so nachdenklich, als hätte er bereits fünf Bier und zwei Shot intus, „Ist doch, ob wir glücklich sind."
Stegi verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich wäre glücklich, wenn mir jemand Snacks bringen würde", sagte er, einen Mundwinkel nach oben gezogen. Dabei ruhten seine Augen auf Oskar – Tim war schließlich als Stegis Fußablage gefangen.
Oskar zuckte mit den Schultern und erhob sich. „Chips?", fragte er. „Ich bringe uns Vodka und ein Spiel mit." Damit hatte er sich erhoben und quetschte sich an Tims Stuhl vorbei aus der Küchentür heraus – ein Regal mit Vorräten hatten sie im Flur untergebracht, der mehr Quadratmeter als die Küchenzeile des Zimmers hatte.
Stegi beäugte die halb angelehnte Tür, dann lehnte er sich nach vorne Richtung Tim. „Es ist gut, ihn wiederzusehen", flüsterte er. „Ist lange her."
„Du hast ihn mir nur als Mitbewohner angedreht, damit ihr euch hin und wieder noch seht", flüsterte Tim.
„Als hätte ich nach der Schule nicht genug von dem Typen gehabt."
Tim unterdrückte sein Grinsen. Stegis Mutter arbeitete als Kamerafrau und filmte in vielen verschiedenen Städten diverse Dokumentation, und in seiner Jugend war Stegi mindestens einmal pro Jahr umgezogen – auch nach München zu Tim, und dann wieder weg. In seiner nächsten Stadt hatte er Oskar und seine Freunde kennengelernt, und als seine Mutter in der Mitte der Abiturvorbereitungen wieder hatte umziehen müssen, war Stegi notdürftig für drei Monate auf den Dachboden von Oskars Familie gezogen. Es grenzte an ein Wunder, dass die beiden sich noch aufeinander freuten, statt sich in den Haaren zu liegen.
Andererseits: Oskar war wirklich ein mehr als okayer Mitbewohner.
Und wo man vom Teufel (Engel?) sprach, stieß Oskar die Küchentür wieder auf. „Worüber flüstert ihr?" In einer Hand hielt er die Chipstüte und eine halbleere Vodkaflasche (die Billigste, die Tims Supermarkt verkaufte), in der anderen ein Tetrapack Orangensaft. Unter den Arm hatte er ein Brettspiel geklemmt, dessen Titel Tim nicht ausmachen kannte.
Stegis Mund war immer noch nahe an Tims Ohr, also flüsterte er: „Du siehst süß aus heute, übrigens." Und dann lehnte er sich wieder nach hinten, Arme weiterhin verschränkt. „Nichts von Belang."
Oskars Blick sprang zwischen Stegi (selbstgefällig grinsend) und Tim (vermutlich errötend, als wäre dass das größte Kompliment, das Stegi ihm je gemacht hatte; und in seinem gemütlichsten Sweater und Bartschatten garantiert alles andere als süß) hin und her. Dann stellte er die Sachen auf den Tisch, drückte sich an Tims Stuhl vorbei, und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht möchte ich es gar nicht wissen."
Gerne hätte Tim beiden von ihnen unter dem Tisch einen Tritt verpasst, aber in beiden Fällen hätte Stegi sich beschwert. Er beließ es sich bei einem gemurmelten „Bitte was?", das keiner hörte.
Während Oskar jedem von ihnen einen Vodka-O zubereitete, zog Stegi das Brettspiel an sich heran. Trivial Pursuit. „Das will Oskar nur spielen, weil er immer gewinnt", sagte Tim. Oskars Speicher an sinnlosem Wissen für Quizspiele war bodenlos.
„Du kannst ja ein anderes Spiel holen." Oskar warf ihm nicht mal einen Blick zu, zu beschäftigt war er damit, zu viel Vodka und zu wenig Orangensaft in ihre Gläser zu füllen. „Wenn du Lust hast, aufzustehen."
Seufzend begannen Tim und Stegi, das Spiel aufzubauen.
Der Vodka-O war zu stark für Tims Geschmack, aber er bemühte sich, beim Trinken möglichst wenig das Gesicht zu verziehen, und schenkte zwischendurch diskret Orangensaft nach. Währenddessen versagten er und Stegi bei jeder zweiten Frage – Wer wusste denn auch, wer die Blechdose erfunden hatte oder wer 2007 der beste Golfspieler der Welt gewesen war? –, während Oskar an ihnen vorbeischoss.
Oskar kippte einen großen Schluck seines zweiten Vodka-Os herunter (Tim war immer noch bei seinem ersten), würfelte, und lehnte sich so entspannt in seinem Stuhl zurück, als sei das hier eine Spazierfahrt. „Letzte Frage", sagte er und bewegte seine Spielfigur auf das entsprechende Feld. Auf seinem Gesicht lag der erste Ansatz eines triumphierenden Lächelns.
Stegi rollte entnervt mit den Augen, also blieb es an Tim, die Frage zu stellen. „Kategorie: Erdkunde. In welcher deutschen Landschaft wurde die erste Erdölbohrung durchgeführt? Optionen sind –"
„Sh", unterbrach Oskar ihn und trank betont gelassen einen Schluck. „Das weiß ich so. Lüneburger Heide."
Tim drehte die Fragenkarte um, um die Antwort nachzuschauen. Richtig. Er seufzte.
Oskar sah ihn abwartend an.
„Richtig", sagte Tim.
„Wer weiß denn sowas?", ereiferte Stegi sich. „Du kannst mir nicht sagen, dass der nicht betrügt."
„Man muss seinen Feind kennen, um ihn zu zerstören", sagte Oskar und zwinkerte. Er schien sich nicht einmal mehr über seinen Sieg zu freuen – kein Wunder, denn er ließ Tim jedes Mal wie einen Idioten aussehen. An einem weiteren Sieg war nichts besonderes mehr. (Sollte er es hingegen irgendwann schaffen, gegen Tim in Mario Kart zu gewinnen - das wäre ein Ereignis für die Geschichtsbücher!) Oskar schien etwas ähnliches zu denken, auch, wenn seine Lösung für dieses Problem nicht war, das Spiel zu wechseln – Stattdessen klickte er mit der Zunge und sagte: „Hey, was sagt ihr, ihr beide im Team gegen mich?"
Tim wechselte einen Blick mit Stegi, der so viel sagen sollte wie Das ist eine Falle; Stegis Blick hingegen schien zu sagen: Machen wir ihn fertig. Und besonders, wenn auch Stegi Feuer fing, konnte Tim einer Herausforderung nicht widerstehen – Er trank sich mit einem Schluck Vodka-O (inzwischen eher Orangensaft mit einem winzigen Schuss Vodka) Mut an und wandte sich Oskar zu. „Klar."
„Nice!" Oskar schob ihre Spielfiguren auf die Startpositionen zurück, entfernte die Marker, die anzeigten, wie viele Fragen sie bereits korrekt beantwortet hatten, und schob den Würfel in die Mitte zwischen Tim und Stegis Platz.
Noch bevor Tim das registriert hatte, hatte Stegi sich den Würfel bereits geschnappt. Er würfelte eine Sechs – und blickte grinsend zu Tim. „Welche Kategorie?", fragte er, denn mit diesem Ergebnis kamen sie direkt auf eines der Felder, auf denen sie sich einen Punkt ergattern konnten – Und hatten freie Auswahl über das Themengebiet ihrer Frage.
„Technologie", sagte Tim.
Stegi zog eine Augenbraue hoch, skeptisch, aber dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn wir verlieren, ist es deine Schuld, das möchte ich nur anmerken."
„Ihr habt gewählt", verkündete Oskar, setzte Stegi-und-Tims Spielfigur auf das entsprechende Feld und zog dramatisch eine Karte vom Fragestapel. „Also – Was ist die Zahl 42 in binär?"
Stegi seufzte und kippte sich den letzten großen Schluck Vodka-O in den Rachen. „Das fängt ja toll an", sagte er. „101?"
Oskar warf einen Blick auf die Antwort und grinste voller Schadenfreude. Es war Tim unerklärlich, wie er selbst mit so einem schlechten Pokerface gewinnen konnte. „Ist das eure finale Antwort?"
„Nein", sagte Tim, nahm seinerseits einen Schluck Orangensaft mit einem Schüsschen Vodka, und schloss die Augen. Binär hatte er im Informatikunterricht gelernt, und es kam manchmal in einigen seiner Kurse auf; auch, wenn es inzwischen eine Weile her war. Zweiundvierzig, das war quasi 32 plus 8 plus 2, und das hieß: „101010."
„Finale Antwort?" Als Tim nickte, präsentierte Oskar ihnen die Seite von der Karte mit der Antwort und sagte: „Richtig!"
Stegi hielt Tim seine Hand zum High-Five in. Tim schlug ein und verschränkte ihre Finger für den Bruchteil einer Sekunde, gerade lang genug, um ein Lächeln auf Stegis Gesicht aufblitzen zu sehen. Dann lies er sie zurück in den Schoß fallen. „Sieht so aus, als wäre die 42 immer noch unsere Zahl", sagte Stegi.
Oskar hob eine Augenbraue.
„Privatsache", schob Stegi hinterher, obwohl Oskar den Kontext nicht überraschend finden würde. (Stegi und Tim hatten sich nur kurz vor Stegis Umzug kennengelernt, und an einem Tag hatten sie ausgerechnet, dass es noch 42 Tage bis zu diesem waren.) „Ist ewig her."
„Okay, es ist etwas extrem weirdes, ich hab verstanden."
Stegi lachte, Oskar lachte, Tim verzog das Gesicht und sagte „Eigentlich", aber da winkte Oskar schon ab und schob den Würfel zu Tim zurück.
„Also, macht ihr weiter?"
Tim und Stegi hatten einen guten Lauf; sie holten sich einen weiteren Punkt, Kategorie Literatur, durch pures Glück bei der Frage, ehe sie eine falsch beantworteten und den Würfel Oskar übergeben mussten. Dieser sahnte ebenfalls zwei Punkte ab, ehe er etwas nicht wusste, das Tim tatsächlich gewusst hätte.
Das Erfolgsgefühl hielt nicht mehr als eine halbe Stunde an. Selbst Tims Drink hatte inzwischen einen normalen Alkoholgehalt, auch, wenn er die Schuld nicht darauf schieben würde: Schließlich hatte Oskar um einiges mehr getrunken, und dennoch zog er vor ihnen ins Ziel – Mit einem Punkt Vorsprung. (Tims Auffassung nach kam das fast einem Sieg gleich.)
„Besiegt!", triumphierte Oskar mit einem breiten Lächeln.
Stegi rollte mit den Augen, während Tim die Arme verschränkte. „Glückwunsch", sagte er.
„Hey, auch an euch. Hier hattet mich fast."
„Keine falsche Bescheidenheit", sagte Tim.
„Du solltest zu Wer Wird Millionär oder so", sagte Stegi. „Du könntest verdammt viel gewinnen."
„Was ist Wer Wird Millionär?", fragte Oskar, die Augenbrauen leicht zusammengezogen, so, dass sich eine Falte in der Mitte seiner Stirn bildete.
„Diese Fernseh-Quizshow", sagte Stegi. „Du weißt, mit Günther Jauch?"
Oskar zuckte mit den Schultern. „Wer? Ich schaue kein Fernsehen."
„Du bist so komisch", erklärte Stegi, als wäre es ein etablierter Fakt (Vermutlich war es das). „Aber hey, feier' deinen Sieg."
„Wir können auch hier um Geld spielen, wenn es dir darum geht", schlug Oskar vor.
Als Antwort erntete er ein synchrones Stöhnen von Stegi und Tim. „Auf keinen Fall", sagte Tim. „Aber ich weiß, was wir spielen können. Es ist ja langweilig, wenn man schon weiß, wer gewinnt."
„Finde ich nicht", entgegnete Oskar, „Ich beantworte gerne Quizfragen."
„Ja, weil du immer richtig liegst." Tim schob Stegis Beine von seinem Schoß erhob sich von seinem Stuhl. (Die Welt drehte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde vor seinen Augen, ehe sie sich schwankend wieder in die Gerade brachte.) „Ich schlage Mario Kart vor."
„Weil du mich verlieren sehen willst? Geschlagen? Ein bloßer Schatten meiner selbst?" Die Dramatik in Oskars Stimme passte nicht zu der Detailliebe, mit der er die Spielsteine in ihre zugehörigen Mulden im Kasten unterbrachte, aber immerhin unterstrich er seine nächsten Worte, in dem er mit dem Spielplan durch die Luft wedelte: „Auf gar keinen Fall!"
„Also ich bin dafür", sagte Stegi.
„Demokratisch abgestimmt." Tim grinste und leerte sein Glas, ehe er sich auf den Weg in die entgegensetzte Ecke ihrer Wohnküche machte, wo eine Speermüll-Couch gegenüber eines von Oskars Eltern ausgemusterten Fernsehers stand. (Ohne Rundfunkanschluss, denn wer schaute heutzutage schon noch Fernsehen? Oskar ja ganz offensichtlich nicht.)
„Das ist unfair!", protestierte Oskar, obwohl er klar demokratisch überstimmt worden war, „Ihr seid zusammen, das ist Wahlbetrug."
Stegi streckte ihm bloß die Zunge heraus, ehe er in Lachen ausbrach. Er sprang von seinem Stuhl auf und überquerte die Strecke zwischen Tisch und Tim in einem übergroßen Schritt, ehe er die Arme von hinten um Tims Hals schlang, sein Oberkörper gepresst gegen Tims Rücken. „Die Welt ist nicht fair, Oskar."
Oskars Antwort bekam Tim nicht mehr mit – Stattdessen legten sich Stegis Arme wie eine warme Decke über seine Schultern, sein Lachen hell und locker gegen Tims Ohr, alkoholgerötete Wange gegen Tims Nacken gelehnt. Er hätte für alle Ewigkeit so verharren können.
Stegi jedoch hatte in seiner Starrköpfigkeit die Diskussion mit Oskar bereits gewonnen; er ließ sich auf die Mitte der Couch fallen, Arme auf der Lehne ausgebreitet. „Tim, kommst du?"
„Hey, macht mal Platz!", beschwerte Oskar sich, als er Tim und Stegi auf der definitiv nicht für mehr als zwei Leute ausgelegten Couch sah, und drängelte sich zwischen Lehne und Stegi. Er warf jedem von ihnen einen Controller zu, die Konsole war bereits eingeschaltet.
Auf der einen Seite von der Lehne, auf der anderen von Stegi – blendend helles Lächeln, nach einem langen Tag abstehende Haare, Glühen in den Augen – eingezwängt, lehnte Tim sich mit dem Kopf gegen Stegis Schulter. Oskar und er zankten sich schon wieder wegen irgendwas, aber Tim war einfach nur glücklich, hier zu sein: Mit einem Mitbewohner, den er zum Freund gewonnen hatte, und seinem Freund, bei dem er sein Glück schon normalerweise kaum fassen könnte. Oskar hatte die Lampe ausgeschaltet, so, dass die einzige Lichtquelle der Fernseher war; er ließ es so aussehen, als wäre die Welt beschränkt auf ihre Couch, dahinter nur Finsternis.
Stegi boxte Tim in die Seite, so gut das bei ihrer körperlichen Nähe möglich war. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Jetzt wähl schon wen aus."
Nach all der Zeit fühlte es sich endlich so an, als wäre er zuhause.
*
Tims Kopf schmerzte fürchterlich, da hatte auch die Aspirin nichts geholfen, die er am Morgen in den Tiefen des Badezimmerschranks gefunden hatte. (Wer wusste schon, wie lange die dort gewesen war? Vielleicht war sie abgelaufen gewesen.) Das grellweiße Supermarktlicht und die Geräuschkulisse am Samstagmittag taten ihr übriges, um Tim das Gefühl zu geben, jemand bearbeite seinen Kopf mit einem Schlagbohrer.
Stegi war unfairerweise viel besser weggekommen; bevor Tim auf die Arbeit abgehauen war, hatte er Stegi an seinem Schreibtisch betrachtet, wie er mit schiefgelegtem Kopf irgendeiner Vorlesung folgte, die auch für einen nicht-verkaterten Tim unverständlich gewesen war. Kein Wunder: Nach jedem seiner Siege in Mario Kart wurde Tim zu einem neuen Shot aufgefordert, um das Spiel „fairer zu machen". Oskars Idee. Aber immerhin hieß das, dieser Kater war das Zeichen seines Sieges, richtig?
Wahrscheinlich bekam mehr als ein Kunde heute seine Ware umsonst – Egal, wie sehr Tim es versuchte, er konnte sich nicht konzentrieren; sicherlich entging ihm hin und wieder eine Paprika oder eine Packung Tomatensoße bei dem Tempo, dass er an den Tag legen musste, um mit den Samstagsströmen mitzuhalten. Sieben Stunden am Samstag, drei über die Woche verteilt: Es war ihm wie eine super Idee vorgekommen, als er den Job bekommen hatte; es war sonst immer ein Problem, Schichten zu finden, die sich nicht mit Univeranstaltungen überschnitten. Jetzt bereute er diese Entscheidung gewaltig.
Aber hey, immerhin machte er an dem Tag fast halb so viel Geld, wie der Einkauf seiner aktuellen Kundin kostete. Er musterte die Ware kritisch, Augen zusammenkniffen: Das waren 150 Euro Lebensmittel? Es sah nicht so unfassbar viel aus. Essen, fand Tim, war um Einiges zu teuer. (Oskar konnte sich darüber lange Stunden aufregen, außer, dass es dann auch um Lieferketten und Gesetze und Steuern ging; Tim fand hauptsächlich, wer so viel Geld für so wenig Essen verlangte, sollte ihn besser bezahlen.) „Das macht dann 149 Euro und 47 Cent", sagte er der Kundin.
Es kostete das gesamte Konzentrationsvermögen, das er sich nicht weggetrunken hatte, um das Rückgeld passend auszuzahlen. Er erlaubte sich einen kurzen Blick auf die Schlange (lang) und die Kundin (sehr langsam am Einpacken) und begann seufzend, schonmal den nächsten Einkauf zu scannen: Nur ein paar Gegenstände, die er zwischen Kundin-Packstation und Scanner unterbringen konnte.
Minute um Minute zog vorbei: Produkte scannen; Sammeln Sie Treuepunkte?; Kleingeld sortieren; Kartenzahlungen abwickeln; Schönes Wochenende! Er warf kaum noch einen Blick auf die Kunden, sondern ratterte seinen Text wie vom Fließband hinunter und verfluchte seine Kopfschmerzen und sein Trinkgelage und Oskar. (Immerhin musste er nicht lächeln unter der Maske. Glück im Unglück.)
Er merkte kaum noch, was er eigentlich verkaufte, bis er eine altbekannte Kombination auf dem Band erspähte: Nudeln, Mehl, Toilettenpapier, Desinfektionsmittel. In normalen Mengen (zwei Packungen Nudeln waren eine normale Menge, richtig?), immerhin, das musste er diesem Kunden lassen, aber trotzdem konnte Tim nicht wiederstehen, ihn doch ins Auge zu nehmen.
Er hob den Blick. Blinzelte einmal, zweimal.
Der Mann ihm gegenüber lachte.
„Stegi?", fragte Tim.
„Ich kann nicht glauben, dass du mich erst jetzt bemerkst!" Stegi musste Grinsen: Um seine Augen bildeten sich Lachfalten. „Ich stand ewig in der verdammten Schlange! Und zuerst in der falschen, da hast gar nicht du kassiert, also musste ich auch noch Kassen wechseln. Aber ich verspreche, wir brauchen das auch alles wirklich. Außer das." Er griff das Desinfektionsmittel und legte es auf die Ablage mit den Süßigkeiten. „Und ich dachte, ich besuche dich."
„Ich kann nicht glauben, dass du hier bist. Idiot." Tim begann, die Artikel zu scannen, während Stegi vor der Kasse auf die Zehenspitzen hüpfte, um Tim über das Plastikschild hinweg zu sehen.
„Gar kein Idiot! Sag mal danke, dass ich für uns einkaufe."
„Und ich mach hier die Arbeit, also..."
„Schlecht gelaunt wegen deinem Kater, was?" Stegi lachte und griff in die Innentasche seiner Jacke. Über das Plastikschild hinweg reichte er Tim eine ehemalige Smoothieflasche (Geschmacksrichtung laut Etikett Erdbeer-Banane) mit milchig weißem Wasser. „Noch eine Aspirin", erklärte er, „Schon aufgelöst."
„Danke", sagte Tim.
„Geht doch!"
Tim drehte die Flasche auf und schob sich die Maske für einige Sekunden unters Kinn, um sie in großen Schlucken zu leeren. Beinahe direkt setzte ein Placebo-Effekt ein; er war sich sicher, dass es eigentlich länger dauerte, bis Schmerzmittel ihre Wirkung entfalteten. Erleichtert lehnte er sich nach hinten und scannte Stegis letzten Artikel. „Warte", sagte er noch dazu, „Ich geb dir meinen Mitarbeiterrabatt."
„Hätte ich das gewusst, hätte ich teurere Sachen gekauft!"
Tim lachte. „Der Rabatt ist relativ bescheiden."
„Und dafür machst du den Job?" Stegi bezahlte, grinste und schaufelte die Einkäufe in seine Tasche. Tim sollte längst damit anfangen, die Einkäufe des nächsten Kunden zu scannen, denn es war voll im Laden, aber er konnte die Augen nicht von ihm reißen: Da war Stegi, Stegi, inmitten der Regale und Rabattschilder, die Tim zu hassen gelernt hatte. Es wirkte surreal. Die Sonne des Fast-Sommertages knallte von hinten durch die Tür hinein, und für einen furchtbar peinlichen Moment hatte Tim den Gedanken, dass sie Stegis Haare strahlen ließ wie ein Heiligenschein.
Stegi schulterte seine Tasche und schob seine Haare nach hinten – eine absurd attraktive Geste zwischen Zigaretten und Mini-Packungen Süßigkeiten. „Wann hast du Mittagspause?"
Tim warf einen Blick auf die Uhr. „Halbe Stunde."
„Soll ich dir einen Döner vorbeibringen?"
„Oh, ich würde töten für einen Döner."
„So dramatische Gegenleistungen verlange ich nicht", sagte Stegi, wieder mit Lachfalten um die Augen. Er lehnte sich an der Seite von Tims Plastikschild vorbei. „Nur das hier." Und damit gab er Tim den Hauch eines Kusses (Tim verfluchte die verdammte Maske, die ihnen im Weg stand), ehe er sich Richtung Ausgang drehte.
Tim konnte seinen Blick immer noch nicht lösen. „Ich liebe dich", sagte er so leise, dass er sich sicher war, Stegi hätte ihn nicht hören können – Aber Stegi warf ihm ein „Ich dich auch!" über seine Schulter zu, und dann ein „Was für Fleisch?"
Auch, als er endgültig aus der Tür war und Tim wieder Einkauf über Einkauf scannte, wirkte das ganze mehr wie ein Traum als Realität. Der Geist eines Kusses, der keiner war, machte selbst die überlange Schlange erträglich. Stegi gehörte nicht auf so etwas langweiliges wie seine Arbeit, wenn die Zeit mit Stegi sonst beschränkt war auf wenige Wochen, eine Flucht aus dem Semesteralltagstrott. Nur, dass es sich jetzt anfühlte, als wäre der Alltagstrott erträglicher sonst.
Am liebsten hätte Tim Stegi nie wieder gehen lassen.
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