1. Kapitel: When I Watch The World Burn
Diese Geschichte ist ein Sequel zu Tropfen im Meer, einem Stexpert-Schul-AU, das ihr in meinem Profil findet. Ihr müsst es nicht zwingend lesen, um diese Story zu verstehen, aber ihr könnt gerne und es wird einige Teile wahrscheinlich mehr enjoyable machen. :D Aber lasst euch davon nicht abschrecken - der Story folgen kann man auf jeden Fall so oder so! Und danke an May für den Hype & die Motivation fürs Schreiben und Hochladen - Das Stexpert-Fandom ist tot, aber immerhin weiß ich, dass eine Person es liest. <3
CW: In Teilen von Punkt Nemo geht es um Depressionen; und es geht um Pandemiestuff - es gibt keine toten Charaktere oder Suizidversuche, falls das etwas ist, dass ihr nicht lesen wollt.
KAPITEL EINS
"When I watch the world burn
All I think about is you"
(bastille – doom days)
Frühjahr 2020
Tim rückte sein Headset zurecht, das beim Kampf gegen einige Blazes verrutscht war, und stieg durch das Nether-Portal zurück in die normale Welt ihres Servers. „Was für ein Holz für's Dach?", fragte Stegi, während Tim bloß ein Ladebildschirm angezeigt wurde. „Ich habe Eiche, Birke, Akazie..."
„Du bist der Designexperte", antworte Tim bloß mit einem Lachen. „Such dir was aus, ich vertrau' dir."
„Sorry, dass ich nicht will, dass unsere Base hässlich ist."
„Das will ich auch nicht. Deshalb lasse ich dich ja entscheiden." Tim seufzte. Das Portal spuckte ihn nachts aus, und er nahm sich einige Sekunden Zeit, um sich in der Dunkelheit zu orientieren. „Akazie?"
„Ich wusste schon immer, du hast keinen Geschmack!", verkündete Stegi, und Tim konnte das Grinsen in seiner Stimme quasi hören. „Akazie, du spinnst doch, ich nehm' –"
Tim sprang von der kleinen Plattform, auf der sie das Portal erbaut hatten, in Richtung der notdürftigen Hütte, die er errichtet hatte, während Stegi ihn lang und breit kritisiert hatte. Schließlich hatte er diese Aufgabe an Stegi übertragen – Er war eh immer mehr der Fan von den praktischen Aspekten von Minecraft gewesen. Monster töten, zum Beispiel. Oder ausgefallene Redstone-Konstruktionen bauen, die sicher Stegis Plänen für ihre Base widersprechen würden.
Dieser stand gerade auf ihrem inzwischen doch ansehnlichen Haus; sein Avatar drehte sich zu Tim und sprang einmal auf und ab, während der echte Stegi in seinen Kopfhörern verkündete: „Ich sehe dich, Tim! Komm her!"
Tim hingegen kniff die Augen zusammen und lehnte sich näher an den Bildschirm. War das da hinter Stegi in der Dunkelheit des Daches etwa – „Stegi, sieben Uhr!"
Minecraft-Stegi drehte sich um sich selbst, während Kopfhörer-Stegi sagte: „Hä?"
„Sieben Uhr von mir aus – Ach, verdammt, spring einfach zur Seite, ist eh –"
In genau diesem Moment explodierte der Creeper hinter ihm. Stegi fluchte, Tim brach in Lachen aus, während der Creeper den gerade hergerichteten Teil des Daches mit sich in den Tod riss. Stegi fiel durch die Decke ins Innere, und wenn er sich nicht täuschte, war das geradewegs...
„Ich brenne, was zum –"
... das Lavabecken, das er für den Obsidian gebraucht hatte.
„Toll", sagte Stegi in genau dem Moment, in dem eine Nachricht im Chat ihn genau über diesen Umstand informierte, „Ich bin tot. Alles deine Schuld."
„Ich habe dich gewarnt."
„Aber wer baut denn Lava ins Haus? Weißt du was, Tim, ich bin doch froh, dass wir nicht zusammenwohnen. Wahrscheinlich würdest du in der Küche eine Pfütze hinterlassen, oder nicht mal in der Küche, sondern im Wohnzimmer, wo man nicht damit rechnet, und dann würde ich ausrutschen und hinfallen und sterben. Und es wäre deine Schuld."
„Chill", sagte Tim nur und lachte. „Du bist doch eh schon respawnt."
Aber Stegi fluchte noch ein bisschen mehr, so lange, bis Tim auch endlich das Haus erreicht hatte. Minecraft-Stegi stand neben dem Bett, regungslos, und Tim warf ihm die Gegenstände aus seinem Inventar zu, die er neben der Lava noch hatte retten können. Schwert und Rüstung waren nicht dabei, also gab Tim ihm seine eigenen. Die waren dank dem Nether eh schon etwas angeschlagen.
„Siehst du?", sagte er. „Alles wieder gut. Dein ganzes Holz hat's überlebt."
Stegi schwieg einige Sekunden. „Danke", sagte er dann. „Aber beim nächsten Mal schrei einfach Creeper. Sieben Uhr. Wer soll denn damit etwas anfangen."
Tim wollte protestieren – Das war doch jetzt wirklich kein ungewöhnlicher Jargon, und was, wenn Stegi dem Creeper direkt in die Arme gesprungen wäre –, aber dann entschied er, dass es das nicht wert war. „Merk' ich mir", sagte er.
Stegi lachte. Am liebsten hätte Tim sein Lachen, merkwürdig, wie es sein mochte, in eine Flasche gesperrt, aus der er es freilassen konnte, wann auch immer er das Gefühl hatte, es hören zu müssen. Es war viel zu lange her, dass er Stegi lachen gesehen hatte. So, dass er ihn küssen könnte, genau so, wie dieses Lachen es verlangte.
Aber das war nicht möglich, also stimmte er bloß in Stegis Lachen mit ein. „Ich habe trotzdem keine Lust mehr", sagte Stegi seufzend, „Jetzt, wo ich das ganze Dach neu bauen muss. Das ist so langweilig."
„Also was anderes?", fragte Tim.
„Mh-hm." Stegi verließ den Server. „Ich will nicht mehr nur so mit dir reden", sagte er dann. „Ich vermisse dich."
Oh. Tim schluckte und rückte vom Schreibtisch ab, legte die Hände in den Schoß, statt sie auf der Tastatur ruhen zu lassen. „Ich dich auch", sagte er leise. „Ich dich auch."
Eigentlich sollte Stegi gerade so, wie es die Tradition verlangte, hier sein. Es waren Semesterferien, die Klausuren waren geschrieben, und erst vor wenigen Tagen hatte Tim seine letzte Hausarbeit abgegeben. Die zwei Wochen, bevor das Semester wieder anfing, waren die einzigen, die nur ihnen gehörten. Eigentlich. Na ja. Und dann befanden sie sich plötzlich im Anfang eines Zombie-Apokalypse-Films. (Immerhin hatte sich bisher noch niemand wirklich in einem Zombie verwandelt.)
„Es ist alles – Es ist alles einfach nicht fair."
Tim konnte dem nur zustimmen. „Ich fahre dich besuchen, sobald das alles vorbei ist", versprach er. „Direkt. In den Zug und ab zu dir."
„Du hast einen Job. Und ein Studium."
„Fick das", sagte Tim. „Du bist wichtiger."
„Wo ist dein Verantwortungsbewusstsein hin?", fragte Stegi und schnalzte mit der Zunge. „Ich weiß, wir lassen uns alle gehen, so in der Quarantäne und so –"
„Es ist keine Quarantäne. Technisch gesprochen."
„Du musst aufhören, Nachrichten zu lesen", erklärte Stegi im Brustton der Überzeugung, als wüsste Tim das aus den Nachrichten und nicht von seinem Mitbewohner, der Newspodcasts hörte, nur, um sich dann beim gemeinsamen Frühstück über sie auszukotzen, „Und wie man das nennt, spielt keine Rolle, denn es ist so oder so scheiße."
„Tu' nicht so, als hättest du das vor ein paar Jahren nicht cool gefunden."
„Ich bin nicht mehr sechzehn, Tim", entgegnete Stegi schnippisch. Dabei hatte Tim eindeutig recht: Bevor sie sich kennengelernt hatten, war Stegis ganzes Ding gewesen, nie mit jemandem zu reden. Halb-freiwillig, wohlgemerkt. Vergangenheits-Stegi hätte Quarantäne-Die-Keine-Quarantäne-War geliebt. Der Stegi, den Tim aus der Schale gepult hatte? Der weniger. „Und außerdem wollte ich damals noch niemanden besuchen gehen. Hätte der Virus nicht noch einen Monat warten können? Toll, mach' die Uni zu, das ist mir egal."
„Es ist nicht fair", wiederholte Tim Stegis frühere Worte. „Du hast ja Recht."
Stegi seufzte tief und resigniert. Vor seinem geistigen Auge sah Tim ihn in seinem Stuhl nach hinten rutschen, bis er halb auf dem Boden hing. „So lange kann's ja nicht mehr dauern", murmelte er. „Bis wir uns sehen, meine ich."
Tim glaubte das Gleiche. Die Frühstückstisch-Prognosen seines Mitbewohners ließen zwar etwas gänzlich anderes vermuten – Aber er wollte das hier lieber glauben. Es konnte nicht ewig so weitergehen, und er würde Stegi wiedersehen, und es würde alles gut werden. Happy End, Vorhang zu, Applaus. „Sobald es geht", versprach er mit einem Lächeln und lehnte sich zurück. „Ich liebe dich."
„Ich dich auch", antwortete Stegi, Stimme weich. „Bald ist nie nah genug dran."
„Süß", kommentierte eine Stimme, die entschieden nicht Stegis war, aus dem Hintergrund.
Irritiert zog Tim die Augenbrauen zusammen und drehte seinen Stuhl, bis er den Eindringling sah. „Oskar", sprach er trocken das Offensichtliche aus. Oskar, Tims podcasthörender Mitbewohner, lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen. Durch die Kopfhörer musste Tim nicht gehört haben, wie er eingetreten war. Seine Haare waren frisch gefärbt in allen Farben des Regenbogens (ebenfalls ein Produkt der Nicht-Quarantäne), und sie standen auf eine Weise ab, die nur durch Unmengen Haarspray und Wachs möglich sein musste. „Wie lange hörst du schon zu?"
„Nur ein paar Sekunden", sagte Oskar und zuckte mit den Schultern.
Stegi meldete sich über die Kopfhörer – „Ist Oskar wieder reingeplatzt? Ich lass' dich das klären, bin in zehn Minuten wieder da!" –, ehe er sich mutete, und Tim setzte seine Kopfhörer ab. Er ließ davon ab, Oskar anzuhalten, in Zukunft zu klopfen. Er hatte Stegi und ihn schon in wesentlich intimeren Momenten unterbrochen und selbst das hatte ihn nicht belehrt. Hoffnungsloser Fall.
„Du solltest mir danken, dass ich geholfen habe, euch zu verkuppeln", bot er hilfsbereit an.
„Das war vor drei Jahren", lachte Tim. „Und du hast echt nicht viel geholfen."
„Vielleicht erzählt Stegi dir ja einige Dinge nicht?", fragte Oskar mit einem Augenzwinkern.
Oskar war damals ein Schulfreund von Stegi gewesen. Dass Tim jetzt mit ihm zusammenwohnte, war ein weiterer Beweis, dass das Leben nicht fair war, denn eigentlich hätte Stegi diese Wohnung mit ihm bevölkern sollen – Bis ihn diese Uni nicht angenommen hatte (Der NC war in diesem Jahr einige Punkte nach oben gesprungen.) Dafür eine andere, bei deren Informatik-Studiengang Tim von Anfang an keine Chance gehabt hatte. Und selbst damals, frisch aus der Schule ausgespuckt, waren sie beide erwachsen genug gewesen, um zuzugeben, dass es unsinnig gewesen wäre, wenn einer von ihnen deswegen nicht studiert hätte. Aber Oskar war auf der Suche nach einer Wohnung weit weg von seinem erdrückenden Elternhaus gewesen. Und Tim hatte ein Zimmer frei.
Oskar war cool, er war nett, er hielt sich besser als Tim an den Putzplan, und er stellte sicher, dass sie mindestens einen Abend pro Woche mit „WG-Zeit" verbrachten. (Was auf Klardeutsch hieß: Essen bestellen, zocken oder Brettspiele, schauen, wer den anderen unter den Tisch trinken konnte.) Aber er war nicht Stegi. Und er würde ihn nie ersetzen können. Tim versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken, was hätte sein können.
„Ich wollte eigentlich nur einkaufen gehen", erklärte Oskar ihm, „Wollte fragen, ob ich dir was mitbringen soll."
Tim überlegte für einige Sekunden, dann zuckte er mit den Schultern. „Joghurt ist alle, glaube ich. Und Nudeln. Aber ich weiß nicht, ob du die noch kriegst, jetzt, wo alle für die Quarantäne aufstocken."
„Es ist keine Quarantäne", sagte Oskar, während er Tims Bestellungen mit einem Kugelschreiber auf seinen Handrücken schrieb. „Du solltest mehr Nachrichten lesen."
*
Tim warf einen zweifelnden Blick auf das Kassenband vor ihm, auf dem fünf Packungen Klopapier zu einem gefährlich hohen Turm aufgestapelt waren. „Entschuldigen Sie", sagte er zu dem Kunden-Pärchen, zu dem diese gehörten, „Aber aktuell können Sie je Einkauf nur zwei Packungen kaufen." Wie sie die Zettel übersehen hatten, die am Eingang des Marktes und am Klopapier darauf hinwiesen, war ihm schleierhaft. Er hatte sie selbst dort angeklebt und er war nicht sparsam gewesen.
Der Mann bewegte keinen einzigen sichtbaren Gesichtsmuskel, während er die oberen drei Packungen hochhob, sie hinter den anderen auf das Band stellte, und einen Warentrenner zwischen ihnen platzierte. „Jetzt sind es zwei Einkäufe, einer von jeden von uns", sagte er. Tim konnte sich vorstellen, dass er jetzt überhaben grinste, aber seine Maske verdeckte diese Reaktion. Auf ihr stand der Schriftzug Keine Panik. Ha-ha.
„Der Einkauf Ihrer Frau hat trotzdem mehr als zwei", sagte er bloß resigniert. Er wurde nicht gut genug bezahlt, um sich auf diese Diskussion einzulassen. Oskar hatte ihm das oft genug eingebläut, dass er diesen Gedanken schon in seiner Stimme hörte.
Immerhin stellte der Mann daraufhin eine der Packungen auf den Boden neben der Kasse. Ein Problem für später. Tim scannte das Klopapier, händigte das Rückgeld und den Kassenbon aus, und fuhr dann mit dem zweiten Teil des Einkaufes fort. Klopapier, Dosen, Katzenfutter, Sprudelwasser, und, absurderweise, eine Packung frischer Schnittlauch. Die Frau bezahlte mit Karte. (Immerhin sie konnte also die Hinweisschilder lesen, die im ganzen Supermarkt verteilt werden.)
Als sie die Kasse verlassen hatten (natürlich, ohne sich zu bedanken), nutzte Tim die Chance, um für nur einige Sekunden den Kopf in den Händen zu vergraben. Bis der nächste Kunde kam. Er hasste diesen Job, insbesondere aktuell. Aber es war nicht so, als hätte er eine Wahl. Sein Vater war herumreisender Künstler, der sich die Hälfte der Zeit nicht einmal erreichen ließ, und dementsprechend sah es mit seinen Unterhaltungszahlungen aus. Seine Mutter verdiente zwar zu gut für Bafög, aber sie musste seinen kleinen Bruder durchfuttern und Münchener Mieten bezahlen. Dementsprechend: Jobben, wenn er Essen auf den Tisch stellen und alle halbe Jahre ein Bahnticket kaufen wollte. (Immerhin würde er mit seinem Informatikstudium später in einem Job landen, in dem er viel mehr Geld verdiente, und das ohne mit Einzelhandelskunden (Der Horror!) umgehen zu müssen.)
Wo man vom Teufel sprach, hörte Tim Turnschuhe auf dem Supermarktboden quietschen. Er richtete sich auf und setzte ein Lächeln auf, bis ihm auffiel, dass das ja mit der Maske gar nicht mehr nötig war. Endlich mal ein guter Aspekt an der Apokalypse. Die Kundin vor ihm hätte die Keine-Panik-Nachricht gebrauchen können, denn sie wirkte so nervös, dass ein Teil von Tim sie bloß in die Arme schließen wollte. „Entschuldigung", begann sie, so schnell sprechend, dass Tim sie kaum verstand, „Aber ich war grad – hinten in der Abteilung, mit dem Toilettenpapier und so – Und da war keins mehr – Und wir haben keins mehr zuhause, und du weißt ja, wie das dann – Und – Ich wollte fragen, vielleicht –" Ihre Stimme überschlug sich so sehr, dass sie zwischendurch Pausen brauchte, um Atem zu holen.
Tim ließ sein Lächeln so weit hochwandern, dass seine Augen sich leicht zusammenkniffen. „Sie haben Glück", sagte er, „Da steht gerade eine Packung auf dem Boden neben Ihnen."
„Oh!", rief die Frau aus, stellte die Packung des Pärchens auf das Band, und schien schon an der Kasse irgendeine Beruhigungs-Atem-Übung durchzuführen. Sie bezahlte mit Karte und desinfizierte sich die Hände, nachdem sie ihre PIN eingetippt hatte. „Danke! Sie sind ein Engel."
„Ich mache nur meinen Job."
„Dann ein Held!", rief sie ihm im Gehen zu.
Tim seufzte tief, stellte ein Schild auf, das seine Kasse als geschlossen deklarierte, und machte sich auf den Weg ins Lager. Mal schauen, ob sie noch Klopapier dahatten. Wenn nicht, würde er einige aufgeregte Kunden beruhigen müssen. Da wäre ihm die Superheld-Sache ja noch lieber – Immerhin erhielt man da mehr als neun Euro fünfunddreißig die Stunde.
Als seine Schicht zwei Stunden später endlich, endlich vorbei war, entledigte er sich seiner Arbeitskleidung so schnell wie noch nie, hetzte aus dem Gebäude, stopfte seine Maske in die Tasche und atmete das erste Mal seit Stunden frische, klare Luft ein. Sobald er sich in den Nebenstraßen befand, durch die er normalerweise den Weg nach Hause nahm, wählte er Stegis Nummer. Drückte sich an Autos vorbei, die die Hälfte des eh schon schmalen Bürgersteigs belegten, als Stegi endlich abnahm. „Die Arbeit war ein Albtraum heute", begann er, ohne auch nur auf Stegis Begrüßung zu warten.
Statt Worten begrüßte ihn daher Stegis Lachen. Wärmte sein Herz. „So schlimm? Sind sie an den Regalen hochgeklettert wie wilde Tiere?"
„Nur irgendein Kleinkind hat das gemacht, aber das ist normal. Nein, was ich meine ist –" Und damit begann er seine Erzählung von dem Pärchen mit dem Toilettenpapier, und der panikhaften Frau, und Leute, die sich in der Schlange ankeiften wegen dem Abstand oder weil sie etwas nicht mehr gefunden hatten oder weil das Stresslevel der Bevölkerung allgemein um 200 Prozentpunkte angestiegen zu sein schien. „Und einige Sachen sind uns sogar im Lager ausgegangen", erklärte er mit einem tiefen Seufzen, „Klopapier, natürlich. Ein paar Nudelmarken. Irgendwelche Sachen auch, von denen man das nie erwartet hätte. Total absurd. Wenn morgen die Welt untergeht, ist doch Klopapier nicht meine erste Sorge."
„Aber niemand hat dich angegriffen?"
„Noch nicht. Manche waren kurz davor, ich schwör's."
„Immerhin wirst du bezahlt", sagte Stegi mit einem leisen Lachen. „Meine Mitbewohnerin arbeitet in der Gastro, das ist vielleicht ein Stress gerade."
„Immerhin bin ich ein Held", sagte Tim. Er wich auf das Kopfsteinpflaster aus, denn der Fußgängerweg war so schmal, dass er unmöglich hindurchpassen würde. „Das wurde mir heute auch gesagt."
„Du bist ein Held für mich", entgegnete Stegi, mit einem leisen Kichern. Tim konnte sich vorstellen, wie er neben Stegi saß und ihn boxte, weil das so dumm und kitschig war, und das hätte Stegis Lachen nur lauter werden lassen, zusammen mit weiteren, noch viel kitschigeren Bemerkungen, die Tims Gehirn sich nicht einmal ausmalen konnte. Bevor er kitschig in falsch-genervtem Tonfall über das Telefon sagen konnte (Es war nicht wie das echte Erlebnis, aber es kam nah genug ran!), fuhr Stegi schon fort: „Und sonst was? Warum hast du mich angerufen?"
Tim überlegte einige Sekunden. Kickte einige Kiesel zur Seite, die klackernd in einen Abguss hinabtaumelten. „Sonst gibt's nichts Neues", sagte er. „Ich wollte nur deine Stimme hören. Und immer, wenn mir etwas passiert, dann – Na ja, dann bist du eben der Erste, dem ich davon erzählen will."
Er hatte es fast bis zum Ende der Straße geschafft, bevor Stegi darauf antwortete. „Oh", sagte er nur, so leise, dass er es kaum hörte. „Scheiße, ich vermisse dich. So sehr."
Etwas in seiner Brust schmerzte so stark, dass er überrascht war, dass er sich nicht vor Schmerzen krümmen musste. Stattdessen lief er aufrecht weiter, fischte den Haustürschlüssel aus der Tasche, weil seine Wohnung direkt um die Ecke lag. „Ja", murmelte er. „Ich dich auch."
*
Tim frühstückte eine Banane und eine Scheibe Toastbrot, weil Oskar vor zwei Tagen vergessen hatte, den Joghurt zu kaufen. Das Desinfektionsmittel im Supermarkt hatte die Einkaufsliste auf seinem Handrücken verschmiert. Wer hätte das kommen sehen können?
Oskar saß ihm gegenüber am Küchentisch, die Beine auf einem anderen Stuhl hochgelegt, und erklärte sich: „Wenn ich einen Zettel schreibe, vergesse ich den in der Wohnung, und wenn ich mein Handy mitnehme, vergesse ich, dass in meinen Notizen eine Einkaufsliste ist. Aber meine Hand? Die kann ich nicht zuhause vergessen."
„Kein normaler Mensch schreibt Einkaufslisten auf der Hand."
„Langsam solltest du wissen, dass ich Normalität verweigere." Oskar grinste. Seine Augen, die bisher auf einen Haufen mit Arbeitsblättern vor ihm gerichtet waren, sahen jetzt zu Tim auf. (Oskars Berufsschulblock war gestrichen worden, und stattdessen schickten seine Lehrer ihm Aufgaben, die er nicht besonders geflissentlich machte. Vor erst wenigen Minuten war ihm ein Schluck Kaffee, koffeinfrei, auf die Blätter geschwappt.) „Und wenn es dich so sehr stört, kannst du den Joghurt selbst kaufen."
Tim warf einen Blick nach draußen. Die Straße vor ihrer Wohnung war wie leergefegt, nur die Äste der Bäume, die die Allee säumten, bewegten sich leicht im Wind. Nieselregen tropfte gegen das Fenster. In all seiner Supermarkt-Erfahrung der letzten Wochen ging Tim davon aus, dass der Laden überfüllt und stressig und ekelhaft war. Er zuckte mit den Schultern. „So dringend ist's nicht."
„Nimm einfach welchen mit, wenn du das nächste Mal arbeitest", schlug Oskar vor. Dann wandte er sich wieder seinen Zetteln zu, kreuzte irgendwas an, seufzte entnervt.
Tim schob sich das letzte Stück Toastbrot in den Mund und spülte es mit einem Schluck Kaffee, viel Milch, Zucker, koffeinfrei, herunter. Das mit dem koffeinfrei war Oskars Werk – Während des Semesters hatte selbst Tim, der Kaffee nie hatte leiden können, welchen getrunken. Auch jetzt tat der Placebo-Effekt des Getränks noch sein Werk. Oskar bestand dementsprechend auf einen Koffeinentzug während der Ferien: Schließlich schlief Tim sowieso jeden Tag, an dem er nicht früh arbeiten musste, aus. („Ich hasse Studenten", verkündete Oskar jedes Mal, wenn Tim um 12 Uhr verschlafen in das Küchen-Wohnzimmer stolperte.)
Mit einem noch genervteren Seufzen ließ Oskar seinen Stift fallen und schob die Zettel zur Seite. „Die halten uns für so ungebildet", sagte er und rollte mit den Augen, „Ich lerne gerade Satzbau."
„Nomen, Prädikat, Objekt?"
„Subjekt, Prädikat, Objekt." Oskar riss einen Teil seines Arbeitsblattes ab, knüllte es zusammen, und warf es Tim gegen die Stirn. Dieser pulte das kaffeenasse Stück Papier mit einem angeekelten Gesichtsausdruck ab. „Und sowas lassen sie an die Unis." Das lockere Grinsen auf seinem Gesicht machte deutlich, dass er scherzte.
Tim lachte und warf den Papierknödel in den Mülleimer. Da er eh schon aufgestanden war, legte er auch sein Geschirr in die Spüle und drehte sich zu Oskar um, Arme verschränkt. Von hier aus war der Blick aus dem Fenster noch besser. Ein Taubenschwarm kreiste über das gegenüberliegende Dach, und als er die Augen zusammenkniff, erkannte er, dass einer ihrer Nachbarn sich aus dem Fenster lehnte und Brotkrumen in ihre Richtung schmiss. „Was glaubst du, wie lange das noch so weitergeht?", fragte er.
„Du an der Uni?" Oskar runzelte die Stirn. „Solange du Bock hast, schätze ich. Oder bis du fertig bist."
„Nein. Ich meine – der ganze Quarantäne-Kram. Unserem Nachbarn ist so langweilig, dass er Tauben füttert, und ich..."
Oskar unterbrach ihn: „Es ist keine –"
„Keine Quarantäne, ja, ich weiß."
Oskar grinste. Er lehnte sich zurück, bis er mit dem Stuhl auf den Hinterbeinen kippelte, tippte mit einem Finger einen Rhythmus auf den Tisch. Tap. Tap. Tap. „Kommt drauf an, was du mit Der ganze Kram meinst", sagte er. „Homeoffice haben wir bestimmt nicht für immer, das ist schlecht für die Wirtschaft, und wir wissen ja, wie's da mit den Prioritäten aussieht. Der Impfstoff dauert noch. Ein Jahr, vielleicht, laut ersten Prognosen. Aber die Kontaktbeschränkungen werden nicht dauerhaft –"
„Oskar", seufzte Tim und lehnte den Kopf in den Nacken, „Keine Nachrichten. Das deprimiert nur. Ich brauche ein bisschen Hoffnung, wenn ich hier nicht die Wände hochlaufen will."
„Sorry." Oskars Tippen auf dem Tisch wurde schneller, taptaptap. Er ließ den Stuhl zurück in seine normale Position fallen. „Es wird dauern, bis das hier ganz vorbei ist, und ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, aber – Du wirst Stegi bald wiedersehen können. Keine Sorge. Und ich Luca. Wir müssen nur noch ein bisschen warten."
Tim brachte ein Lächeln zustande. „Danke."
Dabei war das nicht so aufmunternd, wie es ihm lieb wäre. Er wusste nicht, was aufmunternd gewesen wäre, außer, dass er heute noch den Zug nehmen konnte. Aber das war unmöglich, und das war nicht Oskars Schuld. Er hatte keine Lust mehr, auf Stegi zu warten. Er hatte so viel Zeit seines Lebens damit verbracht, auf etwas zu warten, Tage herunterzuzählen, mit klopfendem Herzen am Bahnhof auf seinen Zug zu warten. Dieses Mal gab es nicht mal einen Countdown, an den er sich klammern konnte.
Er spülte seinen Teller und sein Messer ab, warf die Bananenschale in den Biomüll, und verabschiedete sich aus der Küche. Vielleicht würde er heute mit Stegi telefonieren. Vielleicht würde er ihm von dem Countdown-Gedanken erzählen. Der Gedanke daran ließ ein Lächeln der Vorfreude auf seinem Gesicht erscheinen, und dann fiel ihm auf, wie traurig das war.
Tim war so müde, unabhängig von dem Koffeinentzug.
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