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c o n t r a s t
mai 2019
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Allison || Das Licht des Empire State Buildings wirkt wie ein Glühwürmchen am Himmel der Nacht, die in New York City niemals richtig dunkel wird. Das Gebäude ist so klein, kaum zu erkennen und man kann bloß raten, woher die Lichtquelle stammt. Dennoch bedeutet es mir die ganze Welt, zeigt es mir doch, dass ich mich wirklich hier befinde. Die Stadt, die niemals gänzlich schläft, ist ein weiterer Schritt, um mein Fernweh zu stillen.
Sie leuchtet und strahlt, entfacht das Feuer meines Herzens und lässt mich Träume leben, die ich nicht einmal kannte, bevor ich den ersten Schritt aus dem Flugzeug tat.
„Kannst du nicht schlafen, Schnecke?"
Ich sehe lächelnd zu meinem älteren Bruder herüber, der mit nackten Füßen in die kleine Küche tapst, die mit uns beiden zu voll wirken würde, hätten wir nicht in all den Jahren gelernt, unseren Platz miteinander zu teilen. In seiner Hand hält Seth seine Lieblingstasse mit den Gummibärchen, die bereits jahrelang sein Begleiter ist. Müsste ich ihn malen, dann würde ich ihn genauso aufs Papier bringen. Leicht verschlafen, mit warmen Augen und dieser Tasse in der Hand, in der sich ohne Zweifel der Brombeertee befindet, den er inhaliert als wäre er seine Luft zum Atmen.
„Ich könnte schon schlafen, ich will nur noch nicht", antworte ich gähnend.
Seth stellt sich neben mich an das kleine Küchenfenster und schaut nach draußen. Direkt vor unseren Füßen tobt das Chaos eines Viertels, das in den Köpfen der meisten längst vergessen ist. Doch die Mieten sind billig und der Weg in die Stadt seines Herzens ist nur ein Katzensprung weit weg mit der Metro, die niemals still stehen zu scheint. Unaufhörlich rauschen die Bahnen unter unseren Füßen vorbei, ein leichtes Rascheln, das die ganze Wohnung erfüllt und lebendig wirken lässt.
In meiner ersten Nacht habe ich mich erschrocken, bis Seth mir lachend erklärte, dass das wahrlich kein Erdbeben sei, sondern bloß eine nette Nebenerscheinung der Stadt, die niemals schläft. Seiner neuen Heimat, die mir nicht fremder sein könnte.
Ein Lächeln umspielt Seths Lippen, das ich erwidere. „Anfangs ging es mir auch so, Schnecke. Da wollte ich die Augen gar nicht schließen, auch wenn sie mir schon fast zugefallen sind."
Meine Ellbogen stützen sich auf dem rauen Fensterbrett, das schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. Alles in dieser Wohnung wirkt alt, leicht verfallen und ich könnte es nicht mehr lieben, denn mein Bruder hat mit einigen Handgriffen ein Paradies geschaffen. Er besitzt nicht viel, aber alles steht an seinem rechten Platz und sofort habe ich mich heimisch gefühlt. Vielleicht liegt es auch an der hellblauen Decke, die einst in meinem Kinderbett lag oder an dem schiefgegossenen Salzstreuer, den unser Bruder Drake in der High School gebastelt hat. Der knallpinke Frosch hat sich einen Ehrenplatz über der Abzugshaube erobert.
„Gewöhnt man sich irgendwann daran? An all die Lichter und den Lärm, Sethie?"
Er schüttelt lächelnd den Kopf. „Nein, das tut man nicht. Aber ich möchte es auch gar nicht, denn gerade das macht New York so einzigartig."
Gedankenverloren drehe ich meine Teetasse in die Hand, die sich bereits seit langer Zeit zwischen meinen Fingern befindet. Die heiße Schokolade ist längst kalt geworden, bloß eine lauwarme Wärme erinnert an ihren vorherigen Zustand, den sie nie wieder erreichen wird.
„Vermisst du Manchester trotzdem manchmal?" Meine Stimme ist leise und dennoch viel zu laut in diesen Backsteinwänden, die Geschichten von vergangenen Zeiten erzählen.
Seth zieht mich an sich und ich lege meinen Kopf an seine Schulter. „Natürlich vermisse ich Manchester manchmal. Aber am meisten vermisse ich dich und Drake. Eine Stadt ist austauschbar, Familie nicht."
„Ich vermisse dich auch, Sethie. Dich, Drake, Mum und Dad." Ich schlucke, während ich die Augen schließe und das erste Mal seit Stunden das Empire State Center ignoriere. „Und Harry. Manchmal denke ich nicht einmal an ihn und in der nächsten Sekunde ist seine Abwesenheit so schmerzhaft, das ich heulen könnte."
Seths Körper bebt leicht an meinem, während er ein Lachen unterdrückt. Als ich meine Augenlider wieder aufschlage, sehe ich seine zusammengepressten Lippen, die zittern, während er versucht, keinen Laut zu machen. Ich durchschaue ihn dennoch.
„Was ist los, Sethieboy?"
Mein Bruder lehnt sich an die Backsteinwand und dreht sein Gesicht in meine Richtung, um mich besser ansehen zu können. Seine müden Augen wirken alt und erwachsen, ganz anders als ich ihn in Erinnerung habe. Jedes Mal wenn ich ihn wiederbekomme, habe ich einen Teil von ihm verlernt in den Wochen und Monaten, die wir uns nicht persönlich begegnen. Es ist nicht schlimm, sondern bloß der Lauf der Zeit, der uns immer wieder einholen wird. Fremd ist er mir dennoch nie, schlagen unsere Herzen doch im gleichen Takt.
„Ich glaube, es wird Zeit für meinen Wetteinsatz", beschließt er. „Ich habe eine Frage gut und du musst ehrlich antworten. Erinnerst du dich?"
Seufzend stimme ich zu, denn ich erinnere mich sehr wohl an das verlorene Tanzbattle, das ich bis ans Ende meines Lebens nicht vergessen werde. Selten fühle ich mich so frei wie in den Momenten, in denen ich die Ehre habe, gemeinsam mit meinem Bruder über den Boden zu gleiten und mich schwerelos zu fühlen. Diese Momente, die einem den Atem rauben und das Herz höher schlagen lassen, die einen daran erinnern, wie es sich anfühlt zu genießen und einem Angst vor dem Tod machen können, diese Augenblicke sind es, wofür es sich zu leben lohnt.
„Bist du in Harry verliebt?" Fragend sieht mein Bruder mich an.
Die Antwort könnte gleichzeitig nicht leichter oder schwerer sein. Sie verbrennt mein Inneres, während der Weg über meine Zunge eine Ewigkeit dauert.
„Ja, ich glaube schon", murmele ich schließlich. Meine Worte sind leise und donnernd wie ein Orkan.
Seth nickt nachdenklich, während er einen kleinen Schluck Brombeertee nippend zu sich nimmt. Alles an ihm ist bedacht, während Drake nun das Haus einreißen würde. Doch so ist mein älterer Bruder nicht. Er überdenkt, wiegt ab und ist die Ruhe vor dem Sturm, die letztendlich so viel gefährlicher sein kann.
„Läuft wieder etwas zwischen Harry und dir?"
Der süße Geruch seines Tees dringt in meine Nase und lässt meinen Magen knurren, erinnert mich daran, dass ich bereits Stunden an diesem Fenster stehe und in die Ferne starre, die ich nie im Leben wahrlich begreifen werde. Das hier ist New York, das jeden Willkommen heißt und dennoch nie all seine Geheimnisse preisgeben wird. Ich habe die Stadt bereits einmal erleben dürfen, vor all den Jahren, gemeinsam mit dem Jungen, dem damals mein Herz gehörte. Dem es wieder gehört, ohne dass er auch nur die geringste Ahnung hat.
„Harry und ich haben uns geküsst", wispere ich.
Die Wahrheit springt wie ein Feuerball durch das Apartment, so gefährlich und einvernehmend, das ich mich ducken will, um seinem Ausmaß zu entkommen. Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche, doch die Worte schreien schon seit Tagen in meinem Inneren, lassen mich nachts wach liegen und den Moment immer wieder erleben, während ich am liebsten weinen würde.
„Weiter nichts?"
Mein Bruder wirkt wie der Fels in der Brandung wie er in diesem kleinen Apartment gegen die Mauer gelehnt steht und die Welt anhalten könnte. Er verurteilt mich nicht, zieht keine Schlüsse, sondern hilft mir bloß dabei, meine Gedanken zu ordnen. Denn das ist Seth.
„Wir haben in einem Bett geschlafen, aber nein, mehr ist nicht passiert."
„Und was hat Harry zu dem Kuss gesagt, Schnecke?"
Leichter Regen beginnt vom Himmel zu prasseln und versperrt mir einen Moment lang die Sicht auf das Wunder New Yorks, das sich beständig in der Ferne abzeichnet. Eine Welt, verborgen und doch von allen direkt zu erkennen.
Ich seufze. „Wir haben nicht über den Kuss geredet. Am nächsten Morgen ist Harry weg gewesen, weil er wieder auf Tour musste. Keine Ahnung wie er darüber denkt."
Die Regentropfen prasseln sanft auf das Fensterglas. Es ist kein Kampf, kein Ringen, sondern eine leichte Umarmung, um daran zu erinnern, was das Universum alles zu bieten hat. Ich wünschte, ich könnte meine Hand durch das Glas strecken und sie auf meine Haut fühlen, eine Erinnerung daran, dass ich am Leben bin.
„Irgendwie ist es ohnehin merkwürdig zwischen Harry und mir in letzter Zeit", meine ich leise.
Seth schnaubt. „Meinst du nicht, dass es daran liegen könnte, dass ihr euch geküsst und immer noch nicht darüber geredet habt?"
Meine Finger legen sich gegen das kalte Fensterglas, das mich vom Nachthimmel New Yorks trennt.
„Das wahrscheinlich auch", gebe ich zu. „Aber es ist vor dem Kuss schon merkwürdig gewesen. Außerdem hatten wir einfach noch keine Zeit zum Reden."
Selbst mit verschlafenen Augen und zerrissenem Schlafshirt sieht mein Bruder noch anmutig aus, während er sich in meine Richtung vorbeugt und mich mit einem Blick mustert, der jeden durchschauen könnte.
„Du läufst weg vor dem Risiko, Schnecke. Das tust du immer und es ist nicht gut."
Meine Finger verkrampfen sich um die Tasse, die längst überflüssig geworden ist. Ich bringe sie zur Arbeitsplatte, mir mit jedem Schritt bewusst, dass Seth mich nicht eine Sekunde aus den Augen lässt.
Als ich wieder beim Fenster angekommen bin, meine Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, den Blick geradeaus gerichtet, fühlen sich meine Finger leer an. Doch es ist nicht die Tasse, die sie vermissen.
„Es ist einfach alles so kompliziert mit Harry, weißt du? Sein ganzes Leben ist kompliziert, so anders und das macht es alles andere als einfach."
Ein kleines Lächeln umspielt Seths Mundwinkel. „Liebe muss auch nicht einfach sein, sondern bloß echt."
„Aber woher weiß man, dass die Liebe einem gut tut?", seufze ich.
Mein Bruder folgt nachdenklich meinem Blick, vorbei an dem heruntergekommenen Viertel vor seinen Augen, vorbei an den zerrissenen Mülltüten auf der anderen Straßenseite, gerichtet in eine Zukunft, die ich nicht zu lesen vermag.
„Das weiß man nicht, Schnecke. Aber es herauszufinden, ist wahrscheinlich das Schönste im Leben."
Mit einem Grinsen stupse ich ihn an. „Ich dachte, Tanzen wäre das Schönste im Leben?"
Lachend schlingt er mir einen Arm um die Schulter. „Das auch."
Es ist still in dieser Einzimmerwohnung am Rand der Welt, die gleichzeitig so pulsierend und schreiend ist. Wir schweigen, während meine Gedanken wirbeln. Wir denken, während ich es gleichzeitig doch nicht kann.
„Du kannst Harry nicht einmal leiden", flüstere ich schließlich.
„Ich konnte ihn mal leiden, bevor er dein Herz gebrochen hat."
Seths fährt sich durch die blonden Haare, die meinen so ähnlich sind. Gleichzeitig fühle ich mich ihm in diesem Augenblick lang eine Sekunde so fremd, als wäre ich ihm nie begegnet.
„Davor habe ich so große Angst, weißt du? Harry hat es bereits einmal getan, was hindert ihn daran, denselben Fehler nochmal zu machen?"
Der Regen wird lauter, so kreischend, dass er beinahe seine nächsten Worte für immer in der Dunkelheit verschwinden lässt. Doch sie sind stärker, kämpfen darum, erhört zu werden.
„Diese Frage wird dir niemand beantworten können. Nicht einmal du selbst. Du wirst einfach entscheiden müssen, ob Harry das Risiko wert ist."
Meine Zähne bohren sich schmerzhaft in meine Unterlippe. „Ist er das denn? Ist das überhaupt ein Mensch wert?"
„Das wird dir nur dein Herz sagen können, Schnecke." Seth schenkt mir ein kryptisches Lächeln, das mich wahnsinnig werden lässt. „Ich gehe schlafen, kommst du auch?"
Ich schüttele langsam den Kopf, denn ich bin noch nicht bereit, die Lichter der Stadt alleine zu lassen. „Nein, ich bleibe noch ein wenig hier."
„Bleib nicht zulange, morgen wollte ich dir den Rest der Stadt zeigen", lächelt Seth und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Schnecke."
Mein Bruder legt mir meine Babydecke über die Schulter, bevor er mit anmutigen Schritten wieder ins Schlafzimmer verschwindet und ich kuschele mich in den immer noch weichen Stoff.
Die Decke erinnert mich an meine Kindheit, in der alles so viel einfacher erschien. Damals wollte ich nichts mehr, als erwachsen zu werden. Doch heute sehne ich mich nach den Jahren, in denen eine Umarmung meiner Mutter die Welt heilen konnte.
Meine Finger ziehen den Zettel aus meiner Hose, den ich in den letzten Tagen so oft gewendet habe, dass die Farbe bereits verwischt. Der einstig blaue Ton wirkt nun eher schmutziggrau und einzige Worte sind für einen Fremden nicht mehr zu entziffern. Ich kenne sie allerdings ohnehin auswendig, spielen sie sich doch wie ein Lieblingslied in meinem Kopf ab, dessen Noten ich nie vergessen kann.
‚Ich wollte dich nicht wecken, du siehst so friedlich aus, wenn du schläfst. Wir sehen uns, wenn ich wieder in London bin. PS: Es war schön mit dir, Al. PPS: Ich vermisse dich jetzt schon.'
Die Worte sind alles, was ich von Harry habe, seitdem er aus meiner Wohnung verschwunden ist und bloß den Zettel auf dem Kopfkissen zurückgelassen hat. Ohne das Papier und seinem einzigartigen Geruch, der sich in der Bettdecke verfangen hat, hätte ich geglaubt, dass ich diese eine Nacht bloß geträumt hätte. Doch dieser Abend ist passiert, unsere Küsse sind geschehen und sie werden alles verändern, da bin ich mir sicher. Nur weiß ich noch nicht, ob sie alles ins Chaos stürzen werden.
Immer wieder drehe ich den Zettel in meinen Fingern, der ein knisterndes Geräusch von sich gibt und mich mit Rätseln zurücklässt, die ich nicht zu lösen vermag.
Das Empire State Building flackert in der Ferne, unruhig und voller Elan, wie alles in dieser Welt abseits vom Rest des Universums.
Auf den Straßen dieser Stadt habe ich vor den Jahren die wichtigste Erkenntnis meines Lebens gehabt, denn in New York habe ich das erste Mal verstanden, dass ich Harry wahrlich liebte. Mit all meinem Herzen und bedingungslos. Es machte mir mehr Angst als alles andere, während es mich gleichzeitig fliegen ließ.
In dieser schlaflosen Zeit habe ich das erste Mal mein Herz verschenkt und nach dem ersten Mal wird man es nie wieder gänzlich zurückbekommen. Es ist immer auf Reise, immer auf der Suche.
Doch niemand kann ihm klar machen, dass es in tausend Stücke zerspringen und nie wieder heilen kann, wenn es nicht auf sich aufpasst.
Ich lasse den Zettel wieder in meiner Hosentasche verschwinden und wickele die blaue Babydecke enger um mich, denn plötzlich ist mir trotz des heraneilenden Sommers bitterkalt.
Mein Handy zerstört die Stille der Nacht, die in den letzten Minuten und Stunden bloß durch vereinzeltes Hupen durchbrochen wurde, so plötzlich, dass ich zusammenzucke. Mit starren Fingern ziehe ich es aus meiner Hosentasche, brauche ein wenig, bis ich es endlich befreien kann und drücke es mir dann ans Ohr.
„Guten Morgen, Al."
Harrys Stimme zaubert mir direkt ein Lächeln auf die Lippen, ich kann mich nicht dagegen wehren und ich hasse es.
„Es ist mitten in der Nacht. Ich bin seit gestern in New York bei Seth", erinnere ich ihn.
Wir haben nicht viel Kontakt gehabt in der letzten Woche, bloß einige Textnachrichten, doch von meiner Reise habe ich ihm dennoch berichtet. Er ist die erste Person, der ich erzählen musste, dass ich von meinem ersten eigens verdienten Geld den billigsten Flug in die Staaten gebucht habe, den ich ergattern konnte.
„Entschuldige, das hatte ich vergessen. Aber falls es zumindest etwas tröstet, bei mir in San Francisco ist es gerade auch mitten in der Nacht."
„Das tröstet nicht wirklich." Lachend klemme ich mir das Handy hinter das Ohr, um die Decke fester um mich wickeln zu können und lasse mich schließlich auf das kleine Sofa fallen, dass Seth erfolgreich zwischen Esstisch und eine halb vertrocknete Pflanze gequetscht hat.
„Warum rufst du an, Harry?"
„Darf ich nicht einfach meine beste Freundin anrufen?"
Ich verdrehe die Augen. „Doch natürlich. Aber wenn du dir dafür extra den Wecker stellst, muss es etwas Wichtiges sein."
Ich höre, wie er rasselnd nach Atem ringt. „Du gehst mir schon wieder aus dem Weg, ignorierst meine Anrufe und früh am Morgen ist die beste Zeit, um dich zu überrumpeln."
Meine Finger fahren über den Riss im grauen Stoff des Sofas, aus dem bald der Inhalt herausquirlen wird. Doch noch ist er lebensfähig, noch existiert er und gibt mir Hoffnung. Er hat schwere Zeiten überstanden und ist trotzdem noch hier in diesem Apartment, das ein Leben so schwierig gestaltet.
„Ich gehe dir nicht aus dem Weg. Die letzte Woche war bloß sehr viel zu tun. Du weißt doch, Reisevorbereitungen und so."
Harry lacht bitter. „Komm schon. Du kannst nicht wirklich erwarten, dass ich diese Lüge schlucke. Man kann nicht so viel Koffer packen, dass du zwanzig Anrufe von mir verpassen und nicht zurückrufen kannst."
Ich bleibe stumm, weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Ich vermisse die Stille, die Ruhe und Einfachheit der Nacht. Selbst mein Atem klingt zu laut in diesen vier Wänden und ich wünschte, dass ich mich den Regentropfen anschließen könnte, die sich langsam den Weg am Fensterglas herunterbahnen, um schließlich zu verschwinden und nie wieder gefunden werden zu können.
„Wir müssen wirklich reden, Al."
Ich schüttele panisch den Kopf. So verzweifelt, dass ich einen Moment brauche, bis ich realisiere, dass er mich gar nicht sehen kann. Das hier ist eine Überraschung der bösesten Art und ich kann schon die guten nicht leiden.
„Das halte ich für keine gute Idee", murmele ich.
„Ich werde nicht noch einmal ignorieren, dass wir uns geküsst haben. Das kann ich nicht, Al."
Mein Herz schlägt panisch und kommt doch nicht von der Stelle.
„Das meine ich auch nicht", wispere ich. „Aber wir sollten das nicht am Telefon klären, sondern persönlich."
Harry seufzt und ich muss ihn nicht vor mir sehen, um zu wissen, dass er in diesem Moment kleine Kreise in seinem Hotelzimmer dreht. Wahrscheinlich bemüht er sich, niemanden zu wecken, doch alles an ihm ist laut, so sehr er sich auch anstrengt.
„Wie bitte stellst du dir das vor? Ich bin die nächsten Wochen auf Tour und dann muss ich ein paar Tage in Los Angeles bleiben wegen des Filmdrehs."
Die Filminformation ist mir neu, doch jetzt gerade ist nicht der richtige Zeitpunkt, um näher darüber nachzudenken. Es überrascht mich auch nicht wirklich, denn obwohl Harry immer schon über alles mit mir geredet hat, kommen die wichtigen Details oftmals viel zu spät.
„Wir können reden, wenn du wieder in London bist. Bis dahin können wir die Zeit nutzen, um uns darüber klar zu werden, was wir eigentlich wollen."
Nun werden seine Schritte so laut, dass ich sie selbst durch das Telefon vernehmen kann.
„Ich weiß, was ich will, Al! Ich –"
„Ich aber nicht, Harry", unterbreche ich ihn. „Und ich will das von dir jetzt auch nicht hören."
„Reden wir dann gar nicht mehr bis dahin? Soll ich dich wochenlang ignorieren?", entgegnet er und wäre die Situation nicht so verkorkst, dann würde ich lachen über den leicht beleidigten Unterton in seiner Stimme. Doch der Zeitpunkt könnte nicht furchtbarer sein, weswegen ich nur nach Luft schnappen und dennoch nicht genug von ihr durch meine Lungen pumpen kann.
„Das habe ich nicht gesagt", erwidere ich. „Wir können über alles andere reden, bloß darüber nicht."
Irgendwo wird eine Tür zugeworfen und ich weiß nicht, ob es bei Harry ist oder Seths Nachbar, der immer spät in der Nacht völlig betrunken nach Hause kommt.
„Also willst du wirklich wochenlang das Thema umgehen?" Harrys Stimme klingt verloren und es tut mir im Herzen weh.
„So schwierig wird das wohl nicht sein", murmele ich. „Wir unterhalten uns ansonsten doch auch über alles Mögliche. Wir werden genug zum Reden haben."
„In Ordnung, wenn du das so willst." Er seufzt und es klingt, als würde er gegen die ganze Welt kämpfen. Schließlich holt er zittrig Atem und als er erneut spricht, vernehme ich einen vermeintlich fröhlichen Unterton, der den Rest der Menschheit täuschen würde, doch mich nicht. „Wie gefällt dir New York? Erzähl mir, was ihr schon gemacht habt."
Und ich erzähle ihm Alles.
Ich erzähle ihm wie ich bei Seths erstem Live-Auftritt so beeindruckt war, dass ich einen Moment lang nicht atmen konnte. Ich erzähle ihm von dem kleinen Café an der Straßenecke in dem sonst so heruntergekommenen Viertel, das die besten Schokoladencroissants der Welt anbietet. Ich erzähle ihm von Seths neuer Freundin, die ich direkt ins Herz geschlossen habe und die mich in die Fashionwelt einführen will, auch wenn ich mich beharrlich dagegen weigere.
Ich erzähle Harry alles, während ich ihm gleichzeitig doch das Wichtigste vorenthalte.
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Ihr Lieben,
Irgendwie führen Allys Wege immer wieder nach New York. Dort trifft sie einige wichtige Entscheidungen und findet einige neue Erkenntnisse, sowohl in diesem Kapitel als auch in der Vergangenheit.
Ich persönlich liebe Seth ja und deswegen bin ich total happy gewesen, dass ich ihm noch einen kleinen Auftritt geben konnte.
Ally läuft mal wieder davon, so wie immer. Aber zumindest Harry hat sich endlich mal entschieden. Was glaubt ihr, wie seine Erkenntnis aussieht?
Und glaubt ihr, dass Allys Ausweichtaktik ihr irgendwann um die Ohren fliegen wird?
Ein Kapitel und der Epilog fehlen noch, dann ist es auch schon wieder vorbei. Das nächste Kapitel kommt wie gewohnt am nächsten Dienstag, der Epilog eventuell dann schon am nächsten Wochenende ;)
Danke wie immer für eure Unterstützung!
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