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c l i m a x
dezember 2018
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Allison || Die letzten vierundzwanzig Stunden eines Jahres haben die merkwürdige Angewohnheit, sich wichtiger zu machen als sie es eigentlich sind. Bloß tausende an Sekunden, gleich wie jede andere, und dennoch messen wir ihnen so viel mehr Bedeutung zu. Die Zeit wird wichtiger in unseren Köpfen, wenn sie langsam abläuft. Erst wenn sich ihr Ende naht, bekommen wir sie plötzlich bewusst mit, wie kleine Nadelstiche, die sich unweigerlich immer weiter in unser Herz bohren.
Auch heute kommt es mir so vor, als würden alle Gäste dieser Party verzweifelt versuchen, so viel Spaß wie möglich in den letzten Tag des Jahres zu quetschen. Die ganze Scheune ist erfüllt von herzlichem Gelächter und glitzernden Augen, wobei die meisten Personen schon mehr Alkohol als nötig in ihren Körpern haben.
Etwas verloren stehe ich zwischen all diesen Fremden, die ich bestenfalls flüchtig kenne und versuche mein Bestes, um beschäftigt auszusehen.
„- hat er sich einfach in den Blumentopf übergeben", erzählt mir April kichernd.
Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln, um dem Mädchen zu verstehen zu geben, dass ich ihrer Geschichte wirklich gefolgt bin. Sie ist gemeinsam mit Harry zur Schule gegangen und wirklich nett, doch ich habe es immer schon gehasst, wenn ich in unbekannte Situationen geworfen werde.
„Hier." Harry drückt mir ein Glas Cola in die Hand und ich bin so erleichtert, dass er wieder hier ist, dass ich ihm direkt verzeihe, dass er mich vor einer halben Stunde einfach stehengelassen hat.
Wir sind bereits seit ein paar Stunden auf dieser Party, zu der er mich überredet hat und so langsam bereue ich meine Entscheidung, denn ich habe kaum wirklich Zeit mit Harry verbringen können. Immer wieder stürzt sich jemand begeistert auf ihn, beteuert, dass sie sich viel zu lange schon nicht mehr gesehen haben und dann ist er direkt wieder im nächsten Gespräch verwickelt, während ich mit einem halben Lächeln daneben stehe, jedoch nicht wirklich viel zu der Unterhaltung beitragen kann.
Es gab Zeiten, da dachte ich, dass Awardshows anstrengend sind. Der heutige Abend toppt diese jedoch noch einmal, da ich bei den meisten Kindheitserinnerungen aus Harrys Schulzeit einfach gar keinen Gesprächsbeitrag leisten kann.
„Danke für die Cola, Harry", murmele ich in seine Richtung, was er jedoch nicht einmal mehr hört, weil er bereits mit April über ein Sackhüpfturnier der Vergangenheit redet.
Ich stehe nickend daneben und nippe verloren an meinem Getränk, während mein Blick in Richtung der uralten Uhr gleitet, die an den Wänden der Scheune befestigt ist. Die Zeiger kommen mir vor, als würden sie rückwärts wandern und mir gleichzeitig wertvolle Zeit klauen, die ich mit Harry verbringen könnte.
Einzig die Location vermag dem Abend etwas Gutes zu geben. Die uralten Holztüren quietschen bei jedem Windzug und die Heuballen auf dem Boden haben etwas sehr Gemütliches, können jedoch den Landgeruch dennoch nicht ganz übertuschen. An den Balken hat jemand behelfsmäßig eine Diskokugel angebracht, deren Schiefe der Location einen eigenen Charme gibt. Sie wirft bunte Lichter durch den Raum, auf die tanzende Menge, das Buffet in der Ecke, die Zigarette in den Händen von Harrys Schulfreund Dorian. Es ist die High-School Party, die Harry während seiner Schulzeit nie erleben durfte, weil er viel zu früh aus seiner vertrauten Umgebung gerissen wurde. Er ging nach London die Welt erobern, während seine Freunde ihre eigene Welt aufbauten, hier in dieser Kleinstadt fernab von dem Leben der Metropolen der Welt.
Während Harry sich mit April unterhält, kann ich an seinen funkelnden Augen sehen, dass er diesen Moment hier so genießt. Die Augenblicke, die ihm durch den Ruhm gestohlen wurden. Das ist der Grund, warum ich mich ebenfalls zum Lächeln zwinge und versuche, das Beste aus diesem Abend zu machen.
„Alles okay bei dir, Al?", murmelt Harry mir ins Ohr, wobei seine Worte durch die Lautstärke der Musik nur schwer zu verstehen sind.
„Alles gut", schwindele ich.
Er durchschaut mich dennoch, natürlich tut er das. Während ich für die meisten Menschen das Geheimnis des Lebens bin, hat Harry meinen Code schon vor Ewigkeiten geknackt. Ich kann ihn nicht täuschen, ihm nichts vormachen, ihn selbst zu seinem eigenen Besten nicht belügen.
„Was ist los?" Ich kann die Besorgnis in seinen grünen Augen erkennen.
„Nichts Wichtiges, mir geht es sicherlich gleich besser. Genieß einfach deinen Abend", bitte ich ihn.
„Genau das habe ich vor, solange du auch Spaß hast, Al."
„Habe ich", versichere ich und zwinge mich, ihm in die Augen zu schauen, um ihn von der Wahrheit zu überzeugen. Es ist keine Lüge, denn solange er glücklich ist, bin ich es auf eine Weise ebenfalls.
Harrys Arm legt sich wie selbstverständlich über meine Schulter, als würde er nirgendwo anders hingehören. Die neugierigen Blicke seiner alten Schulfreunde ignoriert er gekonnt, während sie mich jede Bewegung, jeden Satz und jeden Atemzug überdenken lassen.
„Deine Freunde bekommen ein ganz falsches Bild von uns, Harry. Dorian hat mich vorhin schon gefragt, seit wann wir wieder zusammen sind."
Ich versuche, seinen Arm abzuschütteln, doch er weigert sich mich loszulassen und schenkt mir bloß ein freches Grinsen.
„Sollen sie doch denken, was sie wollen", flüstert er mir ins Ohr.
Ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren, wie der leichteste Windhauch, der zu kämpfen und zu schlichten weiß, jedoch letztendlich immer wieder im verbittertsten Chaos endet. Ich hasse Harry dafür, dass selbst diese kleinste Berührung mir eine Gänsehaut bereiten kann, mich fühlen lässt, als würde ein Regenbogen in meinem Inneren explodieren. Ich bin verloren, ertrinke in meinem Herzen und kann die Reißleine nicht sehen, ist sie doch schon vor so langer Zeit von ihm durchschnitten worden.
„Weißt du noch wie Sean in der zwölften Klasse mit Florence ausgegangen ist, bis ihre Mutter davon Wind bekommen hat? Man, war das ein Drama", erzählt April lachend.
Harry neben mir lacht ebenfalls, ich kann das Heben seiner Brust an meiner Seite spüren, doch ich höre, dass es kein echtes Lachen ist. Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was der Grund dafür ist, doch dann fällt mir ein, dass er zu der Zeit schon längst nicht mehr in Holmes Chapel wohnte. Es ist das Leben, das er nie gelebt hat.
Das Leben, in dem man Erfahrungen sammeln darf, ohne dass jeder Schritt beobachtet wird.
Das Leben, in dem man Fehler machen darf, ohne dass die Presse einen zerreißt.
Momente, so selbstverständlich, dass niemand sie auch nur hinterfragt. April nicht, während sie ihre Geschichte zum Besten gibt. Ihre Freundin nicht, die sich lachend über die Worte amüsiert. Der Jungen neben ihr nicht, während er wie selbstverständlich seine eigenen Erinnerungen an das Ereignis ergänzt.
Einzig Harry und ich sind außen vor. Mein Herz schmerzt für den Jungen an meiner Seite, der immer ein Stück Holmes Chapel in sich tragen wird, während sich seine Heimatstadt doch in solchen Momenten längst von ihm abgewendet hat.
Vorsichtig lehne ich meinen Kopf an Harrys Schulter, in dem Versuch, ihm Trost zu spenden. Dabei ist es mir auf einmal egal, was die anderen von uns denken können, denn das einzig Wichtige ist es, dass es ihm besser geht. Seine Finger malen sanfte Kreise auf meinen Oberarm, während er mir ein Lächeln schenkt.
„Danke, dass du heute mitgekommen bist, Al", murmelt er in meine Richtung, während die anderen sich immer noch über Florences Drama unterhalten.
Ich schenke ihm ein Lächeln. „Für dich immer."
Die Wahrheit hinter meinen Worten schmerzt, denn ich würde bis ans Ende der Welt für ihn gehen, während er mich auf der Hälfte der Strecke schon vergessen haben wird.
„Lass uns von hier abhauen, Al."
Ich nicke und lasse zu, dass er meine Hand nimmt, während wir uns durch die Menge schieben. Die Scheune ist zu klein für all die Leute, das Gedränge groß und ich bin mir bewusst, dass das der einzige Grund ist, warum er meine Finger mit seinen verschränkt. Dennoch gebe ich mich der Illusion hin, dass wir uns an den Händen halten, einfach weil wir es wollen. Weil es das ist, was unsere Herzen voneinander trennt und unsere Finger die Brücke zwischen unseren Seelen darstellt. Vor Jahren einmal ist es so gewesen, doch Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen.
Die Tür der Scheune fällt mit einem lauten Knall hinter uns zu und sofort zieht Harry seine Hand aus meiner, als wäre ich die Bombe, die jeden Moment explodieren kann.
„Wohin gehen wir denn?" Fragend sehe ich Harry an, während er mich durch die Straßen seiner Heimatstadt führt.
Die Dunkelheit der Nacht wirft lange Schatten in sein Gesicht, nur durchbrochen von dem gelblichen Licht der Straßenlaternen, ein Stück Hoffnung selbst in den finstersten Stunden.
„Lass dich überraschen." Das Grinsen auf seinen Lippen ist so breit, dass ich es selbst in London noch sehen könnte.
„Du weißt, dass ich Überraschungen hasse", grummele ich. Aber ich kann ihm doch nicht wirklich böse sein, nicht, wenn er dieses unglaubliche Lächeln auf den Lippen trägt, das Kriege beenden kann und Worten ein Zuhause gibt.
„Und du weißt, dass ich dafür liebe, Al."
Sein Arm legt sich erneut über meine Schulter und ich heiße die Wärme willkommen, die die Dunkelheit in den letzten Stunden des Jahres zu vertreiben vermag. Die Wintermütze schützt meine Ohren, die Jacke meinen Körper, doch Harrys Berührung ist es, die mein Innerstes zum Brennen bringt.
Als wir schließlich vor seinem Elternhaus zum Stehen bleiben, ist der Spaziergang viel zu schnell vergangen. Nicht lange genug, um jeden Moment auszukosten, seine Nähe zu genießen, meinen Untergang zu besiegeln.
Harry sperrt die Haustür auf und tritt dann ein in die Dunkelheit des Hauses, das sekundenspäter durch das grelle Flurlicht besiegt wird.
„Kommst du nicht rein, Al?"
Mein Atem geht stockend, während ich die Türschwelle vor mir betrachte, nur Zentimeter und gleichzeitig der Eintritt in eine ganz neue Welt. Es ist das erste Mal seit Ewigkeiten, dass wir beide ganz alleine nachts irgendwo sind und ich kann die Erinnerungen nicht verdrängen, die sich unweigerlich in meine Gedanken schleichen.
Sanfte Küsse, federleichte Berührungen und immer wieder Harrys schnell klopfendes Herz, dessen Schlagen ich mein Leben lang nicht vergessen werde.
Die Erinnerungen quälen mich und bringen mein Herz zum Schreien.
„Ich komme", murmele ich, so leise, dass meine Worte die vereinzelten Silvesterknaller, die vorzeitig gezündet werden, nicht übertönen können. Doch das müssen sie auch nicht, denn sie sind an mich selbst gerichtet und nicht für seine Ohren bestimmt.
Einmal atme ich tief durch, dann ein zweites Mal und schließlich wage ich den Schritt in das Innere meiner Vergangenheit, was nun ebenfalls einen Teil meiner Zukunft ausmachen wird. Ich trete über die Schwelle des Hauses und eigentlich hat sich nichts verändert.
Es ist immer noch derselbe Harry, der mich nun anlächelt.
„Bereit für das beste Silvester deines Lebens, Al?"
Ich grinse. „Du machst dir gerade selbst einen enormen Erwartungsdruck."
Harry wirft die Haustür hinter uns zu, sperrt die Welt aus und öffnet unser eigenes Wunderland.
„Keine Sorge. Ich bin überzeugt davon, dass ich das hier zu deinem besten Silvester machen kann."
„An Selbstbewusstsein hat es dir wirklich noch nie gemangelt", ziehe ich ihn auf. „Pass auf, dass dein Ego nicht irgendwann einmal explodiert."
Lachend streckt Harry mir die Zunge heraus und zieht mich dann in die kleine Küche herüber, in der wir neulich gemeinsam Plätzchen gebacken haben. Seitdem ist nicht einmal eine Woche vergangen und dennoch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, denn jeder Tag mit Harry hat tausende von Stunden. Mit ihm kommt mir die Unendlichkeit plötzlich nicht mehr so unmöglich vor.
Er bedeutet mir, mich auf die Barhocker zu setzen, die an der Küchentheke stehen und wühlt dann kurz in dem Gefrierfach, bevor er triumphierend zwei Eis in die Höhe rückt.
„Wusste ich doch, dass wir die noch irgendwo haben", meint er zufrieden und drückt mir dann das Eis mit Erdbeergeschmack in die Hand. „Ich habe dir einmal versprochen, mit dir Eis zu jeder Jahreszeit zu essen und damit fangen wir heute an."
Lachend öffne ich die Verpackung und genieße dann den himmlischen Milcheisgeschmack in meinem Mund. Harry tut es mir gleich und eine Weile lang herrscht völlige Stille in dem kleinen Haus am Ende der Straße, das so viel Liebe in seinem Gemäuer trägt.
„Wo feiert der Rest deiner Familie eigentlich?"
Er lässt den Rest des Hörnchens in seinem Mund verschwinden und kaut, während ich geduldig auf seine Antwort warte. „Meine Mum ist bei Freunden und Gemma ist mit Michael auf der Silvesterparty am Big Ben."
„Solltest du Silvester nicht eigentlich ebenfalls auf irgendeiner Party voller Berühmtheiten verbringen, Harry?"
Ich kann mir nicht vorstellen, dass nicht unzählige Einladungen durch seine Haustür geflattert sind, eine Feier eindrucksvoller als die andere. Doch Harry sitzt mir nun gegenüber in dem warmen Licht der Küche, die so viele Erinnerungen enthält und bereit ist, noch so viele weitere zu erleben. Sie ist das Herz dieses Hauses, seine Seele.
„Silvester mit dir zusammen zu sein, schlägt jede andere Feier, Al."
Harrys Worte fliegen nüchtern über seine Lippen, als wären sie die allumfassende Wahrheit einer Welt, die die falschen Fragen stellt.
„Ich würde gerade auch nirgends lieber sein als hier mit dir", gebe ich zu.
Er schenkt mir ein Lächeln, so breit und herzzerreißend, so erfüllend und brennend, dass es sich anfühlt wie tausend Lieblingslieder zur selben Zeit.
„Al?"
„Harry?"
Er beißt sich auf die Unterlippe. „Können wir vielleicht unsere Silvestertradition wieder ausleben lassen? Das fände ich sehr schön."
„Beste Konzert dieses Jahr?", frage ich und gebe damit gleichzeitig eine Antwort auf seine Bitte.
Ein breites Lächeln legt sich auf seine Lippen. „Maddison Square Garden."
Immer wieder werfen wir Fragen hin und her, lassen die Ereignisse des letzten Jahres passieren und rufen uns bereits vergangene Gefühle wieder in Erinnerung. 365 Tage erneut durchleben, um die schlechten und schönen Seiten des Lebens vollkommen auszukosten, ist am Silvesterabend immer schon unsere Tradition gewesen. Egal, ob wir gemeinsam feierten oder beide auf unterschiedlichen Kontinenten, die Fragen zum vergangenen Jahr sowie unsere Wünsche für die Zukunft haben wir immer schon mit einander diskutiert. Es ist Harrys und meine Art, dafür zu sorgen, dass der jeweils andere nichts Wichtiges verpasst. Wenn wir ehrlich sind, dann können wir mittlerweile die meisten Fragen für den anderen ohnehin beantworten, doch das Spiel macht einfach viel zu viel Spaß.
„Dein Lieblingsfilm dieses Jahr?" Fragend sieht Harry mich an, während er es sich auf dem Sofa bequem macht.
Irgendwann in der letzten Stunde sind wir ins Wohnzimmer umgezogen, welches nur von brennenden Kerzen erleuchtet wird. Ansonsten ist es dunkel wie die Nacht, die unweigerlich von draußen gegen die Fenster klopft und nur darauf wartet, endlich durch die Silvesterknaller zum Leben erweckt zu werden. Doch noch ist es nicht soweit. Noch leben wir die letzten Minuten dieses Jahres und ich habe vor, sie bis auf die letzte Sekunde auszukosten.
„Fluch der Karibik", antworte ich ohne Nachzudenken.
Harrys raues Lachen durchbricht die Stille des Hauses. „Den wählst du jedes Jahr."
Ich grinse. „Es ist auch jedes Jahr mein Lieblingsfilm."
Er mustert mich mit grünen Augen, die mich an vergangene Zeiten erinnern.
„Du bist so beständig, weißt du das? Bei dir kann man sich immer sicher sein, dass sich deine Meinung nicht andauernd ändert. Du weißt, was du willst, aber du denkst nach, bevor du Entscheidungen triffst."
Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Ist das so schlecht, Harry?"
„Nein." Lächelnd schüttelt er den Kopf. „Nein, das ist es ganz und gar nicht."
Ein vorzeitig gezündeter Silvesterknaller erlischt am Himmelszelt, nicht überlebensfähig und noch nicht in der Lage, die Welt in einen Farbenrausch zu verwandeln. Manchmal muss man geduldig sein, auch wenn alles in einem danach schreit, sofort Ergebnisse zu erzielen.
„Beste Entscheidung, die du dieses Jahr getroffen hast?"
„Bei dir vor der Tür aufzutauchen, Al. Deine?"
„Bei dir vor der Tür aufzutauchen, Harry."
Wir lächeln und ich wünschte, ich könnte diesen Ausdruck des vollkommenen Glücks, der in seinen Augen geschrieben steht, festhalten, mit vorsichtigen und sanften Fingern, ihn einfangen und ihm Freiheit geben, während ich ihn in ein Marmeladenglas sperre. Immer bereit, ihn wieder hervorzuholen, wenn alles aussichtslos erscheint. Doch lebendiges Glück lässt sich nicht bändigen, es ist nicht immer vorhanden und umso mehr müssen wir es zu schätzen wissen.
„Das beste Versprechen, das du dieses Jahr wieder gut gemacht hast?"
Harry runzelt die Stirn, wie immer, wenn er ernsthaft nach einer Antwort sucht. Einen Moment lang ist es still zwischen uns, während sein Herz nach den Worten forscht. Schließlich ziehen sich seine Mundwinkel nach oben, kaum merklich und doch so omnipräsent in meinen Gedanken. „Das beste Versprechen dieses Jahr wird noch kommen, also hab noch ein wenig Geduld."
Die Zeiger der Uhr wandern weiter, nicht mehr lange und sie werden ihr Ziel erreichen, weitere vierundzwanzig Stunden erlöschen und einen weiteren Tag beenden, den ich gemeinsam mit Harry verbringen durfte.
„Dein Wunsch fürs nächste Jahr?" Fragend sieht er mich an.
Mein Zeigefinger klopft leicht gegen meinen Oberschenkel, während ich über die Antwort nachdenke. Es ist keine einfache Entscheidung, birgt das Leben doch so viele Wunder, die ich noch erleben will. Meine Träume ringen miteinander, die Vernunft und die Fantasie, meine Wünsche und die Realität.
„Endlich einmal auf Reisen zu gehen", flüstere ich schließlich. „Was ist deiner?"
Harry weicht meinem Blick aus, während er den Saum eines Pulloverärmels mit den Fingern bearbeitet, bis dieser ganz ausgefranst ist. Die Fäden werden gezogen, für immer zerstört, nicht in der Lage, sie wieder zusammenzusetzen. Man mag sie vielleicht flicken, doch nichts wird sie wieder in ihren Anfang verwandeln können.
„Dein Vertrauen wiedergewinnen", murmelt er schließlich. Seine Worte sind so leise, dass ich sie im Rauschen der Stille kaum verstehen kann. Sie kämpfen sich wispernd über seine Lippen, ängstlich und voller zerstörter Hoffnungen.
Ich seufze. „Sieh mich an, bitte."
Langsam strecke ich meinen Zeigefinger in seine Richtung, bis er schließlich nach Ewigkeiten des Wartens an seiner Wange landet. Die restlichen Finger folgen, sanft und unsicher schmiegen sie sich an seine warme Haut. Harry zuckt kurz zurück, als hätte er sich verbrannt. Doch dann schließt er einen Moment lang die Augen, bevor er seinen Kopf kaum merklich in meine Richtung dreht.
„Das hast du längst. Ich vertraue dir wieder."
Die Hoffnung in seinen Augen, dieser kleine Funken, so unfassbar hell und kämpfend, lässt mir die Tränen in die Augen steigen. Ich blinzele sie weg, nicht bereit, ihn sehen zu lassen, wie nah mir seine zerstörten Träume gehen.
„Ich vertraue dir, Hazza" flüstere ich erneut.
Er umklammert meine Hand, die immer noch an seiner Wange liegt, als wäre ich seine Rettungsleine, die die Welt von ihm fernhält. Auf eine Weise bin ich das auch, denn es standen schon immer wir beide gegen den Rest der Welt.
Still sitzen wir nebeneinander, in diesem Haus, das nicht kleiner und größer sein könnte, enthält es doch meine ganze Vergangenheit. Wir schweigen, während unsere Worte tanzen, singen, während unsere Herzen kämpfen. Die Zeiger wandern und wir stehen still.
Keiner von uns beiden wagt es, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Aus Angst davor etwas zu zerstören, was längst in tausend Scherben zerbrochen ist. Wir leben unsere Illusion.
„Wir können zusammen Reisen", durchbricht Harry schließlich die Stille. Seine Worte sind laut in der Nacht und dennoch sanft wie ein Windhauch. „Wir könnten auf Elefanten reiten und in der Karibik schwimmen. Uns in Los Angeles verbrennen und in Asien die Straßen erkunden."
Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Das ist eine wirklich gute Fantasie."
Er schüttelt den Kopf, hart und vehement, denn nichts an Harry ist leise, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hat. In Momenten wie diesen schreit sein Herz die Worte in die ganze Welt hinaus. „Das ist kein Witz, Al. Zumindest der Reiseteil nicht. Komm mit mir auf Tour."
Bedauernd sehe ich ihn an. „Ich kann hier nicht einfach verschwinden."
„Warum nicht? Was hält dich denn momentan in England? Solange du keinen Job hast, bist du frei und kannst machen, was du willst."
Harry sieht mich mit Überzeugung an, die man nur erreichen kann, wenn man seine Träume bereits lebt. Doch nicht jeder von uns hat dieses Glück, das für manche so selbstverständlich ist.
„Und wie soll ich das bitte bezahlen? Kein richtiger Job bedeutet auch, dass ich momentan kaum weiß, wie ich überhaupt das Geld für die Miete zusammenbekomme. Reisen ist da bloß ein Wunschtraum."
Er wäre nicht der Junge, der mein Herz in- und auswendig kennt, wenn er nicht den Kopf schütteln würde. Ist Harry einmal überzeugt von etwas, dann gibt er nicht auf. Er mag nicht in der Lage zu sein, schnell Entscheidungen zu treffen, aber hat er sich einmal entschieden, kämpft er bis zum bitteren Ende. Bis er in der Niederlage ertrinkt oder ihn der Sieg mit ausgebreiteten Flügeln in den Himmel katapultiert.
„Du könntest bei Clare im Zimmer schlafen und den Flug bezahle ich dir, Al."
Ich seufze. „Wir sollten rausgehen. Es ist gleich Mitternacht."
Meine Finger entsperren die Balkontür und heißen die eisige Kälte des Winters willkommen, die die Träume in meinem Inneren betäubt. Sie werden mit einer dicken Eisschicht bedeckt, bis sie sich nicht mehr bewegen. Erst kämpfen sie, zuckend und sich nach dem Leben sehnend, doch dann sind sie still. So leise, dass ich im nächsten Moment schon wieder vergessen habe, dass sie überhaupt in meinem Herzen schlafen. Manche Monster sollte man lieber nicht wecken.
„Ally, bitte. Lass uns darüber reden."
Harry folgt mir mit schnellen Schritten in den Garten seines Elternhauses, der schaurig dunkel wirkt. Ein paar Häuser weiter bereiten einige Nachbarn ihr Silvesterfeuerwerk vor. Ich kann ihr Gelächter hören, ihre Begeisterung und die Ungeduld unter ihren Fingerspitzen fühlen. Sie trennen nur fünfzig Meter von uns und dennoch eine ganze Welt.
„Ich will dein Geld nicht, Harry. Das wollte ich nie."
Er bleibt neben mir stehen, während der Abgrund zwischen uns immer weiter reißt. „Das weiß ich, aber ich will es dir trotzdem geben. Warum kannst du es nicht einfach annehmen?"
Wir drehen uns im Kreis, nicht zum ersten Mal. Immer wieder landen wir an diesem Punkt, bei dieser Diskussion, getrennt durch unsere Ansichten und das jeweilige Unverständnis des Anderen. Keiner ist bereit, die Hand auszustrecken und sich von dem anderen über den Riss der Welt ziehen zu lassen.
„Weil ich nicht von dir abhängig sein will", entgegne ich.
Eine Antwort, die er kennt. Eine Antwort, die er noch nie akzeptieren konnte.
„Das wärst du aber nicht, Al." Er tritt einen Schritt näher neben mich. „Sieh es einfach als Gefallen mir gegenüber, weil ich meine beste Freundin dann öfter bei mir haben kann. Ich vermisse dich wirklich sehr, während ich auf Tour bin. Wenn du mitkommst, hilfst du mir also."
Ich muss grinsen über seine verzwickte Logik, die so typisch für ihn ist. Manchmal bringt sie mich zum Lächeln, manchmal zum Verzweifeln. Ausnahmslos immer sorgt sie dafür, dass er sich ein Stück weiter in mein Herz einschleicht.
„So einfach ist das nicht, Harry."
Er stupst mich an. „Denk einfach darüber nach, okay?"
„Okay."
„Versprochen?"
„Versprochen", flüstere ich und lasse meine Worte für die Ewigkeit in die Welt entkommen.
Wir hätten unsere Winterjacken wieder anziehen sollen, denn nun frieren wir in der bitterkalten Winternacht. Doch keiner von uns beiden wagt es, diesen Moment zu durchbrechen. Schweigend warten wir auf das neue Jahr. Auf weitere zwölf Monate Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Verrat.
Wie durch einen Schleier wird der Countdown des neuen Jahres im Garten der Nachbarn eingeleitet. Stumm flüstern unsere Lippen die Zahlen mit und mit jeder weiteren Sekunde dreht sich Harry ein wenig mehr in meine Richtung, bis ich schließlich die Narbe an seinem Kinn im Mondlicht direkt vor meinem Gesicht beleuchtet sehe.
„Drei, zwei, eins."
Die letzten Sekunden sterben und das Jahr wird neugeboren.
Ich lächele. „Frohes neues –"
Harrys Lippen legen sich auf meine und lassen jegliche Worte aus meinem Gedächtnis verschwinden. Sanft legt er eine Hand an meine Wange, während die andere mich näher an sich zieht. Der Kuss lässt mich erstarren und gleichzeitig fühle ich mich so lebendig wie schon seit langem nicht mehr. Das Gefühl seiner Hände, die über meinen Rücken streichen, während über uns der Nachthimmel in allen Farben explodiert, bringt mich gefährlich nah an den Abgrund. Ich will springen, doch ich habe keine Flügel.
Seine Lippen schmecken nach Schokoladeneis, während sie sich unsicher über meinen bewegen. Das ist es, was mich am meisten schockiert. Diese Unsicherheit passt nicht zu ihm, er ist mir fremd und gleichzeitig doch so vertraut. Als seine Zunge sanft um Einlass bittet, werde ich zurück in die Wirklichkeit gerissen.
„Was sollte das denn, Harry?" Mit aufgerissenen Augen starre ich ihn an, während ich hastig Abstand zwischen uns bringe. Doch es ist nicht genug, noch immer kann ich seinen Körper an meinem fühlen, seine Lippen, die meine erkunden, als wäre ich die Musik, ohne die er nicht leben kann.
„Man küsst sich an Neujahr, oder nicht?" Er beißt sich auf die Unterlippe. „Außerdem habe ich dir jedes Jahr versprochen, dass du einen Silvesterkuss bekommst und mich nie daran gehalten. Ich weiß, dass dir das wichtig ist, Al."
Harrys Erklärung klingt beiläufig, während mein Herz gerade einen Marathon rennt und die Schmetterlinge sich einfach nicht beruhigen wollen.
„Nächstes Mal wäre eine Warnung ganz gut. Außerdem ist ein Silvesterkuss kein Silvesterkuss, wenn man ihn nicht ehrlich meint", seufze ich und flüchte ins Innere des Hauses, bevor er die Tränen bemerkt, die sich aus meinen Augen schleichen. So verräterische menschlich weint mein Herz, während es gleichzeitig verstummt.
Ich weine und weine, bis irgendwann keine Tränen mehr übrig bleiben.
Dann gehe ich wieder zu Harry, der verloren auf dem Sofa sitzt. Er sieht auf, als ich den Raum betrete und streckt eine Hand in meine Richtung, die im nächsten Moment schon wieder kraftlos herunterfällt.
„Al, ich habe es wirklich –"
„Lass es gut sein, Harry. Es war ohnehin keine große Sache. Schon vergessen", unterbreche ich ihn und bin froh über die Dunkelheit im Raum. Sie erstickt die Flammen meines Herzens, die sich danach sehnen, ihn erneut zu küssen. Wieder und wieder und wieder, bis wir beide vergessen zu atmen.
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Ihr Lieben,
Ich hoffe, ihr seid alle gut ins neue Jahr gestartet?
Ally und Harry hatten auch ihren Silvesterabend. Und was soll man sagen? Ereignisreich war er auf jeden Fall.
Tausend Dank für eure Votes und Kommentare!
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