24 | asyndeton
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a s y n d e t o n
november 2018
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Allison || Federleichte Schritte tragen mich neben Harry, der sich wieder einmal seinen Kapuzenpullover als Tarnung übergezogen hat, durch den Raum des Buscadero-Cafés.
Der wunderbare Geruch von Früchtetee liegt in der Luft, der sich auf einzigartige Weise mit dem von frischem Kaffee vermischt. Die Mischung, die mir unter anderen Umständen Kopfschmerzen bereiten würde, passt zu diesem wunderbaren Ort. Das ganze Café ist in Holztönen gehalten und erinnert mich mit den wuchtigen Möbelstücken an eine Western-Location. Die Bilder an der Wand lassen einen fühlen, als würde gleich ein Cowboy durch die Schwingtür marschieren und die Dartscheibe an der Wand gibt dem Café seinen restlichen Charme. Am besten gefällt mir jedoch das warme Licht, das aus Glühbirnen erstrahlt, die in Marmeladengläsern von der Decke herunterhängen.
Obwohl es erst Spätnachmittags ist, ist die Location bereits bestens besucht und wir können nur mit Glück noch einen Platz ergattern.
„Gefällt es dir hier?", fragt Harry, als wir uns auf eine rotgepolsterte Holzbank setzen, die zu einem der hinteren Tische des Raumes gehört. Hier sind wir ungestörter und die Gefahr, dass er erkannt wird, ist aufgrund des gedämmten Lichts gering.
Immer noch voller Begeisterung lasse ich meinen Blick erneut durch das Café schweifen. „Das könnte durchaus zu einem meiner neuen Lieblingsplätze in London werden."
„Besser als das Shakespeare Café, Al?", zieht Harry mich auf.
„Sorry, aber an mein Stammcafé kommt nichts heran." Lachend schüttele ich den Kopf, denn es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass Harry versucht, mir einen neuen Lieblingsplatz zu vermitteln. Auch jetzt sitzt er erwartungsvoll neben mir, wobei ich nicht beurteilen kann, ob er mich direkt mustert. Ich frage mich, ob er durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille überhaupt etwas sehen kann. Wahrscheinlich nicht, denn er seufzt erleichtert, als er diesen Teil der Tarnung auf dem Holztisch vor uns ablegt.
Helen wollte mir vorhin, als Harry mich in unserer Wohnung abholte, ebenfalls eine Sonnenbrille andrehen, damit wir wie zwei Gangster aussehen, aber ich habe dankend abgelehnt. Meine Mitbewohnerin hat seufzend nachgegeben und stattdessen darauf bestanden, dass wir unbedingt mal wieder einen James Bond Abend einlegen müssten.
„Wie hast du dieses Café gefunden, Harry?" Neugierig drehe ich meinen Kopf in seine Richtung. „Bist du schon einmal hier gewesen?"
Er schüttelt den Kopf. „Ich habe es entdeckt, als ich nach unserer heutigen Unternehmung gegoogelt habe."
Eine Bedienung bringt uns beiden ein Pint, was mich kurz verwundert, bis sie uns erklärt, dass das erste Bier hier aufs Haus geht. Harry und ich bedanken uns, dann stoßen wir grinsend an.
„Welches Versprechen willst du heute gut machen?", frage ich ihn.
„Keines. Ich dachte, es wäre Zeit für eine Auszeit von den Versprechen und wir machen stattdessen einfach einmal etwas, was Spaß macht."
Neugierig sehe ich ihn an. „Und das wäre?"
„Wir besuchen einen Poetryslam, Al", antwortet Harry, als wäre das das Offensichtlichste überhaupt. Zugegeben, wenn ich einen Blick durch den Raum werfe, scheint das Klientel durchaus mehr zu einem Buchclub zu passen mit den schmächtigen Besuchern und den vielen Brillen, von denen sicherlich nicht alle wirklich benötigt werden. Die Bilder an den Wänden des Cafés zeigen zwar Rocker mit vielen Tattoos, die heute jedoch eindeutig in der Unterzahl sind.
Kopfschüttelnd stupse ich Harry an. „Ich dachte, du hasst Events dieser Art?"
Seine Mundwinkel heben sich nach oben und mir kommt der Gedanke, dass sein Lächeln jeden Tag nur noch schöner wird. „Solange du Spaß hast, bin ich glücklich."
Ich bin froh, dass in diesem Moment jemand auf ein Mikrofon klopft und ein Rückkoppelungsgeräusch piepend durch den Raum hallt, woraufhin sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Person vorne richtet, die neben dem Tresen steht.
Die Frau ist im Alter meiner Mutter und hat eine so wilde Lockenmähne, dass sie von ihren Haaren fast verschluckt wirkt. Die vielen Lachfalten um ihre Augen lassen sie direkt sympathisch wirken und spätestens als ich das Harry Potter Fanshirt entdecke, habe ich die mollige Dame in mein Herz geschlossen.
„Juden Abend, meine Lieb'n. Es wird Ze't für junseren monatlichen Poetry Slam", begrüßt sie die Anwesenden und winkt einmal durch den Raum. „Se'd ihr alle bereit?"
Die Menge fängt an zu grölen, so laut, als wäre das hier das Konzert ihrer Lieblingsband. Lachend stimmen Harry und ich mit ein.
„Für die Neulinge unter juns hier kurz noch ma' der Ablauf. Heute Abend werden s'eben Te'lnehmer jegeneinander antreten. Die drei Finalisten, die per Abstimmung entsch'eden werden, treten dann noch ma' jegeneinander an. Alles klar sowe't?"
Erneuter Jubel ertönt und ich beuge mich neugierig ein Stück nach vorne, als der erste Teilnehmer, ein Junge in meinem Alter, die Bühne betritt. Mit seiner verstrubbelten Mähne erinnert er mich an meinen Studienkollegen Darwin und seine leuchtend blauen Augen geben mir das Gefühl, dass er direkt in die Seele jedes Anwesenden blicken kann.
„Der hat glaube ich mit mir studiert, aber ich komme nicht mehr drauf, wie er heißt. Verdammt, wahrscheinlich hätte ich besser aufpassen sollen, denn er ist echt niedlich", flüstere ich Harry zu, der daraufhin kurz die Stirn runzelt.
Finnick stellt sich kurz namentlich vor und dann legt er los. Er flechtet ein Gespann aus Wörtern und Schweigen, aus Pausen und Lautstärke, so durchdringend und so leicht. Seine Geschichte erzählt von verlorener Liebe, von Freundschaft und Verlust. Sie lässt einen fühlen, verzweifeln und lieben zugleich. Als er nach fünf Minuten endgültig schweigt, ist der Raum totenstill und ich habe Tränen in den Augen. Ein paar Sekunden könnte man eine Feder fallen hören, dann bricht tosender Applaus aus.
„Das war der Wahnsinn", flüstere ich Harry begeistert ins Ohr.
„Der war nicht mal wirklich gut, Al."
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. „Was ist eigentlich mit dir los? Willst du mal da oben auf die Bühne?"
„Ich stehe da jeden Abend", entgegnet er augenverdrehend. „Das ist nicht so schwer."
„Ach nein? Ich finde es bewundernswert, was Finnick da abgeliefert hat."
„Wie schön für dich", meint Harry trocken und murmelt dann so leise in sein Bierglas, dass ich ihn kaum verstehen kann. „Mich himmelst du dafür aber nicht so an."
„Was hast du eigentlich für ein Problem, Harry?", frage ich ihn genervt.
Stur schüttelt er den Kopf. „Das würdest du doch ohnehin nicht verstehen."
Doch er ist nicht der einzige von uns beiden, der mit einem Dickkopf gesegnet ist. „Das ist mal wieder so typisch für dich. Erst machst du so einen Aufriss und jetzt kannst du nicht mal drüber reden."
„Weil der Grund total bescheuert ist, Al. Es ist mir peinlich, okay?" Seufzend nimmt Harry einen großen Schluck Bier und kneift kurz die Augen zusammen. „Können wir bitte nicht streiten? Ich will die wenige Zeit, die wir gemeinsam haben, nicht damit verbringen."
„In Ordnung", murmele ich schließlich.
Sekunden später wird Marlene Kindel als nächste Teilnehmerin angekündigt und eine Frau im Alter meiner Oma betritt die Bühne. Ihr geblümtes Kleid hat etwas Zeitloses an sich, während ihre Haare zu einem kunstvollen Zopf gebunden wurden. Ihr Gedicht handelt von der Beständigkeit der Freundschaft. Am wundervollsten ist jedoch nicht der Inhalt, sondern ihre helle Stimme, die mich an einen zarten Vogel erinnert. Einzigartig schön.
Als Marlenes Vortrag sein Ende findet, applaudiert Harry ebenso begeistert wie alle anderen, obwohl ihr Beitrag lange nicht so mitreißend gewesen ist wie der vorherige.
Am Ende des Poetry Slams haben Harry und ich bereits unser zweites Bier vor uns stehen, was unserer guten Stimmung jedoch keinen Abbruch tut. Während der Gewinner verkündet wird, applaudiere ich begeistert und als ich zu dem Jungen neben mir herüber sehe, merke ich, dass Harry mich bereits ansieht. Ich erwidere sein Lächeln.
„Das war wundervoll. Danke für den Abend", murmele ich in seine Richtung. Leise, damit er den Ernst hinter meinen Worten versteht, aber laut genug, um über den tosenden Applaus hinwegzutäuschen. Meine Worte fliegen durch die Luft, mischen sich unter die Standing Ovation und finden dann so sanft zu ihm, als wären sie Federn in einem sanften Sturm, die sich wirbelnd an der Oberfläche halten.
„Nichts zu danken, Al. Das habe ich wirklich gerne gemacht", entgegnet er mit einem breiten Lächeln und hält mir sein halbvolles Bierglas entgegen. „Prost."
„Prost!" Lachend hauen wir unsere Gläser gegeneinander, schwungvoller als nötig und als wir schließlich einen Schluck trinken, behält Harry einen Bierbart zurück. Ich sage nichts, denn der Anblick ist zu amüsant.
„Wie läuft es mit deinen Bewerbungen?" Fragend sieht er mich an, während sich die meisten Tische um uns herum bereits leeren. Doch ohne Worte haben wir beide beschlossen, noch ein wenig hierzubleiben. In dieser Blase ohne Termindruck, weitab von Verpflichtungen. Es ist unser eigenes Wunderland, das sich hoffentlich nicht in einen Alptraum verwandeln wird.
„Furchtbar", murmele ich und reibe mir mit der Handfläche über die Stirn. „Dieses ganze Bewerbungsdrama macht mich noch ganz wahnsinnig. Ich meine, ich wusste, dass ich nicht die besten Jobchancen habe, aber das hier? So schlimm hätte ich es echt nicht erwartet."
„Es sind erst ein paar Monate vergangen, Al." Beruhigend legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel und selbst durch die Jeans, die unsere nackte Haut voneinander trennt, bereitet mir seine Berührung eine Gänsehaut. „Du findest schon was. Ein Uniabschluss ist viel wert."
Seufzend winke ich einmal unwirsch durch den Raum, in dem die meisten Leute ebenfalls so literaturbegeistert sind wie ich. „Eindeutig zu viele Personen mit Uniabschluss in meinem Bereich. Die Chancen stehen hier ziemlich schlecht, wenn man sich die Quote ansieht."
Harry lacht herzhaft und mein Herz schlägt höher, als ich den einzigartigen Ton durch den Raum schallen höre. Ich kann nie genug von seinem Lachen bekommen. „Nun, ich senke die Quote dann wieder. Also keine Sorge, ich bin eindeutig auf deiner Seite."
Grinsend verdrehe ich die Augen, woraufhin er mir die Zunge herausstreckt. Gepaart mit seinem Bierbart gibt ihm das etwas eigenartig Kindisches, was mich in Gelächter ausbrechen lässt.
„Du hast da was", meine ich und deute auf seinen Bart.
Beiläufig wischt Harry sich das Bier von dem Mund und stimmt dann in mein Gelächter mit ein. Ich weiß nicht einmal genau, warum wir uns so amüsieren, aber es tut gut. Viel zu lange habe ich schon nicht mehr herzhaft mit einem Menschen gelacht, der mich versteht. Als wir uns wieder beruhigen, habe ich vor Lachen Bauchschmerzen bekommen und es gibt nichts Schöneres.
„Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es sich anfühlt, einen Uniabschluss zu haben", meint Harry grinsend, als wir uns wieder beruhigt haben. „Also, wie ist das Gefühl?"
„Wie fühlt es sich an, einen Grammy zu gewinnen?", kontere ich.
Er zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich habe keinen."
Überrascht sehe ich ihn an, denn ich dachte, er hätte einen gewonnen in den Jahren, in denen ich seine Karriere so wenig wie möglich verfolgt habe. „Wirklich nicht, Harry?"
Kopfschüttelnd nimmt er einen großen Schluck Bier aus seinem Glas, bis es schließlich ganz leer ist. Nur einzelne Tropfen befinden sich noch in ihm, nicht überlebensfähig und dennoch nicht bereit, ganz zu weichen. „Wirklich nicht, Al. Langsam glaube ich auch nicht mehr daran."
Der Raum fühlt sich so viel kälter an, sobald ich die unterschwellige Niederlage aus seiner Stimme vernehme. Sanft lege ich meine Hand auf seine und drücke sie. So federleicht, dass ich nicht einmal sicher bin, dass er die Berührung überhaupt spüren kann. Doch er tut es und wir sehen uns ein paar Sekunden schweigend in die Augen. Sein Blick ist so intensiv, dass er mich in Flammen aufgehen lässt.
„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben", flüstere ich, als ich mir sicher bin, dass ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit habe. „Wir beide gegen den Rest der Welt, erinnerst du dich? Das zählt immer noch und solange ich an dich glaube, musst du das auch tun. Das war der Deal und der wird nicht gebrochen."
Harrys Mundwinkel zucken nach oben. „Ja, ich erinnere mich."
Lächelnd nehme ich einen Schluck Bier aus meinem Glas und merke, wie mir wärmer wird. Ich habe keine Ahnung, ob es an dem Alkohol liegt oder an seiner Nähe, so gefährlich verlockend. Für den Moment ist es mir auch völlig egal. Die Welt könnte in Flammen aufgehen, solange ich hier mit ihm bin, interessiert es mich nicht. Harry ist wie das Spiel mit dem Feuer, so unfassbar gefährlich und ich bin süchtig danach.
„Also, wie ist es einen Abschluss zu haben?", fragt er mich erneut.
„Es fühlt sich toll an. Erwachsen irgendwie." Ich zucke lächelnd mit den Achseln. „Warum fragst du?"
„Weil ich nie einen bekommen werde, also muss ich auf deine Erzählungen vertrauen."
Ich stupse ihn an und mustere ihn mahnend. „Hör auf damit, Harry. Du bist nicht dumm. Also hör endlich auf, immer so schlecht von dir zu denken."
„Aber ich bin auch nicht du, Al."
„Und das ist auch gut so", entgegne ich vehement. „Denn ich könnte keines deiner Lieder singen. Sobald ich es versuchen würde, würden alle schreiend wegrennen."
Ein Lächeln legt sich auf Harrys Lippen und ich bin erleichtert, ihn wieder in besserer Stimmung zu sehen.
„Ich mag deine Songs übrigens wirklich gerne. Habe ich dir das je gesagt?", meine ich mit sanfter Stimme.
Seine Mundwinkel wandern noch weiter in die Höhe. „Dann waren die Stunden Arbeit wirklich gut investiert."
Ich lache. „Ich alleine bin es wirklich nicht wert, so viel Arbeit in etwas zu investieren."
„Doch, das bist du definitiv", lächelt Harry und wirkt plötzlich so ernsthaft, dass Panik bekomme. Wir bewegen uns auf dünnen Eis und ich glaube, dass er es nicht einmal bemerkt. Das ist das Schlimmste daran. Während er mein Herz immer mehr für sich einnimmt, ist es ihm überhaupt nicht bewusst.
„Wollt ihr noch ein Bier, Darlings?", fragt uns die tätowierte Bedienung, deren Stimme rau klingt, als würde sie Zigaretten anstatt Luft inhalieren.
„Gibt es auch Wasser? Ich muss noch fahren", bittet Harry.
Die Kellnerin zwinkert ihm zu. „Das ist der einzige Grund, um hier etwas Nichtalkoholisches zu bekommen."
„Dann bin ich ja beruhigt", grinst er amüsiert.
„Was ist mit dir, Kleines? Musst du auch noch fahren?"
„Wir sind zusammen hier", entgegnet Harry, bevor ich überhaupt die Chance habe zu antworten.
„Also noch ein Bier für deine Freundin. Geht aufs Haus", bestimmt die Kellnerin und ist verschwunden, bevor ich ihr mitteilen kann, dass wir keinesfalls ein Paar sind.
Gekonnt umschiffen Harry und ich das Missverständnis, in dem wir uns stattdessen über ein paar Muskelpacke lustig machen, die versuchen ihren Charme bei der Bedienung einzusetzen.
Es ist bereits dunkel draußen und die Location deutlich leerer, als Harry schließlich wieder seine Stirn runzelt, wie immer, wenn er intensiv über etwas nachdenkt.
„Was ist los?", frage ich ihn und stelle vorsichtig das Bierglas vor mir auf den Tisch. Erst jetzt fällt mir auf, dass er das Wasser vor sich kaum angerührt hat.
„Ich habe mich schon wieder mit Kate gestritten", murmelt er so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. Ich versuche, in seinen Augen zu lesen, aber er sieht auf die Hände in seinem Schoß. „Heute Morgen und die letzten Tage andauernd. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass wir gar nichts anderes mehr tun."
Zögerlich hole ich Luft. „Solltest du nicht lieber mit Louis darüber reden?"
Harry lacht trocken. „Lou konnte Kate noch nie ausstehen."
Der neugierige Teil in mir würde am liebsten fragen, warum sein bester Freund seine Verlobte nicht leiden kann, aber es geht mich nichts an, also bohre ich nicht weiter nach.
„Hast du keinen anderen, mit dem du darüber reden kannst, Harry?"
Zum ersten Mal seitdem er das Thema angesprochen hat, sieht er mich wieder an. Der Schmerz in seinem Blick bricht mir das Herz. Ich frage mich, wann es wieder soweit gekommen ist, dass alles, was ihn zerstört, auch die gleiche Wirkung auf mich hat. Es ist furchtbar und ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll. Am schlimmsten ist es jedoch zu wissen, dass gerade ich der Grund für seine Verzweiflung bin.
„Warum kann ich nicht mit dir darüber reden, Al?", flüstert er verletzt. „Ich dachte, wir wären wieder Freunde?"
Ich schlucke. „Das sind wir doch auch. Aber ich bin auch deine Exfreundin. Findest du es nicht irgendwie merkwürdig, wenn wir deine Beziehungsprobleme erläutern?"
Harry nimmt einen tiefen Schluck aus meinem Bierglas, auch wenn er eigentlich bei dem Wasser bleiben wollte. „Du bist nicht nur meine Exfreundin, Al. Vor allem bist du die Person, die mich besser kennt als jeder andere. Außerdem denkst du wirklich über die Probleme nach, wenn man mit dir darüber redet. Du bist eine super Zuhörerin."
Seufzend beiße ich mir kurz auf die Unterlippe, während mein Inneres kämpft.
„Okay. Dann erzähl", murmele ich schließlich.
„Danke." Erleichtert atmet Harry auf. „Es läuft momentan einfach überhaupt nicht mit Kate, weißt du? Ich weiß nicht einmal mehr, ob die Beziehung überhaupt noch Sinn macht."
Es tut weh, ihn so verzweifelt zu sehen.
„Vielleicht müsst ihr einfach nur daran arbeiten? Ich meine, ihr seid schon eine Weile zusammen. Da ist das doch nicht unnormal", entgegne ich vorsichtig.
Harry schweigt, so lange und endgültig, dass ich beginne zu glauben, dass er für ewig verstummt ist. Als würde seine Stimme den Weg aus dem Labyrinth, das sich Leben und Verlust nennt, nicht mehr finden.
„Was ist, wenn ich nicht daran arbeiten möchte? Was ist, wenn es mir eigentlich mittlerweile egal ist, Al?" Tonlos schwingen sich die Worte in die Höhe, nur um Sekunden später wieder abzustürzen. Wie ein freier Vogel, der in einen Käfig gesperrt wird. Erst flattern sie noch, dann geben sie auf und akzeptieren ihr Schicksal.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich einen inneren Kampf austrage. Meine Gedanken aussprechen oder für immer schweigen. Ihn verschonen oder mich selbst retten, indem ich Klarheit bekomme. Ich entscheide mich für mich selbst. „Ist es das, was mit uns damals passiert ist? Haben wir uns deswegen getrennt, Harry? Weil du einfach nicht mehr dafür kämpfen wolltest?"
„Ich hätte immer für dich gekämpft, Al. Nie im Leben hätte ich das aufgegeben." Er schüttelt den Kopf, so vehement, dass keine Zweifel mehr bleiben. Aus irgendeinem Grund macht es das nur noch schwerer. „Ich habe dich betrogen. Das ist der Grund, warum unsere Beziehung damals zerbrochen ist. Nicht, weil ich dich nicht mit allem geliebt habe, was ich zu geben hatte."
Dieses Mal versenke ich mein Bier mit einem so großen Schluck, dass ich kurz keine Luft mehr bekomme.
Ich weiß nicht, wann sich das Gespräch plötzlich nicht mehr um Kate gedreht hat. Diese neue Richtung ist schmerzhaft, aber schon längst überflüssig. Unterschwellig haben wir dieses Gespräch schon so lange führen müssen, dass es beinahe eine Erleichterung ist, endlich darüber reden zu können. Abgesehen von unserem ersten Treffen nach seinem Konzert haben wir es todgeschwiegen. Doch Geheimnisse unter der Oberfläche gewinnen an Macht, bis sie einen schließlich überwältigen. Wir haben es geschafft, sie klein genug zu halten, sodass wir nun endlich unseren Abschluss kriegen. Den Schlussstrich haben wir beide mehr als nötig.
„Aber selbst wenn dieser Kuss nicht passiert wäre, war es doch nicht so, als wäre immer alles toll bei uns gewesen. Wir haben uns auch gestritten", murmele ich.
Harry sieht mich an, aus diesen grünen Augen, die tausend Geheimnisse verbergen. Dennoch habe ich mit der Zeit gelernt, jedes einzelne zu entschlüsseln. „Es ist nie immer alles toll, Al. Beziehungen haben immer mal wieder schwere Zeiten. Aber bei uns ist es anders gewesen."
„Warum?" Ein einziges Wort bloß kommt flüsternd über meine Lippen. Es erreicht die Gegenwart und spielt mit der Zukunft, als würde nichts ihm zu nahe kommen können. Doch ich fühle mich so zerbrechlich wie die Versprechen, die Harry mir gegenüber immer wieder wie Herzen in tausend Stücke hat brechen lassen. Ich habe solche Angst vor seiner Antwort, dass es mich bis ins Innerste schmerzt.
„Weil ich dich geliebt habe." Seine Worte zerstören mich und lassen mich fliegen zugleich. „Scheiße, ich habe dich so sehr geliebt wie noch niemanden, Al. Ich hätte alles dafür getan, damit es mit uns funktioniert hätte. Ich würde es –" Er ballt die Hände zu Fäusten und bricht ab, als wären die Worte nicht dafür bestimmt, Leben eingehaucht zu bekommen.
„Was würdest du?", flüstere ich.
„Nicht so wichtig", entgegnet er tonlos.
Ich nicke und wir schweigen. Nicht lange, nur so lange genug, damit wir beide mit dem abschließen können, was einmal gewesen ist. Heute habe ich das Ende bekommen, was schon vor so langer Zeit nötig gewesen wäre. Es tut dennoch weh.
Kurz presse ich die Augen zusammen, während ich die Szene, die alles zerstört hat, noch ein einziges Mal hinter ihnen abspiele. Dann kommen seine Worte des heutigen Abends und überschreiben diesen bedeutungsvollen Nachmittag. Sie löschen die Bilder und lassen mich mit ungenauen Schwarzweißbildern zurück, so unscharf, dass ich sie mir nicht wieder ansehen muss.
Erst dann öffne ich die Augen wieder und die Last fällt von mir ab. Zittrig versuche ich mich an einem Lächeln, erst langsam, doch dann bin ich selbst überrascht, wie gut es mir gelingt.
„Vielleicht hast du bei Kate einfach vergessen, warum ihr euch damals verliebt habt. Ich meine, da muss doch etwas gewesen sein?", merke ich an und komme damit wieder auf das eigentliche Gespräch zurück. Aus irgendeinem Grund schmerzt es mein Herz, über Harrys Beziehung reden zu müssen, doch sein Glück ist wichtiger als meines. „Versuche dich daran zu erinnern und dann nimm dir Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Entweder du kämpfst für eure Beziehung oder du machst Schluss mit ihr."
„Muss ich das denn? Mich entscheiden?"
Ich nicke. „Ja, denn alles andere wäre Kate nicht fair gegenüber. Wenn du sie nicht mehr liebst, dann hat sie ein Recht, das zu wissen."
Denn nichts ist schlimmer, als immer über den Grund nachzugrübeln und kein Ende zu finden. Das habe ich selbst auf schmerzlichste Art erfahren müssen.
„Danke für den Ratschlag, Al", meint Harry und seufzt dann theatralisch. „Warum muss das Leben so furchtbar kompliziert sein?"
Ich grinse leicht. „Einfach wäre doch langweilig, oder?"
Er schüttelt vehement den Kopf. „Unsere Beziehung ist immer einfach gewesen und alles andere als langweilig."
„Das sagst du nun bloß, weil du dich nur an die guten Zeiten erinnerst, Harry."
„Ist das denn so schlimm? Die guten Erinnerungen behalten zu wollen?"
„Nein, das ist es nicht. Es ist einfach menschlich, schätze ich", entgegne ich nachdenklich.
Stirnrunzelnd lehnt Harry sich in das rote Polster der Bank, die uns beide vereint. „Was ist die größte Lüge dieser Welt, Al? Glaubst du, es ist die Liebe?"
Mit einem traurigen Lächeln schüttele ich den Kopf. „Nein, es sind Versprechen", flüstere ich.
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Hallo ihr Lieben,
War irgedwer von euch schon einmal bei einem Poetry Slam?
Und hat irgendwer von euch momentan Herbstferien? Oder müsst ihr euch durch den Alltag quälen?
Einen schönen Dienstagabend euch allen.
Bis zum nächsten Mal.
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