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r e p e t i t i o n
april 2018
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Allison || Als ich den Schlüssel aus meiner Jackentasche fischen will, fällt mir auf, dass ich diesen erst gar nicht eingesteckt habe. Frustriert trete ich gegen die Hauswand, dessen Backsteine ohnehin dringend einmal neu gestrichen werden müssten und klingele.
Nur Sekunden später wird die Haustür so schwungvoll aufgerissen, dass ich einen Moment lang befürchte, dass sie aus den Angeln fällt. Meine Mitbewohnerin grinst breit, als sie mich erkennt und streicht sich eine Strähne ihrer wilden Naturlocken aus der Stirn, die sich auf dem Weg dorthin verirrt haben. Helen tut nichts ohne Schwung, alles an ihr strahlt Leben aus.
„Ally! Hast du wieder einmal deinen Schlüssel vergessen?"
Statt einer Antwort schiebe ich mich kommentarlos an meiner Mitbewoherin vorbei in unsere Wohnung und betrete unsere Küche, die einen Hausputz dringend nötig hätte. Aber keiner von uns beiden ist begeisterter Ordnungsliebhaber, weswegen dieser Raum auch noch eine Weile in Ruhe gelassen werden wird.
Meine Mutter würde bei dem Anblick die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber da sie sich in Manchester befindet und ich schon vor Jahren ausgezogen bin, werde ich dieses Problem erst in den Angriff nehmen, wenn sie ihren nächsten Besuch ankündigt.
„Was ist passiert, Ally? Du hast dich doch erst vor einer Stunde auf den Weg gemacht?" Auf Helens ansonsten meist entspannten Gesichtszügen ist die Besorgnis nicht zu übersehen.
„Ich wünschte, ich wäre tot", murmele ich und lasse mich seufzend auf einen unsere Küchenstühle fallen, der auch schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. Teile des dunklen Holzes sind bereits völlig voller Macken und ab einer bestimmten Gewichtsklasse sollte man Abstand davon nehmen, sich auf ihn zu setzen, wenn man nicht schmerzhaften Kontakt mit dem karierten Küchenboden machen will.
In unserer ersten WG-Woche hatten wir diese Stühle auf dem Sperrmüll gefunden und Helen hatte beschlossen, dass sie sich prima für unsere Küche eignen würden. Mittlerweile habe ich sie ebenfalls ins Herz geschlossen. Trotz ihres mittlerweile ziemlich gefährlichen Zustands würde keiner von uns beiden die Stühle gegen eine neuere Garnitur eintauschen. Dafür haben sie bereits zu viele unserer Problem- und Krisensitzungen mitgemacht.
„Sag doch so etwas nicht, Ally! So schlimm kann es gar nicht gewesen sein. Todeswünsche darf man erst bei einem totalen Desaster eines Dates haben", bestimmt Helen und lehnt sich gegen die Küchentheke.
„Glaub mir, es war ein totales Desaster", versichere ich ihr und streiche mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht, denn natürlich hatte meine Frisur bereits nach der Hälfte des Dates beschlossen, sich aus dem kunstvollen Zopf zu lösen.
Seufzend sehe ich meiner Mitbewohnerin dabei zu, wie sie meine Situation anscheinend höchst amüsierend findet. Sie kann sich nur schwer ein Lachen verkneifen, was ich an ihren zuckenden Mundwinkeln deutlich erkennen kann.
„Hör auf, dich zu amüsieren, Helen! Ich hatte den furchtbarsten Abend seit langer, langer, langer Zeit!", beschwere ich mich, wobei ich das Wort ‚lang' gleich drei Mal benutze, um dessen Bedeutung zu unterstreichen.
„Was ist passiert, Ally? Aiden hörte sich doch nach einem tollen Mann an? Du hast die ganzen letzten Tage von ihm geschwärmt."
Helen beginnt, heißes Wasser in zwei Tassen zu gießen. Tee ist mein bevorzugtes Getränk in Krisensituationen, welches nun wirklich angebracht ist. Man mag uns Briten für verrückt erklären, aber das Heißgetränk kann wirklich Wunden heilen.
„Ich dachte wirklich, Aiden wäre ein netter Typ. Und das war er auch, bis er fand, dass es eine super Idee wäre, inmitten des Restaurants seine Hand in meine Hose gleiten zu lassen! Es war so unangenehm! Und peinlich!", empöre ich mich.
Bei der Erinnerung daran strömt mir direkt wieder unangenehme Hitze in Wangen, was mich zweifellos wie einen Feuerwischer aussehen lässt, denn meine blasse Haut verzeiht nichts.
„Ich meine, immerhin kannte er dich da schon seit dreißig Minuten", scherzt Helen lachend und stellt eine Tasse meines Lieblingstees – Vanilla Rooibos - vor mich.
Ich verdrehe die Augen. Morgen werde ich das Date sicherlich ebenfalls amüsant finden, aber jetzt fehlt mir der Humor dafür. „Es waren nicht einmal dreißig Minuten, sondern gerade mal achtundzwanzig. Wer versucht, ein fremdes Mädchen während des ersten Dates zu fingern?"
„Arschlöcher", kommentiert Helen trocken und lässt sich auf den Stuhl fallen, der mir gegenübersteht. Das Holzgestell gibt ein herzzerreißendes Quietschen von sich, fängt sich dann aber wieder. Umso fürchterlicher sich das Geräusch in meinen Ohren anhört, umso froher strahlt der hellgelbe Anstrich, den Helen der Sitzgelegenheit direkt von Beginn an verpasst hat. Während meine Mitbewohnerin begeisterte Künstlerin ist, kann ich froh sein, wenn ich ein Strichmännchen zu Stande bringe.
„Aiden ist eindeutig in die Kategorie Arschloch einzuordnen", stimme ich ihr zu und nehme frustriert einen weiteren Schluck Tee, der mich auch nur halbwegs beruhigen kann. „Warum treffe ich eigentlich nur Idioten? Wieso kann ich nicht ein einziges Mal ein gutes Date haben? Warum habe ich immer nur Pech mit der Männerwelt?"
Helen rührt nachdenklich in ihrem Kaffee, während sie die Stirn in Falten legt.
„Das stimmt nicht ganz" meint sie vorsichtig, als ich schon dachte, dass wir für immer Schweigen werden.
Ich weiß, dass sie von Harry spricht, auch ohne dass sie seinen Namen in den Mund nehmen muss. Meine Finger verkrampfen sich um meine Tasse und ich wünschte, dass ich ihm den Inhalt direkt ins Gesicht werfen könnte. Aber das ist nicht möglich, weil er wieder einmal irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs ist und sich durch die Promilisten vögelt.
„Fang bloß nicht von Harry an. Er ist wahrscheinlich der größte Idiot von allen. Unsere Beziehung endete in einer Katastrophe", erinnere ich sie und seufze leicht.
„Aber er hat dich glücklich gemacht, Ally. Zumindest eine Zeit lang."
Das leugne ich nicht einmal, denn Helen hat Recht. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass er so viele Versprechen gebrochen hat und ich immer wieder auf ihn reingefallen bin. Ein bisschen Glück macht all die Enttäuschungen und den Verrat nicht wieder wett. Diese Rechnung wird nie aufgehen.
„Auf welcher Seite bist du eigentlich, Helen? Solltest du nicht mich unterstützen?"
Meine Mitbewohnerin hebt abwehrend die Hand in die Höhe. „Das tue ich doch! Aber du hast Harry nie die Gelegenheit gegeben, es überhaupt zu erklären", merkt sie an.
Schwungvoll schiebe ich meine Tasse von mir. „Er hat ein fremdes Mädchen gevögelt. Was sollte er da noch erklären? Dass er aus Versehen in sie reingerutscht ist?"
Helen weicht meinem Blick aus und fokussiert stattdessen die Zeitung, die ich heute Morgen direkt von mir geschoben hatte, sobald mir die schwarze Überschrift ins Auge gefallen war. Wahrscheinlich hätte mir da schon klar sein sollen, dass der ganze Tag einfach nur noch schlimmer werden konnte.
Am besten wäre ich direkt wieder ins Bett gegangen. Aber stattdessen hatte ich auf Helen gehört, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mich immer wieder in die Männerwelt zu schicken. Ich muss nicht erwähnen, dass das Aiden-Desaster nicht die erste Katastrophe war. Ich bin einfach inkompatibel.
„Bist du wirklich so schlecht gelaunt wegen deines Dates? Oder wegen Harry?", fragt Helen mich, als ihre Augen über die Überschrift der Zeitung gleiten. Wir hätten dieses Klatschblatt schon vor Jahren abbestellen sollen. Es eignet sich höchstens dafür, um sich den Hintern abzuwischen, wenn jemand von uns wieder einmal vergessen hatte, das Klopapier einzukaufen.
Ich nehme mir die Zeitung und fange an, sie in kleine Stücke zu zerreißen.
„Wegen des Dates natürlich!", entgegne ich. „Warum sollte das Ganze auch nur irgendetwas mit ihm zu tun haben?"
Helen sieht mir in die Augen. „Weil ich denke, dass du immer noch nicht mit Harry abgeschlossen hast", meint sie unverblümt. „Er hat sich mit Kate Abott verlobt und es ist nur natürlich, wenn du da an ihn denkst."
Die Papierstücke fliegen durch die Küche, doch ich bin zu faul, um sie direkt aufzusammeln. Morgen ist dafür auch noch genügend Zeit. Bei meinem Glück heute werde ich mir dabei nur das Bein brechen.
„Das einzige, was ich fühle, ist Mitleid für diese Schauspielerin. Kate Abott weiß wahrscheinlich nicht einmal, was er alles angestellt hat", entgegne ich.
Helen mustert mich nur stumm aus ihren rehbraunen Augen, die so fürchterlich bohrend sein können.
„Ich vermisse Harry nicht, Helen. Es ist seit zwei Jahren vorbei. Warum sollte ich ihn vermissen?"
„Zwei Jahre mögen eine lange Zeit sein, Ally. Aber nicht immer lang genug, um die Person zu vergessen, die man liebt", antwortet Helen.
Manchmal könnte ich schwören, dass sie den ganzen Tag in pseudohilfreichen Ratgebern blättert und die Seiten inhaliert wie andere Leute Schokolade.
Ich sehe aus dem Fenster, nur um zu sehen, wie der Himmel sich langsam, aber sicher in das schwarz der Nacht verwandelt.
„Können wir jetzt bitte wieder über mein Desaster von einem Date sprechen?", bettele ich.
Helen sieht mich mit dem Blick an, den sie immer aufsetzt, wenn sie der Meinung ist, dass ich eine falsche Art habe, mit meinen Problemen umzugehen. Ihrer Meinung nach ist die einzige Lösung, die Augen zusammenzukneifen und direkt durch das Desaster durchzurennen. Vielleicht liegt dies an ihren amerikanischen Wurzeln. Die Amis sind doch ohnehin auf diesen Wunschträum fokussiert, dass alles möglich ist, solange man es nur versucht.
Helen mustert mich eine Zeit lang, doch dieses Mal gebe ich nicht nach und starre einfach nur aus meinen eisblauen Augen zurück. Mein Bruder Seth bezeichnet dies immer als meinen gletscherkalten Mörderblick, den ich im Laufe der Jahre perfektioniert habe. Ich mag nicht die lauteste Person sein, aber ich kann für mich einstehen.
Meine Mundwinkel zucken siegesreich nach oben, als meine Mitbewohnerin als erste woanders hinsieht. „Okay, Ally. Der Punkt geht an dich. Lass uns über Aiden und seine wandernden Finger reden."
Ich verdrehe meine Augen über ihre Wortwahl und grinse leicht.
„Ehrlich gesagt, ist er heiß. Ziemlich heiß. Hellblondes Haar, braune Augen, wunderbare Wangenknochen", informiere ich meine Mitbewohnerin über den Jungen, der mich letzten Samstag im Supermarkt nach einem Date gefragt hat.
„Heiß genug, um über seine Eigenarten hinwegzutäuschen?", murmelt sie.
Ich verziehe das Gesicht. „Leider nicht. Aber ein Mädchen darf doch trotzdem schwärmen, oder? Ich werde ihn ohnehin nie wieder sehen."
„Träumen ist immer erlaubt. Denk doch nur einmal an Chris Hemsworth, der darf mich jederzeit in meinen Träumen besuchen." Grinsend nimmt Helen einen weiteren Schluck ihres Lieblingsgetränks. Kaffee, schwarz wie ihre Seele, wie sie gerne sagt. Dabei ähnelt das Innere meiner Mitbewohnerin eher einer bunten Blumenwiese mit Glitzerpuder.
„Aiden ist groß und muskulär. Aber er hat nicht zu viele Muskeln, weißt du, was ich meine? Eher die Art von muskulär, die einen Jungen heiß aussehen lässt, aber nicht wie einen Bodybilder?"
Helen nickt bestätigend.
„Und er war auf seine Art wirklich nett. Und lustig und gedankenvoll. Jedenfalls bis er das mit seinen Fingern versucht hat", erzähle ich ihr.
„Wir sollten ihn Wanderfinger taufen", meint Helen nachdenklich und steht auf, um das Notizbuch aus einer der Küchenschubladen zu ziehen, in der wir alle unsere Datingdesaster festhalten. Aiden wird also als Wanderfinger in der Liste zwischen etlichen Muttersöhnen, Egoistenfickern und Wattehirnen verewigt. Mein heutiges Date ist also ein echter Exot, bis jetzt ist er das erste Exemplar seiner Art.
„Was war mit dem Essen? War wenigstens das Essen lecker?", fragt Helen mich, als sie Aidens Namen mit ihrer ordentlichen Handschrift aufs Papier gebracht hat. Die Namen und Bezeichungen, die ich hingegen in das Notizbuch eingetragen habe, lassen sich kaum entziffern.
Ich will gerade anzufangen zu sprechen, als jemand entschieden hat, dass es anscheinend Zeit wäre, unsere Klingel zu vergewaltigen.
„Was zur Hölle?", murmelt Helen und steht auf, um die Tür zu öffnen.
Hoffentlich schreit sie die Person dahinter direkt an. Aber so wie ich meine Mitbewohnerin kenne, sollte ich mir da wohl keine großen Hoffnungen machen. Ich wünsche mir einfach, dass die Person schnell wieder verschwinden wird, sodass ich mich weiter bei ihr über Aiden ausheulen kann.
Im Laufe der Zeit, die wir bereits zusammenwohnen, haben wir den Pakt geschlossen, jedes schlimme Date der anderen gehörig zu zerreißen. Auf diese Art haben wir wenigstens hinterher etwas zu lachen und müssen nicht mit jämmerlichen Gedanken abends ins Bett fallen. Mitbewohnerin in dieser WG zu sein ist gleichbedeutend mit dem Vertrag, sich jederzeit die Sorgen des anderen anzuhören, wenn uns danach ist.
Diese Abmachung ist natürlich für beide Seiten gültig, weswegen ich im letzten Monat nicht allzu viel geschlafen habe, wenn man bedenkt, dass Helen ihren Freund abgeschossen hat. Im Gegensatz zu mir schafft meine Mitbewohnerin es immerhin, die Grenze zur Beziehung zu überschreiten, während ich meistens schon in der Datingphase scheitere.
Seufzend ziehe ich meine Tasse Tee wieder heran und nehme einen Schluck. Der bittersüße Geschmack auf meiner Zunge hat direkt eine heilende Wirkung. Vielleicht, weil er Ähnlichkeit mit dem Leben hat, denke ich nachdenklich, während ich das Porzellan in meiner Hand drehe.
Einige Minuten später stürmt Helen zurück in unsere Kühe und sieht mich auffordernd an.
„Da ist jemand an der Tür, der mit dir sprechen will", sagt meine Mitbewohnerin, während sie sich gegen die Arbeitsplatte lehnt. Wieder einmal muss sie sich die Locken aus dem Gesicht wischen, weil sie viel zu schnell unterwegs gewesen ist.
„Wer genau?", frage ich, während ich keine Anstalten mache, mich wirklich zu erheben.
„Ein Junge."
Ich verdrehe die Augen. Klarer kann sie sich wohl kaum ausdrücken.
„Ist es Aiden? Wenn er es ist, dann kannst du ihm sagen, dass er gleich wieder verschwinden kann", erwidere ich.
„Es ist nicht Aiden, Ally."
„Wer ist es dann?", frage ich.
Helen zuckt bloß mit den Schultern und ich weiß, dass sie mir nichts weiter sagen wird. Wenn sie möchte, dann kann die sonstige Quasselstrippe schweigen wie ein Grab.
Eine Sekunde lang bin ich versucht, die Amerikanerin solange zu ärgern, bis sie es mir verrät. Aber ich kenne sie inzwischen lange genug, um zu wissen, dass sie kein weiteres Wort über den mysteriösen Jungen vor der Tür verlieren wird.
Deshalb entscheide ich, mir den Atem zu sparen und einfach zur Haustür zu gehen. Der Weg ist ohnehin nicht weit, wenn man bedenkt, wie klein unsere Wohnung ist.
Ein riesiger Strauß voller Calla-Lilien ist das erste, was ich sehe, als ich die offenstehende Tür erreiche.
„Aiden, Ich schwöre, wenn das irgendeine Art von Entschuldigung sein soll, dann- ", fange ich genervt an zu schreien, bis mir wortwörtlich die Luft im Hals stecken bleibt, sobald mein Blick hinter den Jungen hinter all den Blumen fällt.
Trotz der Jahre würde ich ihn immer wieder erkennen.
Harry trägt eine schwarze Hose und ein einfarbiges Jeanshemd über einem normalen weißen T-Shirt, was so anders ist als der Style, dem er sich in letzter Zeit verschrieben hat. Er wirkt dadurch unauffälliger, beinahe jünger als zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns kennengelernt haben.
Seine Haare sind kürzer als bei unserer letzten Begegnung, allerdings fangen sie bereits wieder an, sich zu locken und kurz frage ich mich, ob er sie wieder wachsen lässt.
Spätestens als ich Harrys Augen sehen, sind alle Zweifel verflogen, dass er wirklich hier vor mir steht. Denn seine Augen könnte ich nie vergessen, selbst wenn mein Leben davon abhängen würde.
Ich schlucke und kann nicht anders, als ihn anzustarren.
Hätte mir heute Morgen jemand gesagt, dass Harry Styles vor meiner Haustür auftauchen würde, ich hätte ihn ausgelacht. Ihn für verrückt erklärt und ihm geraten, sich wirklich einmal mit der Realität auseinander zu setzen.
Und doch steht er nun vor mir, weniger als einen Meter von mir entfernt. Und unendliche Meilen im übertragenen Sinne.
Die Luft zwischen uns vibriert förmlich, während keiner von uns beiden es wagt, ein Wort über die Lippen zu bringen. Zurück ist das schüchterne Mädchen in mir, das ich immer nur bei Fremden bin. Harry hatte es geschafft, diese Fassade zu durchbrechen und dennoch verfalle ich in seiner Gegenwart nun wieder in das alte Muster. Vielleicht liegt es daran, dass er wieder ein Unbekannter für mich geworden ist. Ich kann seine Gedanken nicht mehr lesen, seine kleinen Gesten nicht mehr deuten, seine Träume nicht mehr nachvollziehen.
„Wer ist Aiden?", unterbricht Harry schließlich die angespannte Stille zwischen uns. Seine Worte klingen zu laut, zu mächtig, zu bedrohlich. Sie zerreißen den trügerischen Frieden zwischen uns, werfen uns zwei Jahre zurück in dieses Hotelzimmer, das ich stürmend verlassen hatte.
Ich ignoriere seine Frage, denn ich will ihm nicht wirklich etwas über ein Date mit meinem Jungen erzählen, vor dem ich nicht einmal nervös gewesen bin. Ganz anders als bei meinem ersten Date mit Harry.
„Niemand, über den du etwas wissen musst", antworte ich und lehne mich gegen den Türrahmen, weil es plötzlich unmöglich erscheint, mich selbst aufrecht zu erhalten.
Harry räuspert sich leicht und ich kann einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Ich kann einfach nicht glauben, dass er es gewagt hat, hier aufzutauchen. Jahrelang haben wir kein Wort miteinander geredet und nun beschließt er einfach, mein Leben durcheinanderzuwirbeln.
„Eigentlich wollte ich dir Rosen mitbringen. Aber dann habe ich gedacht, dass du Lilien schließlich liebst. Oder geliebt hast. Ich weiß nicht. Ich wollte –"
Er hört auf zu reden und reicht mir stattdessen den Blumenstrauß. Meine Finger zittern leicht, als ich die Blumen entgegen nehme und ich hoffe, dass er es nicht bemerkt.
„Was machst du hier, Harry?", frage ich tonlos.
Er beißt sich kurz auf die Unterlippe, als würde er die Worte erst in seinem Mund zurechtlegen müssen. Erst dann teilen sich seine Lippen und sie entkommen in die Freiheit, die mich gefangen nimmt.
Harry lächelt sein unsicheres Lächeln, in das ich mich damals so verliebt habe. „Ich habe versprochen, dass ich immer wieder zu dir zurückkomme, oder? Und ich weiß, wie sehr du gebrochene Versprechen hasst."
Ich höre, wie er diese Worte sagt, während der Wind ihm seine Haare ins Gesicht weht und er unsicher seine Hände ineinander verknotet.
Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen.
Die Lippen, die ich so viele Male geküsst habe.
Die Lippen, von denen ich einfach nicht hatte genug bekommen können.
Die Lippen, die mir all seine Geheimnisse erzählt haben. Flüsternd, mit sanfter Stimme. Das war es wenigstens, was ich geglaubt hatte.
Ich sehe, wie Harry mich verzweifelt ansieht.
Und ich weiß, dass ich etwas sagen sollte. Etwas. Irgendetwas.
Ich weiß nur nicht, welche Worte über meine Lippen kommen sollen. Ich kann nicht atmen, ich kann nicht denken, ich kann mich nicht bewegen.
Was sagst du, wenn dein Exfreund beschließt, ohne auch nur die kleinste Warnung plötzlich wieder in deinem Leben aufzutauchen?
Gibt es überhaupt eine angemessene Reaktion auf seine Worte?
Ich schätze nicht.
„Warum erzählst du mir das?", frage ich ihn schließlich.
Harry blinzelt kurz, als würde auch er einen Moment brauchen, um meine Worte zu realisieren. Diese ganze Situation ist so verkorkst, dass ich am liebsten in hysterisches Gelächter ausbrechen würde.
Wen ich ihn so vor mir sehe, mit leicht gesenkten Schultern, den unglaublichsten Augen, die ich je gesehen habe und dem kleinen Zucken in seinem rechten Mundwinkel, dann ist es nicht schwer zu verstehen, warum ich mich damals in ihn verliebt habe.
„Erinnerst du dich an diese eine Nacht in New York? Wir konnten nicht schlafen und haben entschieden wegzulaufen. Von meiner Band, von deinen Sorgen, von all dem Hass. Wenigstens für eine Nacht. Letztendlich sind wir in diesem alten, vollkommen heruntergefallenen Pub gelandet und haben uns viel zu sehr betrunken."
Er spricht flüsternd, doch seine Worte brechen ein wie ein Hurrikan. Die Erinnerungen strömen in mein Gedächtnis und lassen mich zittrig nach Atem schnappen.
„Ich habe dir ein Versprechen gegeben in dieser Nacht. Und ich hätte es dir ebenso versprochen, wenn ich vollkommen nüchtern gewesen wäre. Erinnerst du dich an das, was ich dir versprochen habe?", fragt er mich.
Ich wende meinen Blick ab, denn ich weiß genau, was er meint.
„Harry", murmele ich mit viel sanfterer Stimme, als ich es beabsichtigt habe.
„Ich habe dir versprochen, dass ich jedes Versprechen, dass ich dir je geben würde, halten werde. Erinnerst du dich daran, Ally?"
Seine Stimme ist leise, sie wird fast von dem Wind weggetragen, der um uns herum wütet, als gäbe es in dieser stürmischen Nacht nichts anderes zu tun, als zwei frühere Liebende zu umfliegen.
Plötzlich werde ich wütend. Denn ja, ich erinnere mich an diese Nacht. Ich erinnere mich viel zu sehr. Viel zu genau. Ich könnte jedes einzelne Wort rezitieren, das damals über Harrys Lippen gekommen ist.
Denn es ist die Nacht, in der ich realisiert habe, dass ich ihn liebe.
Ich rede nicht über Verliebtheit, über Anziehung, sondern über die Liebe selbst. Die klarste, einfachste und zugleich komplizierteste Art von Liebe.
Die Liebe, die du nur einmal im Leben findest. Nach der du nicht suchst, sondern von der du gefunden wirst.
Die Art von Liebe, die dich so sehr in deine Klauen reißt, dass du kannst nichts dagegen tun kannst. Denn selbst wenn sie dich umbringen wollte, dann würdest du es zulassen, nur um sie erleben zu können. Wahrscheinlich würdest du selbst noch diejenige sein, die das Messer in dein Herz führt.
„Ja, ich erinnere mich daran", erwidere ich tonlos und mustere Harry. „Wieso zum Teufel bist du hier, Harold?"
Sein Blick fällt nach unten und streift meine Hände, die noch vor nicht allzu langer Zeit mit seinen verschränkt waren, als würde uns nichts auf der Welt auseinanderreißen können. Als wären sie unsere Rettungsleine in einem stürmischen Leben.
Ich merke, wie sich ein Kloß in meinem Hals formt, als ich an vergangene Zeiten denke.
„Weil ich dir etwas versprochen habe. Und ich nicht vorhabe, dieses Versprechen zu brechen", entgegnet Harry mit fester Stimme. „Und weil ich die vermisse."
Ich bin froh über den Türrahmen, der mich abfängt und mich in der Realität verankert. Mich daran erinnert, dass er schon immer ein Meister der Worte gewesen ist. Ein Meister der Lügen.
Mein Herz stockt bei seinen Worten, setzt kurz ganz aus, nur um daraufhin einen Marathon zu laufen. Nicht aus Liebe, sondern aus Schock.
Ich sage nichts, sondern stehe einfach nur stumm da und starre den Jungen an, der einmal meine ganze Welt gewesen ist.
„Bitte, Ally. Lass mich versuchen, die Dinge wieder hinzubiegen. Gib mir eine zweite Chance."
Würde ich Harry nicht so gut kennen, dann wäre mir wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen, dass seine Stimme zum Ende hin kaum merklich bricht.
Ich blinzele und merke, wie sich die angestaute Wut in meinem Bauch mit meinen Worten vermischt.
„Gib mir einen Grund warum ich dir eine weitere Chance geben sollte", meine ich und bin selbst erstaunt darüber, wie kalt meine Stimme klingen kann.
„Weil ich dich immer noch liebe?"
Ich schnaube laut und verdrehe die Augen. Da ist er wieder, der Charme, der ihn begleitet und auf den alle immer wieder reinfallen. Auch ich bin eines dieser Mädchen gewesen, habe mich von ihm einwickeln lassen. Doch dieses Mädchen bin ich nicht mehr, ich habe mich verändert.
„Was sagt denn deine Verlobte dazu, dass du mich immer noch liebst?", entgegne ich unwirsch.
„Das ist nicht die Art von Liebe, die ich meine, Ally!", ergänzt Harry eilig und verhaspelt sich fast an seinen Worten. „Ich liebe dich immer noch, weil du meine beste Freundin warst. Weil du die Person gewesen bist, der ich alles habe erzählen können. Die Person, die mich niemals verurteilt hätte. Die Person, die hinter meine Fehler sehen würde. Und ich liebe dich für all diese Dinge." Er schluckt und ich wünschte, ich würde ihn nicht immer noch so gut kennen, dass ich sehen kann, wie schwer ihm es fällt, diese Worte auszusprechen. „Du warst mein Lieblingsmensch, Ally. Und ich vermisse meinen Lieblingsmenschen."
„Das tut mir leid, Harry. Aber du bist nie mein Lieblingsmensch gewesen", entgegne ich, trete in unsere Wohnung und schmeiße die Tür zwischen uns zu.
Dann sinke ich kraftlos an dem Holz nach unten und frage mich, ob dies der Abschluss ist, den ich all die Jahre gebraucht hätte. Vielleicht hat Harry mir heute die Chance gegeben, endlich mit ihm abzuschließen.
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Hallo ihr Lieben,
Was haltet ihr bis jetzt von Ally? Mögt ihr sie?
Ich habe schon einige Kapitel für diese Geschichte hochgeladen, die ich hoffentlich bald schon mit euch teilen kann und hoffe, dass mir die Inspiration auch in Zukunft nicht flöten geht. Bis jetzt zumindest schreibe ich unheimlich gerne an dieser Geschichte.
Wenn alles gut geht, dann werde ich vermutlich alle 1-2 Wochen updaten können.
Promise hat immer schon einen Platz in meinem Herzen gehabt und ich hoffe, dass auch ihr mich auf dieser Reise weiterhin begleiten werdet.
Eine schönen Start in diese Woche wünsche ich euch.
Bis zum nächsten Mal.
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