2. Kapitel (Jodie)
Eigentlich hatte sie üben wollen. Deshalb stand sie auf dem Balkongeländer des großen Turms, als es passierte. Als der laute Knall ertönte, wäre sie beinahe vom Geländer gefallen. Nun musste sie schnell handeln. Jodie musste die Anderen finden. Mist! Tom wär noch nicht zurückgekommen. Sie hatte gesehen, wie er sich rausgeschlichen hatte. Da war sie gerade auf dem Weg zum Turm gewesen. Er war also noch nicht lange weg. Was auch immer momentan passierte, hoffentlich war es bis zu seiner Rückkehr vorbei. Sie eilte die Stufen des Turms hinunter, in der Hoffnung nicht zu stolpern. Eigentlich hätte sie ihre Kräfte einsetzen können, doch sie hatte zu viel Angst. Das war erst seit kurzem so. Jodie hatte sich vor ein paar Tagen in Form einer Maus auf die Reise zur Speisekammer gemacht. Das war keine Seltenheit. Sie hatte früh damit begonnen. Doch seit Abberline sie eines Nachts erwischt hatte, nutzte sie ihre Kräfte für die abendlichen Essausflüge. Mal war sie eine Maus oder Ratte, aber auch eine Kakerlake. Einmal, als die Tür abgeschlossen war, war sie in ihrer Lieblingsgestalt, der eines Vogels, durch ein offenstehendes Fenster eingedrungen. Bis vor ein paar Tagen war dabei nichts schief gegangen. Doch dann hatte sie es nicht geschafft, ihre Mausform komplett abzulegen. Die Schneidezähne und die Schnurrhaare waren vorerst geblieben. Schlussendlich hatte sie es doch geschafft, sich davon zu befreien. Doch seitdem hatte sie es sich nicht mehr getraut. Als sie auf den Turm gestiegen war, wollte sie es eigentlich wieder probieren. Dort oben hatte sie sich immer frei gefühlt, wenn sie vom Balkongeländer gesprungen war und sich in einen Vogel verwandelt hatte. Allerdings kam dieses Gefühl der Freiheit erst, wenn sie über den Wald flog, der die Schule umschloss. Doch dazu war es nicht gekommen. Statt über den Wald zu fliegen, rannte die 11 jährige die Turmtreppe hinunter. Ohne groß weiter darüber nachzudenken, setzte sie ihren Weg in Richtung Bibliothek fort. Das war eine der ersten Sachen gewesen, die Abberline ihr und den Anderen beigebracht hatte. Die Bibliothek war die Sammelstelle und der Notausgang. Es führten viele Tunnel und Geheimtüren aus der Schule. Das hatte sie herausgefunden, als sie auf einem ihrer frühsten Essausflüge, aus Angst entdeckt zu werden, eine Wand gedreht hatte. Jodie hatte sich dagegen gelehnt und war auf einmal nach hinten weg gerutscht. Seitdem hatte sie das Haus gezielt nach Geheimtüren, -gängen und -tunneln abgesucht. Jeden Fund kartographierte sie sorgfältig. Doch es blieb keine Zeit, um über etwas anderes als Abberlines Notfallplan nachzudenken. Sie kam in der Bibliothek an. Jodie war die Letzte, wenn man bedachte, dass Tom nicht kommen würde. Alle waren um Abberline versammelt, der an seinem Schreibtisch saß. Scheinbar hatte er sich bereits eine Verteidigungsstrategie ausgedacht, ohne zu wissen wer sie überhaupt angriff. Jedenfalls hörte sie ihn sagen: „Jack du hälst hier Stellung." Abberline bemerkte sie und fuhr fort: „ Ach, Jodie da bist du ja endlich. Ich nehme an, Tom wird nicht kommen?" Sie nickte. Vor ihm konnte man nichts verheimlichen. Aber wenn man sich Mühe gab, sah er schon über das ein oder andere hinweg. Sowie Jodies Speisekammerausflüge oder Toms regelmäßige Flucht aus der abgelegenen Schule in die Stadt. Abberline unterbrachen ihre Gedanken, indem er weiter redete: „ Also: Jack du weißt wo du uns findest. Pass auf dass uns niemand folgt und bring Tom mit, wenn er wiederkommt." Erst jetzt verstand Jodie den Plan: Jack sollte zurückbleiben, um sie zu schützen. Es machte Sinn, da Jack nicht nur der Älteste, sondern auch der Stärkste von ihnen war. Trotzdem widerstrebte ihr dieser Gedanke und sie sah Abberline erschrocken in die Augen. Zumindest wollte sie das, doch dann viel ihr auf, dass er statt des Glasauges eine Augenklappe trug. Das Auge lag in seinem geöffneten Kästchen auf dem Schreibtisch. Auf einmal ertönten laute Schritte im Flur. Also wurde es erst. Abberline stand auf und öffnete eine der klischeehaftesten Geheimtüren, die es gab. Dies tat er, indem er aus einem der großen Regale ein Buch etwa zur Hälfte herauszog. Dadurch wurde der Mechanismus ausgelöst, der das Regal verschob. Statt einer Wand offenbarte sich ein dunkler Tunnel. Durch den ging sie kurze Zeit später und ließ somit zwei der Jungen zurück, die für sie wie Brüder waren.
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