1
Ohrenbetäubender Lärm.
Er breitete sich in ihrem Kopf aus.
Das Surren dröhnte in ihrem Schädel.
Gepolter, Quietschen, Stille.
Die Stille tat anfangs gut, doch dann verwandelte sich die Erleichterung in Angst. Wenn es still war wusste sie nicht was um sie geschah. Ihr Bild war verschwommen und auf das was sie dachte und fühlte konnte sie sich schon lange nicht mehr verlassen. Ihr einziger Fixpunkt, das schmerzende, laute Geräusch, das ihr verriet, dass sie noch am Leben war. Es war fort und damit auch ihr letztes bisschen Hoffnung.
Angst verwandelte sich in Panik, aber Panik würde ihr jetzt nicht helfen.
Konzentrier dich! Die Stimme in ihrem Kopf war ein gutes Zeichen. Tot konnte sie nicht sein.
Sie setzte all ihre Kraft auf ihre letzten Anhaltspunkte. Riechen und schmecken. Plötzlich kam etwas... war es der Geruch von Benzin oder Öl...altes Holz? Der Geruch verlor sich im Nichts. Die Panik kam zurück. Tränen schossen in ihre Augen ob vor Angst oder dem beißenden Gestank - sie wusste es nicht.
Ein letzter Versuch. Sie musste es schaffen!
Angestrengt saß sie da. Oder stand sie? Ihr Körper versuchte ihr einen Streich zu spielen. Sie Biss sich auf die Lippe, eine nervtötende Angewohnheit, die sie hatte wenn sie aufgeregt war. Auf einmal breitete sich ein kalter, metallischer Geschmack in ihrem Mund aus. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Blut. Eindeutig.
Sie hatte wieder einen Anhaltspunkt.
All ihre Gedanken stützte sie darauf. Den Rest blendete sie aus. Den Schmerz, die Angst ,die Kälte.
Etwas lief über ihren Arm. War es Schweiß, Wasser, Blut? Oh Gott, nicht ablenken. Doch es war zu spät. Weg war der Geschmack in ihrem Mund. Alles begann sich zu drehen, auch das verschwommene Bild vor ihren Augen.
Ihr Atem beschleunigte sich. Bei jedem Atemzug ein stechender Schmerz in ihrer Brust. Trotzdem. Immer weiter. Ein. Aus. Ein. Aus. Sie spürte ihr Herz rasen. Ein. Aus. Ein. Aus.
Die Luft blieb ihr mit einem mal weg. Sie schnappte danach, doch es war als hielt ihr jemand die Hand vor den Mund.
Dann wurde alles schwarz.
Plötzlich ein schriller Ton.
Thalia schlug die Augen auf. Ihr Oberkörper schreckte hoch.
Als wäre sie gerade aus dem Wasser aufgetaucht atmete sie heftig ein. Ein tiefer Atemzug und endlich strömte wieder lebensnotwendige Luft durch ihre Lungen. Es schmerzte etwas in der Kehle, doch die Luft erfüllte sie mit neuem Leben, wie ein kühler Windhauch nach einem Marathonlauf in der brennenden Sonne. Schnell hob und senkte sich ihr Brustkorb.
Während sich ihr Atem beruhigte und ihr Herz begann wieder gleichmäßig zu schlagen, schweifte ihr Blick durch den weißen Raum, in dem sie saß. Strahlend weiße Wände starrten ihr entgegen. So hell, dass es ihr schwer fiel die Augen offen zu halten. Sie setzte eine Hand vor ihr Gesicht um sich vor dem grellen Licht, das dieses Zimmer erfüllte und von dem Weiß der Wände reflektiert wurde, zu schützen. Langsam rappelte sie sich auf. Leicht wie eine Feder setzte Thalia einen Schritt nach vorne, doch anstatt ihren Fuß auf harten Boden zu setzten, fiel sie hindurch.
Es war als würde sie eine 180 Grad Drehung machen, dann stand sie wieder auf festem Grund. Trister, grauer Beton zu ihren Füßen. Vor ihr ein langer Gang.
Am anderen Ende kauerte eine Gestalt. Ein Mädchen. Sie wurde beleuchtet durch eine einzige, kleine Glühbirne. Hinter ihr war alles dunkel. Sie trug einen ehemals weißen Krankenhauskittel, der nun voller Schmutz und anderer Flecken war, genau wie ihre Arme und Beine , die zusätzlich übersät mit Wunden waren. Ihr Gesicht konnte Thalia nicht erkennen, denn kinnlange ,dunkle Haare verbargen die Sicht darauf .
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Nichts war zu hören, außer ihr Wimmern und ein dumpfes Klopfen.
-.. .- ...
Plötzlich erzitterte der Körper des Mädchens. Sie begann wild zu zappeln, schaffte es irgendwie auf die Beine zu kommen und versuchte fort zu laufen. Weit kam sie nicht, eine rostige Kette fesselte ihre Arme an den Boden. Wild zog sie daran, mit aller Kraft versuchte sie sich aus ihrem trostlosen Verließ zu befreien.
.. ... -
Immer wieder schrie sie auf. Ein schriller Schrei der Thalia bis ins Mark erschütterte. Die Wände reflektierten den Schall und warfen ein Echo zurück. Thalia wollte ihr helfen aber auch sie schien gefesselt zu sein, denn ihr Körper war wie erstarrt. Sie war gefangen in ihrem eigenen Körper.
. .. -. .
Das Mädchen hatte abgelassen von ihren Ketten und lief nun verzweifelt ihm Raum herum, fast schon suchend. Auf einmal fing sie erneut an zu schreien, doch diesmal konnte Thalia ihre Schreie verstehen. Es waren nicht nur Schreie, es waren Worte.
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"Wo bist du? ", rief das Mädchen. Man konnte die ganze Verzweiflung spüren, aber da war noch etwas anderes. Es war unbeschreiblicher Hass . Ihre Worte waren voll davon.
"Wo bist du?", schrie sie aus Leibeskräften, "Ich weiß, dass du hier bist! Hör auf mich zu quälen! Komm raus und zeig dich!"
Ein letzter Schrei erfüllte den Raum und das Mädchen brach plötzlich zusammen. Ein dumpfer Schlag hallte durch den Gang, als sie auf dem harten Boden aufschlug.
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Stille. Im Hintergrund war nur noch das dumpfe Klopfen zu hören. Einen Moment lang passierte nichts und Thalia hatte Angst das Herz des Mädchens hätte aufgehört zu schlagen, doch dann richtete sie sich langsam wieder auf. Ihre Glieder machten unzusammenhängende Bewegungen. Es sah aus als würde sie wie eine Marionette an einzelnen Fäden nach oben gezogen werden, bis sie schließlich auf beiden Füßen stand.
Sie fing an zu lachen. Ein Lachen, das sich anhörte wie aus einem Albtraum. Erst leise, dann wurde es immer lauter. Ein kalter Schauer lief Thalia über den Körper. Noch drehte sie Thalia den Rücken zu, aber im nächsten Augenblick begann sie sich langsam ihr zuzuwenden.
Sie stand Thalia nun genau gegenüber. Natürlich war sie am anderen Ende des Raumes, doch Thalia hatte das Gefühl, dass sie nur wenige Zentimeter trennten. Das Lachen verstummte. Der Blick des Mädchens war nach unten gerichtet.
.. -.
Sie murmelte etwas. Thalia verstand nicht. Sie wiederholte es immer wieder, immer wieder. Doch Thalia verstand nicht. Dann hob sie langsam den Kopf. Ihre Augen waren geschlossen.
Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mädchens aus. Quälend langsam öffnete sich ihr Mund.
"Du bist Schuld daran !", die Worte kamen gemächlich fast schon freudig über ihre Lippen.
Thalia bekam erneut Panik, doch sie wusste nicht wieso.
-.. . .. -. . .-.
Auf einmal schlug das Mädchen ihre Lieder auf. Stechend blaue Augen bohrten sich in Thalias. Sie sah sie direkt an. Die Farbe war so stark, dass sie auch auf Distanz erkennbar war.
Dann schrie das Mädchen, wie zu Beginn. Es machte einen Satz nach vorne auf Thalia zu, versuchte an sie zu gelangen. Sie zog an ihren Ketten und schrie dabei.
Die Ketten klirrten.
Die Ketten brachen.
--.. . .. -
Alles wurde schwarz...
Thalia blinzelte der Sonne entgegen und versuchte verschlafen ihre Gedanken zu ordnen. Der gleiche Traum...schon wieder! Genervt drehte sie ihren Kopf zur Seite, um dem schmerzenden Licht zu entgehen. Sie blickte auf ein kleines Gänseblümchen und eine Biene, die gerade darum kreiste und immer wieder versuchte sich darauf niederzulassen. Ein Grashalm kitzelte Thalias Nase und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Nein, diesmal war etwas anders gewesen. Nur was? Thalia lag ausgestreckt im kniehohen Gras. Hinter ihr, das kleine, bunte Reihenhaus, das zugegebenermaßen seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Neben der hölzernen Eingangstür, deren beige Farbe schon etwas abblätterte, hing, umrandet von etwas Efeu, ein selbstgebasteltes Tonschild, auf dem in roter, krakliger Schrift:
FAMILIE DANSON
prangte. Dieses Schild erinnerte Thalia immer an ihre unbeschwerte Kindheit, die lauen Sommerabende im Garten und den Klang von Kinderlachen.
Sie setzte sich auf und verschränkte ihre langen Beine, sodass sie im Schneidersitz saß. Grasflecken bedeckten ihre zerwetzte, ausgewaschene Lieblingsjeans. Das interessierte Thalia aber Recht wenig, ihre Gedanken kreisten nur um den immer wiederkehrenden Traum. Anfangs war sie jedes Mal schweißnass und schweratmend aufgewacht, aber mittlerweile hatte sie sich an diesen Albtraum gewöhnt.
Trotzdem!...heute war etwas anders. Sie ging jeden Schritt nochmal durch. Die Orientierungslosigkeit, der weiße Raum, der Gang, das Mädchen, die Worte. Alles gleich...und doch hatte sich etwas verändert.
Kurz schloss sie die Augen und sah zum Himmel hinauf. Einen letzten Moment genoss sie die angenehme Wärme, das leichte Kribbeln, dass die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut hinterließen und die laue Frühlingsbrise, die ihre Haare zur Seite wehte, bevor sie sich elegant erhob und durch das strahlend-grüne Gras zurück zum Haus stapfte. Knarzend öffnete sich die Tür und gab den Blick auf eine modern eingerichtete Wohnung frei. Die Einrichtung war das genaue Gegenteil vom äußeren Erscheinungsbild, nur die leichte Unordnung, die drinnen herrschte, war wie für das kleine Reihenhaus gemacht. Thalia betrat den schmalen Flur. Sie ging vorbei an einer Kommode, einer Wendeltreppe, die nach oben in den 2.Stock führte, und einigen fröhlichen Familienfotos, welche schief an der Wand hangen. Zögernd blieb sie stehen. Eisblaue Augen starrten ihr entgegen. Es war ein 17-jähriges Mädchen etwa 1,73 cm groß nicht dünn aber auch nicht dick, schwarze, gewellte Haare hingen ihr bis etwas zu ihren Schultern. Sommersprossen auf der leicht gebräunten Haut umspielten ihre kleine Kartoffelnase . Ein weißes T-Shirt legte sich um ihren Oberkörper, eine schwarze Jeansjacke war locker um ihre Hüfte gebunden. Ein rotes Bandana, das um ihren Kopf geknotet war, hinderte ihre Haare daran ihr ins ovale Gesicht zu fallen. Sie legte ihren Kopf schief und ihre nicht allzu dicken Lippen formten sich zu einem kleinen Grinsen. Wortlos lächelte Thalia ihrem Spiegelbild entgegen.
Auch wenn sie Ähnlichkeit mit dem Mädchen aus ihrem Traum hatte, war sie sicher, dass sie es nicht war. Thalia wandte sich ab.
"Villa Kunterbunt, wie viel Uhr ist es?" 'Villa Kunterbunt' , wie sie es liebevoll nannten, war ihre kleine Bruchbude. Es war Eleinas Idee gewesen, denn sie liebte Pipi Langstrumpf sehr. Einen kurzen Augenblick später ertönte die mechanische Stimme, ihres Home Assistant, aus dem kleinen Lautsprecher an der Decke. " Es ist 14:48 Uhr am Samstag den 8.Mai."
"Oh Fuck!", entglitt es Thalia, die im nächsten Moment instinktiv die Lippen aufeinanderpresste, in der Hoffnung niemand hätte sie gehört.
Vergebens.
"F - Frosch!", rief ihre Mutter und streckte ihren Kopf lachend aus der Küchentür. Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit Thalia. Alles, bis auf die blauen Augen, hatte sie von ihrem Vater geerbt.
"F - Frosch", hörte sie kurz darauf auch ihn von oben brüllen. Ihr kleiner Bruder, Leo, rutschte gerade das Treppengeländer runter und blieb breit grinsend vor Thalia stehen, sodass sie deutlich seine Zahnlücke erkennen konnte.
" F - Frosffs! Daf machft dann drei Euro für dich!" , strahlend streckte er ihr eine Sparbüchse in Form eines Frosches entgegen und pustete einige Haarsträhnen aus seinem Gesicht. "Was macht dein nächster Wackelzahn? ", Thalia wühlte in ihrer Hosentasche und holte eine 2 €- Münze hervor. "Fuber, if bin der erfte mit einer Doppeldfanlücke in der erften Klafse. Er ifst heute raufsgefallen!" Stolz deutete er auf die leere Stelle, an der eigentlich seine zwei oberen Schneidezähne sitzen sollten. " Ich hab nur zwei Euro", flüsterte Thalia, „bleibt das unser Geheimnis?" "Ja", er überlegte kurz und zog eine Augenbraue hoch, "...fenn ich deinen Nachftisss krieg!" Klirrend ließ Thalia die Münze in den Lehmfrosch fallen. " Deal!", sagte sie und wuschelte Leo noch einmal durch die Haare bevor der kleine Wirbelwind hinter der nächsten Tür verschwand.
Ein letzter Blick auf die unscheinbare, winzige Uhr über der Tür verriet ihr dass es bereits 14:51 war.
"Ich muss los!", rief sie und hob im Vorbeigehen ihren Lederrucksack vom Boden auf, der unachtsam in die Ecke geworfen war. " Bis später Schatz. Um sechs gibt's Abendessen.", hörte sie ihre Mutter noch leise rufen, als sie über die Türschwelle wieder zurück nach draußen trat und die Tür sacht hinter sich zuzog.
Sie schwang ihren Rucksack über ihre Schultern und band sich, während sie schnellen Schrittes zu ihrem Fahrrad ging, ihre Haare zu einem Dutt zusammen, wobei einige vordere Strähnen herausfielen. Schnell bückte sie sich und pflückte eine Blume aus dem Gras um sie sich dann gekonnt ins Haar zu stecken.
Sie setzte sich auf den Sattel ihres City Bikes und fuhr los. Kleine Mehrfamilienhäuser sausten an ihr vorbei. Die Sonnenstrahlen tanzten über die roten Dächer und bunten Fassaden. Vereinzelt blitzten graue, triste Hochhäuser auf, doch auch ihnen verlieh die Sonne einen magischen Glanz, indem sie die Scheiben zum Leuchten brachte. Gwen war ein malerisches, ruhiges Dorf. Mit seinen etwa 550000 Einwohnern eher spärlich besetzt. Thalia konnte sich nicht vorstellen in die Großstadt mit circa 20 Millionen Menschen zu ziehen. Die Überbevölkerung war ein großes Problem, doch davon bekamen die Leute in Gwen recht wenig mit.
Die drastische Meeresspiegelsteigung 2020, die Erdölkrise 2023, die gefährliche Weitung des Ozonlochs 2024, sowie unzählige Katastrophen und andere Probleme, gingen zwar nicht spurlos an Gwen vorbei, hinterließen jedoch keine großen, bleibenden Schäden.
Thalia bog nach links ab und steuerte auf eine Gruppe von Bäumen zu. Immer fester trat sie in die Pedale, sie durfte keine Zeit verlieren. Sie schlängelte sich zwischen den Autos hindurch, ließ kurz vor ihrem Ziel die Beine still und konzentrierte sich auf das schöne Gefühl von Freiheit, das der vorbeiziehende Fahrtwind in ihr erzeugte. Sie bremste langsam ab und schwang sich vom Fahrrad, kurz bevor es zum Stillstand kam. Sie schob es einige Meter und drückte einen Knopf am Lenker, bevor sie es gegen ein Verkehrsschild drückte. Sofort schossen zwei Drahtseile aus dem Sattel und wickelten sich um den Metallstab. Thalia ließ von ihrem Fahrrad ab und lief auf ein metallernes Tor zwischen den Bäumen zu. Sie packte die Tür an einem rostigen Gitterstab und schob sie mit einem starken Stoß auf. Knirschend fiel das Tor hinter ihr ins Schloss. Das unangenehme Geräusch jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken und sie biss die Zähne zusammen. Sie blickte nach vorne auf einige verwachsene Gräber. Keiner kümmerte sich mehr um sie. Sie waren zugewuchert und alt. Heutzutage gab es keine Friedhöfe wie diesen. Ein Gesetz sah vor, dass alle Menschen eingeäschert werden müssten und ein Teil der Asche in einem 1cm³ Würfel in einer der riesigen 'Leichenhallen' gelagert wird. Zum Gedenken...natürlich!
Thalia konnte darüber nur lachen. Ihrer Meinung nach brauchte es nur die Erinnerungen an einen Menschen um diesen für immer bei sich zu haben. Und genau deshalb kam sie her, jeden Samstag, denn sie hatte die anderen Erinnerungen verloren.
Sie bahnte sich ihren Weg durch das kniehohe Gestrüpp, rüber zu einem kleinen Grabstein. Hier wuchs kein Unkraut nur einige längere Grashalme bogen sich nach unten und berührten den kalten, grauen Stein, als wollten sie Thalia in ihrer Trauer beistehen. Sie zog die Blume aus ihrem Haar und legte sie in die Mitte. Sie blickte auf und strich mit ihrem Zeigefinger über die eingravierten Buchstaben.
ELEINA DANSON 05.10.2009 - 28.03.2017
10 Jahre war es nun her seit sie Thalia für immer verlassen hatte. Sie waren unzertrennlich gewesen. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als Eleina plötzlich spurlos verschwand und 4 Tage später tot im Fluss aufgefunden worden war. Thalia war erst 7 Jahre alt gewesen und konnte es nicht verarbeiten. Tage, Wochen hatte sie sich vorgestellt, dass Eleina zurückkommen würde. Erst ein Jahr später, als Eleinas Gesicht und ihr Geruch schon fast aus ihrem Gedächtnis verloren waren, hatte Thalia realisiert, dass ihre Schwester fort war. Für immer. Was blieb war ihre Stimme und das Gefühl, das sie hatte wenn sie mit Eleina zusammen war, das Gefühl der Verbundenheit, der Liebe. Fast alle Erlebnisse und ihr Aussehen waren komplett aus ihrem Gehirn gelöscht.
"Eine Reaktion, die das Gehirn aufweisen kann, wenn der Betroffene den Tod eines geliebten Menschen verdrängt!", hatte der Arzt damals gesagt.
Thalia dachte daran. Tränen der Wut stiegen in ihre Augen. Sie hatte Hass auf sich selbst. So gerne würde sie Eleinas Gesicht nur noch einmal sehen. Den Gedanken festhalten, einschließen und nie wieder loslassen. Fotos gab es keine und so war die Aussage ihrer Mutter alles was ihr blieb:
„Sie war dir so ähnlich."
Sie wandte sich ab und blinzelte die Tränen fort.
Sie durfte nicht daran denken. Ihr Leben musste weitergehen. Es war bereits 15 Uhr, wenn sie sich jetzt nicht beeilte würde sie ihn verpassen.
Und sie verpasste ihn nie.
Innerhalb weniger Minuten war sie da. Sie betrat die gepflegte Grünanlage. Ein Park inmitten der Häuser. Früher waren sie oft zum Spielen mit Eleina hergekommen, sind lachend die grasbewachsenen Hügel heruntergerollt, haben das Monster im Teich bezwungen und haben sich wie Tarzan von Ast zu Ast geschwungen. Sie eilte den Weg entlang, vorbei an Müttern die glücklich ihre Kinderwägen vor sich hin schoben und anderen Besuchern, die an diesem schönen Frühlingstag die Natur genießen wollten, bevor sie einen länglichen, asphaltierten Platz betrat. Er wurde gesäumt von kleinen Apfelbäumen und rings herum standen in einiger Entfernung ein paar Parkbänke. In der Mitte stand eine große Bronzestatue, die den Gründer von Gwen zeigte, der mit seinen leeren, glänzenden Augen, die unter den buschigen Augenbrauen hervorlugten, auf das Mädchen herabsah. Thalia blieb stehen und lauschte dem kinderlachen und den Gesängen der Vögel. Hier fühlte sie sich wohl. Fast alle der sechs Holzbänke waren frei und Thalia steuerte auf eine zu. Auf der Bank rechts von ihr saß eine blonde Frau, die in ihr Buch vertieft war. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes ein älteres Ehepaar.
Noch war niemand auf dem Platz, zumindest niemand den Thalia erwartete. Sie machte es sich im Schneidersitz bequem und legte ihren Lederrucksack neben sich ab. Sie öffnete eine der Schnallen und zog ein kleines Notizbuch und einen Bleistift hervor. Thalia öffnete das mit goldenen Ranken verzierte Buch. Langsam ließ sie die Seiten durch ihre Finger gleiten und sog den angenehmen Duft, des Papieres auf. Zwischen den Seiten erkannte sie ihre akkuraten Bleistiftzeichnungen von kleinen, mechanischen Vögeln, Mäusen und anderen Kleintieren. Sie blieb auf einer der hinteren Seiten stehen und strich mit dem Daumen über das raue, gelbliche Papier. Thalia betrachtete den Kolibri, der hier abgebildet war. Kleine Ranken verteilten sich über seine Flügel und deutlich konnte man die einzelnen Metallteile erkennen, die sorgfältig zusammengesetzt worden waren. In schneller, schlampiger Schrift waren ein paar Notizen um das Kunstwerk verteilt. Thalia ließ die Seiten weiter durch ihre Hand fallen, bis sie an einem leeren Blatt angekommen war und ihren Stift bereithielt.
Sie blickte auf und sah auf die Statue. Seit etwa einem halben Jahr hatte Thalia angefangen dieses Buch zu führen, aber sie beobachtete den Mann schon viel Länger. Kurz nach Eleinas Tod hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen. Hier im Park an der Statue. Er hatte sie sofort verzaubert und fasziniert, seitdem war er jeden Samstag hier, um 15 Uhr. Und mit ihm auch Thalia. Er war ihr Anhaltspunkt in dieser schweren Zeit gewesen. Es war wie ein Bann, dem Thalia nicht entweichen konnte. Es fesselte sie und machte sie neugierig. Sie wollte mehr erfahren, denn dieser Mann machte ihr klar, dass es so viel mehr gab als ihren kleinen Horizont.
Thalia wurde ungeduldig, es war bereits nach drei und er war immer noch nicht da. Nervös schlug sie mit der Bleistiftspitze gegen das Notizbuch und hinterließ kleine, graue Punkte auf dem Papier.
Dann tat sich etwas. Jemand trat hinter der Statue hervor. Die blonde Frau schlug ihr Buch zu. Thalia hielt die Luft an, ihre Pupillen weiteten sich. Er war endlich da.
Der Mann der Thalia die Realität vergessen ließ.
Der Mann der Thalia seit 10 Jahren nicht mehr losließ und ihr zeigte, dass alles möglich war.
Der Mann der Maschinen das Leben verlieh...
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