Kapitel 29
Bald erreichten sie die Hauptstraße. In der Entfernung leuchteten die glimmenden Lampen im orangenen Licht, das sie sich in Sicherheit wiegen ließ. Atemlos, verschwitzt und fertig mit der Welt rutschten sie an den steinigen Wänden zu Boden und blieben so einen Moment. Beruhigten ihre Brust, die sich hastig senkte und hob. Dann begann Liam voller Erleichterung zu lachen. Die Glücksgefühle, der unerwarteten Situation entronnen und nicht vom menschlich gewordenen Wahnsinn verfolgt worden zu sein, durchströmte seinen Körper.
„Dieses Mal warst du es, der mich gerettet hat. Aber Lex, wenn du das das nächste Mal machst, dann schreie nicht wie so ein Ochse!", scherzte er und drückte Lex Hand. Er schaute ihm voller Liebe in die Augen und begann zu schmunzeln.
„Geht es dir gut? Bist du verletzt? Liam, lass mich schauen!", forderte Lex und betrachtete Liams Verletzungen. Seine eigenen Verletzungen schienen ihm plötzlich gar nicht so wichtig.
Oberflächlich begannen blaue Flecken an den Würgestellen an Liams Hals bunte Farben anzunehmen. Und auch sein Rücken wies dunkelblaue Blessuren auf. Behutsam strich Lex über die Verletzungen, sodass Liam ein schmerzhaftes Stöhnen entwich.
„Ich habe noch ein wenig Schmirkwurzel bei mir", sagte Lex. Er wühlte einen Moment in seinen Taschen der Fetzenjacke und begann sogleich die grüne schmierige Masse zu verteilen.
„Ich habe doch nicht geschrien, oder?", fragte er währenddessen.
„Und wie!", machte sich Liam lustig.
„Was ist den so schlimm daran?"
„Damit verrätst du jedem Angreifer, dass du ihn gleich überwältigen willst. Dann ist dein Überraschungsmoment dahin!", setzte Liam nach und wischte sich eine Träne, die sich beim Lachen gebildet hatte, aus seinen Augen.
„Ich wollte doch nur, sichergehen, dass er von dir ablässt!"
Lex' Worte, die voller Ehrlichkeit gesprochen waren, ließen Liams Lachen verstummen. Dieser wandte sich um – trotz des Protestes von Lex, dass er noch nicht fertig sei – und drückte Lex' Kopf zwischen seine Hände.
„Danke!", sagte er. Dann gab er sich dem Verlangen hin, Lex' Mund auf seinem zu wissen. Ein Gefühl von Wärme durchfloss seinen Körper, ließ sein Herz vor Aufregung schneller schlagen, etwas Verbotenes zu tun.
Wenn sich die Dämonen so gut anfühlten, dann bereute er keine einzige Sekunde sich dieser dunklen Seite hinzugeben, denn alles, was das lichtbringende Wesen ihm brachte, war Trauer, Schmerz und Armut.
„Ich denke, wir sollten es nicht in der Stadt tun", sagte Liam. Die Furcht der Konsequenzen wuchs immer dann zu neuen Höhen an, wenn sein Verlangen kurzzeitig gestillt worden war. „Danke", flüsterte er zu Lex. Strich zärtlich über seine Wangen.
Lex' Haltung zeigte, dass er von dem Vorschlag nicht angetan war, dennoch wusste er auch, dass Liam die Wahrheit sprach. Hier in dieser finsteren Gasse, die nur vom Wahnsinn und der Verschwendung an Leben heimgesucht wurde, würden sie wohl kaum gestört werden. Dennoch durften sie keineswegs unachtsam bleiben.
„Danke, Liam!", sprach Lex.
„Wofür?"
„Für alles. Dafür, dass du da bist, dass du mich nicht für die Krankheit meiner Mutter ausgrenzt, dass du mir aus brenzligen Situationen heraushilfst. Dafür, dass ich auf dich zählen kann. Und dafür, dass du mein Licht in dieser Schwärze bist", sagte Lex.
Liams Kopf wurde rot. Die Flutwelle an Dankbarkeit traf ihn vollkommen unvorbereitet. Doch all diese Dinge, die Lex ansprach, waren für ihn Selbstverständlichkeit. Eine Stille legte sich über die beiden. Sie genossen die Zweisamkeit.
„Was war das, eben in der Gasse?", fragte Lex schließlich.
„Ich weiß es nicht! Sie haben etwas geraucht und danach ihre Menschlichkeit verloren. So etwas habe ich noch nie gesehen", entgegnete Liam.
„Ihre Augen, dieses Blau. Es war so rein. So perfekt. So..."
„Widerwärtig?", beendete Liam seine Ausführung und Lex nickte.
Die Stadt wirkte spät genauso leer wie die Bierfässer in den Schenken - ausgetrunken bis auf den letzten Tropfen. Deshalb kehrten die Menschen, die Wohnungen besaßen, zurück nach Hause und warfen sich in wärmende Decken, nur um am nächsten Tage verkatert ihren Gewerben nachzugehen und sich erneut abends in die Brauereien zu begeben. Hier und da sparten sie sich einen oder zwei Grillinge, um die Kollekten in den Freiheitshäusern zu befüllen. Doch ihre Tage waren getaktet und anstrengend, genau geplant und überwacht von den Hohen im Palazzo. Nun streiften nur noch Nachtwächter durch die Gassen, im Versuch, Diebe und Obdachlose im Gläubigenviertel zu fassen.
„Du solltest gehen. Deine Mutter wartet sicher schon auf dich!", sagte Liam.
„Verdammt! Du hast recht. Wie konnte ich das vergessen." Lex sprang auf. Plötzlich wurde er vom Knarren einer Kutsche unterbrochen.
„So können wir das Zeug noch nicht loswerden!", hörte er eine wehleidige und genervte Stimme aus dem samtverkleideten Innenraum des fahrenden Palastes hervordringen.
Der Kutscher war gekleidet in tiefem Schwarz. Er trug eine Rabenmaske mit einem personifizierten Lächeln, das weiße spitze Zähen preisgab. So wie die tiefroten Handschuhe, die jedem Fragenden die Verbindung zur Roten Hand erleuchten würde. Er saß vorne auf der filigran verzierten Kutsche, hielt die Zügel der geschmückten Pferde in der Hand und beantworte die Fragen des Gläubigen in wenigen kurzen Worten, immer dann, wenn er aufgefordert wurde. Trotz der Dunkelheit erleuchte der hellrote Vorhang einen kleinen Radius um das Fuhrwerk herum. Ein kontrastreiches Bild, das das goldverzierte Fuhrwerk in dem Stadtteil aus Schutt, Dreck und Fäkalien abgab.
Lex und Liam betrachteten erstaunt das Schauspiel. Diese Herrlichkeit vor ihren Augen, eine absolute Unmöglichkeit ein solch wertvolles Objekt im Elendsviertel anzufinden.
Denn eigentlich würden die Gläubigen nicht einmal zur durchreise auch nur in dieses Dreckloch herreinhauchen. Und jetzt fuhr vor ihnen eine Kutsche, die eben jenen Wesensgleichen beherbergte.
„Halt!", befahl die Stimme aus dem Innenraum, die bis eben noch voller Langeweile und Melancholie klang, schien nun vor Aufregung zu sprudeln.
Ohne Widerrede hielt der Wagen. Die massive vergoldete Tür öffnete sich. Die Scharniere quälten sich unter dem Gewicht der funkelnden Steine. Die Pferde waren froh über die spontane Pause. Ein Mann stieg heraus. Kaum schaffte er es dabei, nicht auf seinen eigenen teuren Seidenumhang zu treten, denn der azur- und purpurverzierte Mantel reichte ihm bis zu den schwarzen Lederschuhen, die sich über seine weiß-goldene Leinenhose zogen. In seiner Hand hielt er ein Zepter, geschnitzt aus teurem Holz und verziert mit Gold und Rubinen. Für einen kurzen Moment gewährte es Lex einen Einblick in das samtige Innere der Kutsche. Dann wurde die Tür geschlossen.
„Ich kenne dich! Ich habe dich gesehen. Im Palazzo. In der Nähe der Bücherei. Was treibt dich in dieses abscheulich-groteske Viertel?", sprach der wohlgenährte Mann mit lieblicher Stimme und starrte auf Liam.
„Unmöglich, mich hat keiner gesehen", flüsterte dieser so leise, dass es nur Lex verstand.
Fussel begann erneut zu knurren. Doch die majestätische Erscheinung, wie vom Wesen selbst gesegnet, ließ selbst den Welpen verstummen. Ängstlich zog sich der Kleine zurück hinter Lex' Beine, zog seine Rute ein und winselte.
„Komm, wir gehen weg von diesem widerwärtigen Ort. Ich nehme dich mit", sagte der Gläubige und streckte symbolisch seine Hand aus.
„Ich weiß nicht, was wir tun sollen", flüstere Liam.
„Ich auch nicht!", sagte Lex.
„Was ist? Willst du wirklich einem Gläubigen widersprechen? Probiere gar nicht erst wegzulaufen."
Der Kutscher richtete einen Faustling auf Lex. Das Rohr, gefüllt mit Schwarzpulver, und die eiserne Patrone, die im müden Schatten der Waffe glänzte – darauf wartend mit explosiver Geschwindigkeit den Lauf zu verlassen, die Luft zu durchdringen und die Schädeldecke seines Ziels zu durchbohren. Schon war nicht mehr unterscheidbar, ob die Röte des Handschuh gefärbter Stoff oder das Blut unschuldiger Menschen darstellte. Lex' Knie begannen zu schlottern. Er wollte sich die unvorstellbare Zahl an Leben, den diese Waffe bereits ausradiert hatte, nicht ausmalen. Doch der Gläubige ließ vom Befehl des Schusses ab. Er wusste, dass er sämtliche Widerrede im Keim erstickt hatte. Nochmal würde er sich nicht wiederholen.
„Du kannst nicht...", murmelte Lex den Tränen nah vor sich her, wohlwissend, dass er nicht derjenige sein würde, der die Entscheidung träfe.
„...Ich weiß", sagte Laim. Lex' Widerrede ignorierte er und ging auf die Kutsche zu. Liam's Versuch, ein letztes Mal mit gezwungenem Lächeln zurückzublicken, schaffte nicht den Effekt den er sich für erhoffte Lex.
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