Kapitel 11
Der Tag verstrich in den Nachmittag. Die Bilder des Morgens blieben ihm bis zum jetzigen Moment im Kopf - die Schläge, die Schreie, das dumpfe Klopfen der Prügel. Man konnte meinen, dass die gequälten Stimmen wirklich besessen von Dämonen waren. Anders konnte er sich die unwirklichen unmenschlichen Hilferufe nicht erklären, die aus den Kehlen der Geschlagenen drangen.
Das Elendsviertel strahlte wie immer eine bedrückende Stimmung aus. Die Menschen strömten zurück in ihre Häuser und Gassen, wie ein endloser Strom in die triste graue Stadt. Die Dämonenbefreiten waren angehalten, die nicht mehr unter den Lebenden Verweilenden aufzuräumen. Ein undankbarer Job, da es meist ganze Familien waren, von denen der Geiz-Dämon Besitz ergriff. Ein Kind weinte neben dem reglosen Körper ihrer Mutter. Anscheinend hatte sie ihr letztes Geld dafür gegeben, dass wenigstens der Kleinen die Pein der Teppichklopfer erspart blieb. Lex zerbrach das Herz. Er wusste, dass dieses kleine Kind bald ähnlich wie Liam auf der rauen kalten Straße ganz alleine landen würde. Mit gebundenen Händen blieb ihm nichts weiter übrig, als die Situation und die Schreie auf sich wirken zu lassen, nie zu vergessen.
Die Straße nach unten gab es einen Bäcker. Sein Brot war nicht das Beste, allerdings genießbar. Er erfreute sich hoher Beliebtheit, vor allen weil er seine Essensreste, hartes, getrocknetes oder schimmliges unverkauftes Brot in Container warf, an denen sich jeder bedienen durfte. Hier gab es die Regel, wer zu erst kommt, malt zuerst. Zu Lex' Unglück waren selbst die Krümel aus dem Container von anderen geplündert worden. Und weiter oben gab es einen Gemischtwarenhändler, der es nicht so ernst nahm, wenn hungrige kleine Kinder die ein oder andere Möhre stahlen.
Die neue stinkende Luft, des alten verfallenden Stadtteils stieg ihm in die Nase. Er beobachtete das Treiben. Menschen tuschelten. Eine ängstliche Atmosphäre umhüllte sie wie ein Schleier, dessen Ursprung er sich zu diesem Moment noch nicht erklären konnte. Seine Neugier drängte ihn dazu nachzufragen, doch seine Vernunft hielt ihn zurück. Nicht auffallen, war die Devise nicht zu sterben. Eine Regel, die nur die Lebenden kannten und beherrschten. Die dunklen Wolken des vergangenen Gewitters schwebten immer noch über den Dächern und lagen tief über der Stadt. Unbeweglich verschlangen sie die Sonnenstrahlen und so wickelte eine erdrückende Dunkelheit die Stadt ein.
Sein Ziel war es Liams Schlafplatz aufzusuchen, denn dort hatten sie sich nach der Predigt verabredet. Zu voll und unwahrscheinlich war es sich in den überlaufenden Ausgängen wiederzufinden. Die Straße bestand aus Märkten aller Art, hier ein Krämer, dort ein Schneider, weiter die Straße entlang ein Schuster und zwischen ihnen kleine private Lädchen, die alle versuchten ihre handgemachten Bestände an den Mann zu bringen. Demnach wunderte sich niemand, dass des Nachts die ein oder andere Patrouille die Straße entlang ging. Entsprechend boten die Seitengassen einen wohlbekannten sicheren Ort zum schlafen. Und auch Liams Platz war nicht allzu weit weg.
Lex schlenderte durch die beengenden Straßen im Elendsviertel. Die Augen und Blicke, die man ihm – einem Fremden - entgegenwarf, sprachen Bände. Leute zeigten auf ihn, tuschelten. Wenig wusste er, wie die vergangene Nacht verlaufen war.
„Du? Was hast du hier verloren! Verschwinde", hörte er einen muskelbepackten Mann sagen, der auf ihn zuging.
Lex zögerte, etwas, was der Mann scheinbar als Fehlverhalten einstufte. Er griff ihn am Kragen und hob ihn wie eine Feder in die Luft.
„Verschwinde!", brüllte er bedrohlich. Kleine Spuckeblasen trafen ihn im Gesicht.
Lex versuchte sich zu befreien.
„Was soll das hier? Lass ihn runter. Er gehört zu mir", hörte Lex zu seiner Erleichterung Liams Stimme hinter sich.
Der Muskelprotz wand sich um.
„Liam?", eine Mischung aus Erleichterung und Verwunderung schwangen ihm bei. Er starrte so geistesabwesend auf den Jungen, dass er ganz vergaß, Lex wider auf den Boden abzusetzen.
„Lass ihn runter."
„Ich dachte, du wärst tot", stellte der Mann klar.
„Warum sollte ich? Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich eine Nacht nicht da war, musst du mich nicht gleich für tot erklären."
„Du weißt nichts davon?"
„Wovon?"
„Geh zu deinem Schlafplatz, Junge. Du wirst verstehen, warum gerade alle so angespannt sind", sagte der Hühne.
Kaum näherten sie sich dem Ort, schossen Gerüche in ihre Nasen, dessen Widerwertigkeit kaum beschreibbar war. Das Parfüm der Verwesung gemischt mit Fäulnis und Blut war so stark, das Lex nur noch durch den Mund atmen konnte. Selbst dabei bildete sich ein Geschmack, der nicht nur ihn, sondern auch Liam würgen ließ. Die Abscheulichkeit des Überbleibsels der einst lebenden Person um die Ecke könnte genauso ein großer Hund gewesen sein. Unterschiede konnten sie zumindest nicht mehr ausmachen. Maden labten sich bereits am blut- und regendurchweichten Leichnam. Das gesamte Gesicht zerfetzt, wie eine Scheibe in tausende Splitter gesprungen und irgendetwas schien sich aus der Person herausgefressen zu haben. Dabei den Bauch in seinem ganzen nach außen gestülpt, sodass Magen, Leber, Darm und Milz verteilt um ihn herum lagen.
„Entschuldige, ich wollte deinem Freund keine Angst machen. Aber verstehst du, warum wir gerade so versessen darauf sind, Fremde wegzuhalten? Wobei ich ehrlich bin ich kann mir kaum vorstellen, dass dies durch einen Menschen geschehen ist."
Doch weder Lex noch Liam verarbeiteten den furchtbaren Anblick schnell genug, als dass sie auf diese Aussage reagieren könnten.
„Lex, das hätte ich sein können!", stammelte Liam vor sich her.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro