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Verlust

Gegenwart

Ein Mädchen, höchstens neun Jahre alt, sass unter einer Brücke und schaute in die Ferne. Müde lehnte sie an der farblosen Wand. Es war ihr Geburtstag und sie summte leise und schwach Happy Birthday vor sich hin. Vor ihren Augen flog ein einsamer Schmetterling vorbei. Ein bunter Fleck in einer zerstörten Welt. Sie versuchte ihren Arm zu heben um ihn zu berühren, war jedoch zu schwach.

„Amelia", hörte sie leise neben sich und drehte ihren Kopf. Ein Mädchen, dessen kaputte Haare fest zusammengebunden waren, kniete neben ihr. Das Mädchen strich Amelia eine gelockte Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter Amelias linkes Ohr. „Ich habe dir etwas ganz tolles mitgebracht." Amelia versuchte zu lächeln, aber vergebens. Sie sah ihre grosse Schwester gebannt an, ohne die kleinste Reaktion in ihrem Gesicht. Sie war zu müde, zu erschöpft.

„Schau, ich habe etwas Schokolade gefunden", ihre Schwester hielt ihr ein Stück Schokolade an den Mund, doch sie war zu schwach um es selbst zu halten. Sie starrte das Schokoladenstück an. Es war Amelias Lieblingsschokolade, die mit den Schokolinsen drin.

„Alles wird wieder gut", versicherte ihre grosse Schwester ihr, doch Amelia wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Sie war einfach zu schwach für diese Welt. Amelia schloss langsam die Augen. Sie wollte zu ihren Eltern. Sie wollte nicht mehr in dieser trostlosen Welt leben. Amelia versuchte mit letzter Kraft noch ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern.

„Amelia! Nicht schlafen! Amelia! Bleib bei mir!", schrie ihre grosse Schwester traurig. „Nein. Nein. Nein!", sie schüttelte verzweifelt den leblosen Körper ihrer kleinen Schwester. Sie schüttelte Amelia, doch sie wollte nicht mehr aufwachen.

Noch ein Toter, in einer Geisterstadt.

In einer Stadt um die sich niemand kümmerte.

In einer Stadt in der man jeden Tag erneut ums Überleben kämpfen musste.

In einer Stadt in der nur die Stärksten überlebten.

Sie brachte es nicht über ihr Herz Amelia wie einfach hier liegen zu lassen. Sie wusste genau wie riskant es war und doch tat sie es. Sie kletterte über die Trümmer der ehemaligen, schön bemalten Häuser und verletzte sich an den zerbrochenen Fensterscheiben. Doch nichts war mehr wichtig, ausser ihre kleine Schwester die sie nun in ihren Armen trug. Sie brachte Amelia so behutsam wie nur möglich auf die Wiese, auf der sie früher immer gespielt hatten.

Sie legte Amelia auf die Wiese nieder, wo die Schaukeln von früher bereits ihrem Rost erlegen waren. Wie oft sie mit Amelia hier gespielt und gelacht hatte. Langsam kullerten die ersten Tränen über ihre Wangen. Sie gab ihrer kleinen Schwester einen liebevollen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich. Sie wollte nicht schon wieder Abschied nehmen, doch Amelia war Tod. Tod wie alle anderen die sie liebte.

Das Mädchen küsste Amelia ein letztes Mal und stand auf. „Keinen Schritt weiter!", flüsterte ein Junge bestimmt in ihr Ohr und hielt ihr eine Pistole in den Rücken. „Was hast du mit dem Mädchen gemacht?", fragte er fordernd und presste die Pistole noch etwas stärker an den Rücken des Mädchens. „Sie heisst Amelia und sie ist meine kleine Schwester", antwortete das Mädchen mit erhobenen Händen. „Sie ist tot", stellte der Junge kalt fest. Er bewegte Amelias Arm vorsichtig mit seinem Fuss um seine Vermutung zu überprüfen. Ehe er sich versah, hatte sich das Mädchen umgedreht und ihm die Pistole aus der Hand geschlagen. Sie hob sie im selben Atemzug auf und richtete sie auf ihn.

„Lass meine Schwester in Ruhe!" Mit eisigem Blick musterte sie den Jungen und drängte sich zwischen ihn und Amelias leblosen Körper. „Wer bist du?", fragte sie schroff und stiess sich leicht an einem Metallstück, welches neben ihr lag. „Zuerst sagst du mir, warum du eine Leiche mit dir rumgetragen hast!", forderte der Junge. „Ich habe meine kleine Schwester nicht umgebracht, falls du das meinst", antwortete das Mädchen entrüstet. „Jetzt sag mir wer du bist!" „Luc", antwortete der Junge kurz angebunden. „Im Gegenzug erwarte ich jetzt aber auch deinen Namen!" „Ich heisse Jordan und ich stelle hier die Forderungen! Wehe dir du rührst auch nur einen Finger!" „Wieso hast du deine Schwester hierher gebracht? Weisst du nicht wie gefährlich das ist?" Luc klang selbstsicher und man sah kein Anzeichen von Angst in seinen Augen.

„Bist du alleine?", fragte Jordan weiter und ignorierte seine Frage. „Warum sollte ich dir antworten, wenn ich von dir auch keine Antworten bekomme?" Zur Antwort bewegte Jordan die Waffe leicht nach oben. Luc sah ein, dass es gerade keinen Sinn machte mit Jordan zu diskutieren, er musste mitspielen. „Ja und das seit mein kleiner Bruder gestorben ist. Ich weiss wie du dich gerade fühlst." Er wollte näher an Jordan herantreten, doch sie schoss ihm knapp neben seinen linken Fuss. „Ich sagte keine Bewegung!"

Er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. „Bitte! Lass uns reden!" Doch Jordans eisiger Blick verriet ihm, dass sie nicht zum Reden bereit war. „Wir stecken hier doch alle zusammen fest, es bringt nichts sich gegenseitig umzubringen", Luc redete jedoch nur um Jordan abzulenken und so unbemerkt sein Messer zu ziehen.

„Messer her!", befahl Jordan. Luc war beeindruckt von ihrer Beobachtungsgabe. Als er ihr nicht gehorchte schoss sie haarscharf neben Luc vorbei. Der Schuss streifte sein rechtes Ohr. Er liess sich den Schmerz, welcher ihn durchzuckte, nicht anmerken. Selbst als er das Blut auf seine Hand tropfte verzog er keine Miene. Er war sehr geübt darin, seinen Schmerz zu unterdrücken und vor seinem Feind zu verbergen. „Messer her!", befahl Jordan nachdrücklicher und nach kurzem Zögern gehorchte Luc widerwillig. Er konnte es nicht riskieren noch stärker verletzt zu werden.

Jordan nahm das Messer auf, ohne auch nur eine Sekunde ihren Blick von Luc abzuwenden. Es war ein Klappmesser, obwohl die Klinge vorne ein bisschen abgebrochen und sehr benutzt aussah, war es immer noch sehr nützlich. „Nimm bitte die Waffe runter, ich tue dir nichts", sagte Luc vorsichtig. Jordan dachte nicht einmal daran die Waffe zu senken. In dieser Welt konnte man nichts und niemandem mehr trauen!

Dieses Projekt hatte die Menschlichkeit schon lange ermordet. Es hatte die ganze Stadt verrückt gemacht! Ganz langsam, jeden Tag ein kleines Stück. Es hatte so viele Leben zerstört die es hätte retten sollen. Jordan und Luc wussten es, alle Leute hier wussten es, oder jedenfalls jene die noch lebten. Die anderen waren einfach zu schwach. Man durfte keine Gnade oder Schwäche zeigen. Man konnte hier nur überleben, wenn man eiskalt war.

Sie wussten auch, dass sie es niemals lebend aus dieser Stadt schaffen. Alle wussten, dass sie früher oder später sterben werden. Sie versuchten bloss diesen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie versuchten bloss von Tag zu Tag zu überleben und dies so lange wie möglich.

Jordan musterte Lucs Klappmesser sorgfältig. In der einen Sekunde, wo Jordan sich nicht auf ihn achtete schlug Luc ihr mit einem gezielten Tritt den Boden unter den Füssen weg. Jordan verlor das Gleichgewicht, liess die Pistole los und fiel auf den Arm ihrer Schwester. Luc war bereits wieder aufgerichtet als sie realisierte, was passiert war.

Blitzschnell hob er seine Pistole auf und richtete sie auf Jordan. „Du bist schnell", stellte Jordan fest. „Aber nicht sehr weitsichtig." Mit diesen Worten schleuderte sie ihm das Messer, welches sie immer noch fest in ihrer Hand hielt, entgegen. Es streifte die Innenseite von Lucs Schienbein. Wegen des unerwarteten Schmerzimpulses knickte Lucs Bein kurz ein und Jordan konnte die Flucht ergreifen. In Gedanken versprach sie zu Amelia zurückzukehren.

Jordan rannte so schnell sie konnte die ihr so bekannte Strasse hinunter. Es war die Strasse in der sie früher gewohnt hatten. Amelia hatte immer den ganzen Asphalt mit Kreide zugepflastert. Leise flossen ihr die Tränen über die Wangen und sie begann zu schluchzen. Alles war früher so schön gewesen! Die Stadt war einst ein grüner Fleck in all den anderen Verbauten gebieten. Sie war abgeschieden und naturbelassen. Überall waren Wiesen, Bäume und Wälder. Waren. Heute ist sie grau. Grau und trostlos. Keine schönen Wiesen. Keine bunten Blumen. Keine lachenden Kinder. Keine prachtvollen Wälder. Gar nichts.

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