013 | Louis
Louis' P.o.V
Endlich hatte ich Feierabend und lief nochmal Richtung Krankenstation um nach Harry zu schauen. Kurz nachdem Liam von dem Gespräch der Krankenschwester zurückkehrte und die Akte holte, hatte Harry einen Albtraum.
Oder zumindest glaubte ich, dass es ein Albtraum war. Es war auf jeden Fall ziemlich schrecklich mitanzusehen.
Da er sich kurzerhand gar nicht beruhigt hatte, machte ich es so, wie ich es bei meinen Schwestern immer tat. Ich setzte mich hinter Harry und drückte ihn so gut es ging an meine Brust und hielt ihn fest umschlungen. Bei meinen Schwestern ging es deutlich einfacher, aus dem simplen Grund, dass sie kleiner waren als ich.
Langsam hatte ich kleine Kreise mit meinen Fingern über seinen Oberköper gezogen. Mit zunehmender Zeit entspannte sich Harrys Körper unter meinen Berührungen, weswegen ich schleunigst aufstand und noch für ein paar Sekunden beobachtete wie er ruhig da lag.
Mir gefiel es nicht, dennoch hatte ich ihn wieder mit den Manschetten fixiert. Als ich darüber nachdachte fiel mir ein, dass es vielleicht gerade auch gar nicht mal so schlecht war. Wenn er schließlich wieder einen Alptraum hätte, wäre er wenigstens vor sich selbst geschützt.
Als ich nun an der Krankenstation ankam, ging ich direkt auf das kleine Zimmer zu in dem Harry lag. Bevor ich jedoch durch die Tür trat, blieb ich stehen und atmete noch einmal durch. Nachher würde ich mich in Ruhe hinsetzten und die Fotos von Harrys Akte studieren.
Ich war was das anging ein wenig nervös. Endlich hatte ich Antworten auf meine Fragen.
Doch wollte ich es wirklich wissen?
Plötzlich vernahm ich ein schmerzerfüllten Schrei, welcher mich aus meinen Gedanken riss. Schnell schlüpfte ich durch die Tür und blicke zu Harry. Seine Locken klebten an seiner verschwitzen Stirn. Besorgt näherte ich mich ihm und legte meine Jeansjacke auf einen Stuhl ab.
"Hilf mir, bitte." Harrys Stimme war leise. Doch ich konnte ihn ohne Porbleme verstehen. Die Tonlage seiner Stimme bereitete mir Gänsehaut und ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter.
Er klang so unglaublich gebrochen.
Mein Herz schmerze bei dem Anblick. Er sah für den Moment so verloren aus. So sollte nie ein Mensch schauen. Doch ich kannte dieses Blick.
Die Leere in den Augen.
Die Trauer die sich in den Toren der Seele widerspiegelten.
Auch ich hatte eine schlimme Zeit zu meinen Jugenzeiten. Doch ich hatte eine Familie. Wir alle hielten aneinander fest als unsere Mutter und später auch meine kleine Charlotte verstarb.
Harry hatte diese Familie nicht. Er war ganz allein. Zumindest nahm ich das an. Als ich mich erkundigt hatte, wurde mir mitgeteilt, dass Harry nicht ein einziges Mal Besuch erwartete. Ich wusste natürlich auch nicht, was er bisher alles durchmachen musste. Doch das war etwas, was ich ändern wollte.
Ich strich Harry seine Locken aus der Stirn und schaute zu ihm hinunter. "Es ist alles gut, ich in da."
Harry schloß kurz seine Augen und atmete zittrig ein. Als er sie wieder öffnete, konnte ich seinen Blick nicht deuten.
"Hattest du wieder einen Albtraum?" Ich fragte direkt ohne irgendwelche Ansalten zu machen. Es würde in so einer Situation auch nichts bringen. Bei so etwas musste man direkt sein.
Der Häftling vor mir schüttelte jedoch leicht den Kopf und biss auf seine Lippe, als müsste er über die folgenden Worte nachdenken.
"Ich will nur nicht mit ihnen alleine sein."
"Harry? Mit wem alleine sein?", fragte ich verwirrt und schaute mich im Raum um. Wir waren schließlich alleine hier. Oder war zuvor noch jemand im Raum? Anscheinend sah man mir die Verwirrtheit direkt an, denn Harry sprach weiter.
"Meine Dämonen. Ich will sie nicht mehr. Ich kann das nicht mehr."
Ich atmete tief durch und platzierte meine Hand vorsichtig auf Harrys Unterarm und streichelte mit meinen Fingerkuppen langsam auf und ab.
"Du bist nicht alleine, versprochen. Ich werde dir helfen. Egal was es ist." Hätte ich schon vorher gewusst, was alles in Harrys Leben passiert war, hätte ich diese Entscheidung vielleicht nicht so leichtfertig getroffen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es schon spät war und ich dringend nach Hause musste. Schließlich war ich hier immer noch angestellt und Harry ein Insasse. Ein bisschen musste diese Verhältnis schließlich bestehen bleiben. Oder war es dafür schon zu spät?
"Ich bin morgen wieder da. Ich habe jetzt Feierabend." In Harrys Blick konnte ich erkennen, dass er jetzt nicht alleine sein wollte. Nur konnte ich es jetzt nicht verhindern.
"Du musst dich auch ausruhen. Deine Wunden sind noch nicht gut verheilt."
Ich verabschiedete mich noch einmal kurz und macht mich dann auf den Weg nach Hause.
Dort angekommen schälte ich mich aus meinen Klamotten und zog mir eine Jogginghose und ein lockeres Shirt an. Nach dem ich mir eine Pizza gemacht hatte, setzte ich mich mit dieser und einem Glas Rotwein, was ich bestimmt gut gebrauchen würde, auf das Sofa.
Ich entsperrte mein Handy und öffnete die Galerie. Mit der anderen Hand schnappte ich mir ein Stück der Pizza und biss beherzt rein.
Sollte ich von Anfang an lesen oder direkt schauen, warum Harry im Gefängnis war?
Schließlich war die lebenslange Haftstrafe nicht gerade etwas, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Vor allem nicht, wenn einem dieses Urteil mit gerade einmal 19 Jahren verhängt worden war.
Hin und her gerissen sperrte ich das Handy wieder und legte es wieder hin. Nur um es anschließend wieder aufzunehmen und es zu wiederholen. Ich schaltete das Handy ein und kurz darauf legte ich neben mich.
Mir war schon etwas mulmig.
Eigentlich war es nicht richtig. Doch ich wollte ihm helfen. Ich konnte einfach nicht anders.
Vor allem, weil er mir nicht wie jemand erschien, welcher Kinder umbringen könnte.
Als ich ihn das erste Mal im Speisesaal gesehen hatte, sah er aus wie ein wirklich harter Kerl. Doch durch den Angriff, den Krankenhausaufenthalt und jetzt das auf der Krankenstation sah er aus wie ein gebrochener junger Mann, welcher fast aufgegeben hatte. Das es einem einzelnen Menschen überhaupt so ergehen musste bereitete mir Bauchschmerzen.
Entschlossen griff ich nach meinem Handy tippte auf das erste Bild.
Ich griff neben mich zum Weinglas und nahm einen großzügigen Schluck des Rotweins und betrachtete das Bild, welches den Inhaftierungsgrund beschrieb.
Als erstes wurden kleinere Delikte aufgezählt wie Ladendiebstahl. Doch was dann folgte drehte mir den Magen um. Körperverletzung, Vergewaltigung und auch Kindesmord. Ich setzte mich aufrecht hin und strich mir einmal über die Augen. Als nächster Punkt wurden die Opfer aufgelistet. Tief atmete ich aus, genehmigte mir einen weiteren Schluck der roten, leicht süßen Flüssigkeit, und blickte auf die Namen.
Am liebsten hätte ich den Wein ausgespuckt, inklusive der Pizza.
Der Vor und Nachname meiner kleinen Schwester brannte sich in mein Gehirn. Ich blinzelte, zoomte das Bild heran und las es erneut.
Charlotte Tomlinson, 10 Jahre
Mir wurde nicht nur plötzlich unglaublich schlecht, sondern auch schummrig.
Ich fühlte nichts mehr.
Rein gar nichts.
Mein Kopf war wie leergefegt. Harry hatte meine Schwester auf dem Gewissen? Er hatte meiner kleinen Charlotte das Leben beendet? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich wollte es nicht.
Mir kam es hoch, ohne das ich es aufhalten konnte übergab ich mich. Gerade konnte ich mich noch vorbeugen, um wenigstens nicht das Sofa zu treffen. Das Handy ließ ich neben mich fallen. Würgend hing ich nun über der Sofalehne und übergab mich erneut. Als sich mein Magen beruhigt hatte, lehnte ich mich zurück und ließ mich in die Kissen fallen. Mein Herz krampfte.
Ich griff mit zittrigen Händen nach meinem Handy und schaute erneut auf den Namen. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Harrys Tattoo beinhaltete Charlottes Namen.
_____
1265 Wörter 12/06/2020
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro