
10. Die Angst vor Giften
Nach dem Tränkeunterricht fühlte Evelynn sich irgendwie unzufrieden. All die harte Arbeit, die sie in ihren Trank gesteckt hatte, damit er perfekt gelingen würde, war durch einen Zauberstabschlenker von Professor Holmes vernichtet worden. Deshalb wandte sie sich an Jesse, der neben ihr ging und sichtlich entspannt wirkte.
„Weiß du, ich habe nie verstanden, warum genau du diese Angst vor Giften hast."
„Toxophobie", unterbrach er sie sogleich und Evelynn, sowie die anderen starrten ihn kurz verwundert hat.
„Was?"
„Toxophobie. Oder Toxiphobie, Toxicophobie. Meinetwegen auch Iophobie. Das sind die Fachbegriffe für meine Zwangsstörung. Sagt zumindest meine Therapeutin." Ein strahlendes Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Also – warte, es gibt einen Fachbegriff dafür? Und du hast eine Therapeutin?" Mallory schien überaus überrascht zu sein und auch den anderen waren diese Informationen neu.
„Ja, natürlich. Es gibt fast für jede Angst einen Fachbegriff. Ich kann dir auch sagen, wie die Angst von Enten beobachtet zu werden heißt." Jesse schulterte seine Tasche und machte sich dann auf zur Marmortreppe.
„Jetzt warte mal! Seit wann hast du eine Therapeutin?", fragte Evelynn und holte zu ihm auf.
„Ja, und warum wissen wir davon nichts?", fügte Ava hinzu und klang wirklich äußerst besorgt.
„Ich dachte nicht, dass ich das erzählen muss", meinte er und zog die Augenbrauen zusammen. „Ist das denn so wichtig?"
„Ähm... nein, glaube ich", meinte Alondra. „Aber es wäre dennoch nett gewesen, es vorher zu wissen. Seit wann gehst du denn zu einer Therapie? Schon lange?"
Jesse seufzte und blieb vor der Marmortreppe stehen. „Ich gehe seit den Sommerferien vor der vierten Klasse zu ihr, wenn ich kann. Mein Vater fand es nicht mehr gesund, dass ich krankhaft die Putzmittel weggeschmissen hab und ist mit mir dann zu einer Therapiesitzung gefahren."
„So lange schon?", hauchte Ava und legte eine Hand vor den Mund. „Aber warum - "
„Weil es mir damals peinlich war, okay?", zischte er und hob eine Hand an die Stirn. Ava schrak zurück und blickte dann betreten zu Boden. „Tut mir leid", seufzte er schließlich. „Ich wollte nicht, dass das an die große Glocke gehangen wird."
„Aber wir sind deine Freunde, Jesse." Evelynn trat einen Schritt vor und legte eine Hand auf seinen Arm. „Wir urteilen doch nicht über dich, weil du... ähm..."
„Krankhaft panische Angst vor Gift hast?", meinte er müde und lächelte schwach. „Danke. Ich hätte es mir eigentlich denken können, dass das unbegründet war. Aber trotzdem – welcher andere Dreizehnjährige geht denn schon zur Therapie. Ich wollte nicht als Außenseiter dastehen. Wenigstens hat Professor Holmes sich mitfühlend gezeigt und mir diesen Deal angeboten, sonst wäre ich sicher durchgefallen."
„Und weißt du, warum genau du diese Angst hast?", fragte Joshua vorsichtig und mied seinen Blick. Seine Hände waren um den Griff seiner Tasche verkrampft.
„Nein", erwiderte Jesse und wandte sich um. „Aber so genau will ich es auch gar nicht wissen. Nachher erfahre ich noch, dass meine Mum versucht hat, mich als Baby im Kessel zu ertränken oder sowas." Seine Stimme war um einige Temperaturen gefallen. „Es würde mich nicht verwundern, wenn ich ehrlich bin."
„Was - ", fing Ava an, doch er unterbrach sie sogleich.
„Wir sollten uns beeilen, der Unterricht fängt gleich wieder an." Mit schnellen Schritten eilte er die Marmortreppe hinauf.
„Aber wir haben eine Freistunde!", rief Evelynn ihm hinterher, doch da war er schon um die Ecke gelaufen. Sie tauschte einen Blick mit Ava, die betreten zur Seite sah. „Lass uns gleich mit dem Aufsatz anfangen", murmelte sie und zog ihre Freundin mit. „Wir sehen uns später."
„Okay!" Alondra und Mallory verschwanden in den Speisesaal, der zu jeder Zeit mit Kannen voll mit Kaffee, Tee und Milch ausgestattet war, und Joshua, der ihnen kurz verwundert hinterherblickte, folgte dann Ava und Evelynn die Marmortreppe hinauf.
„So einfach werdet ihr mich nicht los", murrte er. „Ihr wollt ihn verfolgen, oder?"
„So offensichtlich?", fragte Evelynn mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Für mich schon. Du hast dann diesen wilden Blick, dann könnte dich nicht einmal eine Horde Einhörner aufhalten." Er grinste schief.
„Einhörner werden überbewertet, finde ich", sagte Ava. „Es gibt viel bessere Tierwesen."
Joshua sah sie und öffnete den Mund, wahrscheinlich um ihr zu sagen, dass das gar nicht zur Debatte stand und es nur eine Redewendung war, da stieß Evelynn ihm in die Seite. „Das können wir später klären, oder?"
„Klar. Aber... wollt ihr ihm nicht, keine Ahnung, den Freiraum lassen, den er will?", meinte er dann, als sie einen weiteren Stock hinaufgestiegen waren.
„Was meinst du?", erwiderte Ava und blieb stehen. „Ich will nicht, dass er vor uns wegläuft!"
„Ja, wir wissen, dass du dich am liebsten an ihn tackern würdest", brummte Joshua und Evelynn verdrehte die Augen. „Aber es geht mir eher darum, dass er ja aus gutem Grund das Weite gesucht hat. Schon mal daran gedacht, dass er vielleicht gar nicht darüber reden will? Es ist ihm unangenehm, das habt ihr sicherlich auch mitbekommen."
Ava blickte zu ihrer Freundin und sie beide schluckten kurz. „Deswegen – wäre es nicht besser, ihm seine Ruhe zu lassen?"
„Sagst du das, weil du es so meinst, oder weil du - ", fing Evelynn an, doch Joshua unterbrach sie barsch.
„Natürlich." Er steckte seine Hände in die Taschen seiner Hose und scharrte dann kurz mit den Füßen. „Lasst uns ihn einfach für diese Stunde in Ruhe lassen und diesen Aufsatz wirklich erledigen. Dann haben wir später weniger zu tun."
Für einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann seufzten Ava und Evelynn beinahe gleichzeitig. „Du hast ja Recht."
Ein Grinsen breitete sich auf Joshuas Gesicht aus und die Grübchen an seinen Wangen wurden deutlich sichtbar. „Ich mag es, wenn du das sagst, weißt du das?", fragte er und wandte sich dann schwungvoll um.
„Ja, deswegen tue ich es nicht oft", brummte Ava. Evelynn drängte sich in ihre Mitte und legte jeweils einen Arm um die Schulter ihrer Freunde.
„Ach, ich bin froh, dass ich euch habe."
„Jetzt wird nicht sentimental", murrte Joshua und schüttelte ihren Arm ab, dann wandte er das Gesicht ab. „Du hast uns noch lange genug an der Backe."
„Das fürchte ich auch", seufzte sie leise. Den restlichen Weg zur Bibliothek von Ilvermorny verbrachte sie in Schweigen, während ihre beiden Freunde sich darüber unterhielten, ob Fliegen weiterhin ein Pflichtfach bleiben sollte, oder ob es nicht vielleicht doch ein Wahlfach werden sollte.
Die Ilvermorny Schulbibliothek war ein riesiges Konstrukt – es war, als hätte man ein adliges Anwesen mitten in den Flur gebaut. Der Boden war ausgelegt mit samtenen Teppichen in den verschiedensten Farben (von burgunderrot zu mitternachtsblau), die Wände bestanden fast komplett aus edlen Holzregalen und mitten in den verwinkelten Fluren standen kleinen Tische mit Kerzenleuchtern und langen Studiertafeln. Von der Decke hingen in regelmäßigen Abständen vergoldete Kronleuchter und tauchten alles in ein schaurig, orange-rotes Licht. Wo bei einem Anwesen die verschiedenen Zimmer sein würden, waren hier Abteilungen – es gab für fast jede Magierichtung eine eigene Abteilung und in die meisten kamen die Schüler auch so rein. Nur die wenigsten benötigten eine schriftliche Erlaubnis eines Lehrers, da sie höhere und gefährlichere Magie beinhalteten.
Evelynn, Ava und Joshua folgten dem ersten Flur, der mit einem karmesinroten Teppich ausgelegt war, bis sie zu einer Doppeltür kamen. Tränke, Gifte, Zutaten, Brauen stand auf einem Schild mit geschwungenen, silbernen Lettern über den verschnörkelten, bronzenen Türgriffen. Die Schulbibliothek sei der Ort in Ilvermorny, der am wertvollsten war, hatte Professor Fráoula einmal gesagt – Bücher aus uralten Tagen und aus den unterschiedlichsten Ländern lagerten in den edlen Regalen und der Bibliothekar, ein tattriger, alter Greis namens Garamond, hütete diese Schriftstücke wie seine eigenen Kinder und deshalb, munkelten die Schüler, hatte er auch keine Frau, weil er zu jeder Tages – und Nachtzeit in der Bibliothek war. Sollte die Schule jemals angegriffen werden, dann sollte das erste Ziel sein, all diese wertvollen Bücher zu schützen. Mit dem Vermögen, das sie wert waren, könnte man diese Schule dreimal nachbauen.
Inmitten von Lehrbüchern über Flussgewächse und der richtigen Zubereitung von Wachstumstränken, suchten die drei Schüler sich einen Tisch neben den hohen Bücherregalen und breiteten ihre Pergamentrollen darauf aus. „Also... Benennen Sie drei Arten von Schlafgiften und welche Zutaten diese ausmachen. Beschreiben Sie anschließend, wie sie die exponentielle Steigerung der Schlafdauer durch Hinzufügen von Trauerweidensamen erklären." Evelynn blickte auf und sah in die ratlosen Gesichter ihrer Freunde. „Wir hätten doch nach Jesse suchen sollen", seufzte sie. „Er weiß sowas immer."
„Ich könnte ja - ", fing Ava an.
„Nein", unterbrach Evelynn sie sofort. „Nichts für ungut, aber ich lasse dich ungerne mit ihm alleine. Nachher sehe ich dich erst am Ende des Tages wieder, weil ihr beide – du weißt schon." Sie grinste keck und Joshua lachte leise, als Ava schnaubend die Arme verschränkte und mit rotem Kopf zur Seite blickte. „Ich mach nur Spaß. Wir schaffen das auch alleine. Glaube ich", fügte sie leise hinzu.
„Du setzt ja wirklich alles in unser Lösungspotenzial", lachte Joshua und schlug sein Exemplar von Pflanzen, Gewächse und Pilzsorten von Caractus Eukarya auf. „Also... wo fangen wir an?"
Eine dreiviertel Stunde später klingelte es und genervt packten sie ihre Sachen zusammen. Evelynn hatte von den verlangten zwei Seiten Aufsatz lediglich eine geschafft und würde am Abend noch einmal in die Bibliothek zurückkehren müssen. „Wir sehen uns draußen", murmelte sie, als sie am Portrait des Pukwudgie vorbeikamen.
Ava und Joshua gingen ebenfalls in ihre Gemeinschaftsräume und nachdem Evelynn sich in ihrem Schlafsaal umgezogen hatte – die wärmenden Quidditchpullover, die sie alle für die Flugstunden hatten, waren von einem satten dunkelrot – verließ sie diesen auch sogleich wieder. An der Marmortreppe traf sie auf Mallory und Alondra, mit denen sie zusammen zum Quidditchfeld ging.
Dieses befand sich inmitten der inneren Gärten der Schule. Es war ein hunderte Schritte breites und langes Feld mit turmhohen Tribünen. An jedem Ende waren jeweils drei Stangen mit runden Öffnungen angebracht und ihre Fluglehrerin, Mrs. Berry, erwartete sie bereits vor dem Tor. Neben ihr stapelten sich Dutzenden an Schulbesen und sie hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt. Ihre wilden, hellbraunen Haare sahen immer so aus, als wäre sie gerade selber von einem Besenflug gekommen.
Evelynn erblickte Ava, Joshua und Jesse und eilte mit Mallory und Alondra im Schlepptau zu ihnen herüber. Als Jesse die drei erblickte, hellte sich sein Gesicht kurz auf.
„Anatidaephobie!", sagte er und grinste.
Evelynn hielt mitten ihrer Bewegung inne und stand wie verwurzelt auf dem Fleck. „W-Was?" Sie und auch die anderen sahen ihn als, als hätte er nun verkündet, er würde eine geheime Beziehung mit einem Warzenschwein führen.
„Das ist die Angst von einer Ente beobachtet zu werden", lachte er. „Ich dachte, ich erwähne es noch, weil ich vorhin nicht mehr dazu kam." Sein Lächeln war noch ein Stück breiter geworden und in diesem Moment konnte Evelynn verstehen, was Ava an ihm fand. Wenn er einen so anlächelte, dann war es leicht, sich in ihn zu verlieben. „Da das geklärt wäre – wie weit seid ihr mit dem Aufsatz gekommen? Ich ahne jetzt schon Übles, wenn ich daran denke, wie viele Seite über Gifte ich durchblättern muss." Seine Stimme war zum Ende etwas leiser geworden.
„Nicht besonders weit", meinte Ava und Joshua brummte zustimmend. Sein Blick schien in die Ferne, aber an keinen besonderen Punkt, gerichtet zu sein. „Willst du dich uns heute Abend anschließen?"
„Gerne", seufzte er. „Da kann ich wirklich Hilfe gebrauchen." Sein Mundwinkel zuckten für einen Moment nach oben und Ava wurde wieder rot um die Nase. Evelynn schüttelte leise seufzend den Kopf. Es müsste wohl ihr eigenes, persönliches Ziel für dieses Jahr werden, dass sie die beiden endlich verkuppelte.
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Erwähnte ich bereits, dass ich Jesse sehr liebe? Denn das tue ich. Er ist gerade mein absoluter Liebling, auch wenn er nicht ganz einfach ist.
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