Kapitel 19 - Das Eisritual
Als sich Tiu mit beiden Händen Wasser aus der Schüssel ins Gesicht spritzte, fühlte er plötzlich eine scharfe Klinge an seinem Hals. Er erstarrte in der Bewegung, bis er die Stimme von Sif vernahm.
»Sprich! Wie konntest du es wagen, mich vor aller Ohren, mit einem Schandwort zu belegen?«
Tiu vermochte es kaum zu schlucken, so eng war die Klinge an seiner Kehle. Als er nichts entgegnete, verminderte Sif den Druck und Tiu brachte stotternd hervor: »Scha... Schandwort? Ich verstehe nicht...«
»Nanntest du mich nicht Rose weil jeder, der mir zu forsch begegnet, meine Dornen zu spüren bekommt?«
»Sif...« Tiu lachte leise.
Die Kriegerin stieß Tiu mit einem Ruck von sich und funkelte ihn wütend an. »Lachst du mich aus?«
»Ich dachte, ich liege im Sterben und wollte die Frau, der ich mein Herz geschenkt habe, wenigstens einmal bei dem Namen nennen, den ich sie stets in Gedanken hieß. Eine wunderschöne stolze Rose, vor der alle anderen Blumen des Gartens vor Neid erblassen.«
Noch immer hielt Sif den Dolch fest umklammert und war sich nicht sicher, ob sie weiterhin zornig, oder nun geschmeichelt sein sollte. »Wie kann es sein, dass wir seit Wochen miteinander trainieren und du nicht ein Wort darüber verloren hast, dass du mir zugeneigt bist.«
Tiu räusperte sich und fasste nach dem Handtuch. »Schau dich an. Wieso sollte sich eine Rose, mit einer Waldmyrre abgeben?« Er tupfte sein Gesicht trocken, als ihm das Tuch mit einem Ruck aus der Hand gerissen wurde.
Überrascht starrte er auf Sif, die mit einem geschmeidigen Schritt herangetreten war und nur eine Handbreit weit weg vor ihm stand. Sie blickte ihn mit großen Augen an, öffnete leicht die Lippen und neigte ihm den Kopf entgegen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war Tiu irritiert, dann kam er ihr entgegen und ihre Lippen berührten sich. Erst zaghaft, dann forscher, schließlich hungrig.
***
»Und dann wollte mir das Ungetüm Tiara entreißen. Ich zückte mein Schwert.« Limiteti zog ein imaginäres Schwert aus der nicht vorhandenen Scheide und drückte den Arm in die Höhe. »Dann holte ich aus.« Sie zog den Arm nach hinten. »Und schlug zu.« Sie machte einen Schritt vorwärts und ließ gleichzeitig das unsichtbare Schwert nach vorne schnellen. Das brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte, gab einen erschrockenen Ton von sich und ließ sich von Falk auffangen.
Falk lachte amüsiert.
»Verzeihung, mein Prinz.« Sie senkte verschämt die Augen und suchte dann kokett den Blick von Falk.
Er grinste wissend. »Ich dachte, du ständest fest auf beiden Beinen und hast dem Eisriesen den Arm abgeschlagen.«
»Ja, das auch.« Sie kicherte. »Danach. Glaube ich. Es ging alles so schnell vorbei.«
»So ist das nun mal im Kampf.« Noch immer hielt Falk sie fest und Limiteti machte keine Anstalten sich aufzurichten.
»Und Euer Kampf, mein Prinz? Habt Ihr jemanden getötet?«
»Byleist ist gierig. Er hat uns nichts übrig gelassen«, murrte Falk missgestimmt.
»Benötigt Ihr Trost, mein Prinz?«
»Unbedingt.«
***
Es ziepte an meinen Haaren. Stetig und schmerzhaft. Ich riss die Augen auf und blickte in die grünen Augen von Loan, der mit einer Hand an meinen Haaren zog und die andere in mein Gesicht klatschte. »Dir auch einen guten Morgen, mein Sohn.«
Ich blickte mich nach Tiara um, die in der Armbeuge von Thor auf die Seite gedreht lag und begeistert an seinem Oberarm saugte. »Mein kleines Vampirmädchen ist also auch erwacht.«
Loan wurde energischer. »Loan! Nicht meine Haare.« Ich löste seine kleinen Finger, überlegte, sah wieder zu Thor und setzte dann unseren Sohn an seinen Kopf. Sofort griff Loan nach der blonden Mähne.
»Hmmmm«, brummte ich unwillig und schob die Lästigkeit von mir weg.
»Komm her, mein kleines Nimmersatt.« Vorsichtig löste ich Tiaras Fangzähne von Thors Arm, biss mir in den Handrücken und setzte Tiara an mein blaues Blut. Sie gluckste und schon fühlte ich ihren Sog. Thors Haut war schon wieder verheilt. Nebenbei beobachtete ich, das lustige Spiel von Wegschieben und erneutem Zupacken. Thors Brummen störte Loan nicht im Mindesten.
»Eure königliche Hoheit«, murmelte ich. »Ihr seid ein lästiges Insekt.« Ich blinzelte, warf Loan auf den Rücken und kitzelte ihn.
Loan zappelte und versuchte Thors Finger zu fangen und dabei brabbelte er ununterbrochen.
»Er kommt nach dir«, stellte ich fest.
»So? Ich bin also ein lästiges Insekt?« Blitzschnell beugte ich mich über Loan hinweg und kitzelte Loki.
»Hör aaaauf. Die erste und letzte Warnung.«
Ich grinste. »Und was willst du tun?« Der Magiestoß katapultierte mich von der Bettstatt und ich landete unsanft auf meinem Hintern. »Au!«
Lächelnd zog ich Loan zu mir. »Komm her, du verstoßenes Insekt. Ich nehme dich auf.« Stirnrunzelnd nahm ich zur Kenntnis, dass Loan versuchte, es seiner Schwester gleich zu tun. Allerdings scheiterte er an seinen stumpfen Asenzähnen.
Ächzend rappelte ich mich auf. »Das war ein offizieller Angriff auf den künftigen König.«
»Das berührt mich wirklich überhaupt nicht.«
»Hm.« Es klopfte an der Tür.
»Helblindi lässt fragen, ob ihr vor dem Abendmahl zu ihm kommen könnt«, rief Fandral von draußen.
»Wir kommen.« Ich schnipste und schon waren wir alle angezogen und erfrischt. »Sitz hier nicht rum. Nimm deine Brut.« Damit drückte ich ihm erst Loan, dann Tiara in die Arme.
***
Die Wachen blieben vor dem Thronsaal. Nur Helblindi und Nal warteten in einer Nische auf uns, die mit Fellen ausgelegt war. Sogar an eine Feuerschale dachten sie. Helblindi bemühte sich wahrhaft, es uns so angenehm wie möglich zu machen. Nal stand auf und kam uns lachend entgegen.
»Tiara, Loan.«
Lokis Mutter freute sich sichtlich und Loan zappelte aufgeregt in meinen Armen, als er Nal erkannte. Tiara war damit beschäftigt meine Rüstung zu untersuchen.
Helblindis sonst so ausdrucksloses Gesicht zeigte eine angedeutete Verzückung. Er konnte seine Augen nicht von Tiara abwenden. Ich warf Thor einen auffordernden Blick zu.
Einladend hielt ich Helblindi meine Tochter entgegen. »Sag deinem Onkel guten Tag, Tiara.« Sie brabbelte etwas Unverständliches. Helblindi beugte sich herunter, nahm sie entgegen und musterte sie neugierig. Tiara zeigte keine Scheu, vielleicht erinnerte er sie an Nal. Er berührte sie zaghaft im Gesicht, als könne er ihre Anwesenheit nicht fassen. Tiara packte seinen Finger und biss herzhaft zu. »Tiara, nein!«
Ich rollte die Lippen ein, um nicht zu lachen, als ich Helblindis erstauntes Gesicht sah.
»Seit wann macht sie das?« wollte Nal wissen.
»Erst seit kurzem.«
»Sie braucht Blut.«
»Ich gebe ihr meins.«
Helblindi lachte. »Sie ist wunderschön und gierig nach Leben.«
»Ihre Schönheit könnte ihr in Jotunheim zum Verhängnis werden.«
»Du glaubst, sie wird eines Tages zu uns kommen?«
»Ich werde Tiara ihre Wurzeln nicht vorenthalten. So wird es notwendig sein, dass sie Jotunheim ohne mich erkundet.« Ich sah, wie Thor den Mund öffnen wollte, um etwas zu sagen. Ich hieß ihn mit einem Blick zu schweigen. »Schwöre mir, dass du sie dann mit deinem Leben beschützen wirst.«
»So wahr das Eis mein Zeuge ist: mein Eis wird auf ewig dein Eis vor Unheil bewahren.«
In diesem Moment kam Byleist zu der Runde. Ich versuchte neutral zu bleiben und ihn nicht mit tödlichen Blicken zu belegen. Er beachtete uns nicht, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Helblindi.
Stirnrunzelnd musterte ich Thor, der sich neben mir merklich anspannte.
»Es ist alles erledigt. Die Argunen sind jetzt im Argunenhaus.«
»Überlebende Krieger?«
»Keine, Konungur.«
»Wurde ĺsgaldur befragt?«
»Ja, Konungur. Die Gruppe, die Prinz Thor entführte, wollte mit den Argunen und Prinz Thor als Erzeuger Thursen- Weibchen züchten. Dazu kam eine zweite Gruppe, die für die Reinerhaltung des Blutes kämpft und die Æsir tot sehen will. Beide Gruppen trafen dort aufeinander und haben sich bekämpft.«
Unauffällig machte ich den Schritt, der mich von Thor trennte und flüsterte: »Was ist?« Nal warf uns einen kurzen Blick zu, widmete sich jedoch schnell wieder Loan, der auf ihn einbrabbelte und versuchte die eingeflochtenen Edelsteine aus seinem Haar zu entfernen.
»Nichts.« Ich schenkte Loki ein kurzes Lächeln. »Ich mag nur nicht, wie sich Byleist immer anschleicht.«
Ah – ja! Thor log mich an. Ich schenkte meine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch vor uns.
Helblindi runzelte die Stirn. »ich verstehe nicht... Mehr als zwei Jahre haben sie diese Argunen versteckt gehalten. Damals konnte doch niemand ahnen, dass Thor ein Thursen-Weibchen zeugen würde.« Damit sah er zu Tiara, die noch immer an seinem Finger hing.
Byleist nickte ernst. »Es sind Überlebende des Mikill-Hörmung.«
Ich sah kurz zu Loki, doch seine Miene blieb unbewegt bei der Erwähnung der Katastrophe, die er verursacht hatte. Nal wirkte bestürzt.
Die Stimme von Byleist klang abfällig. »Statt sie in die anderen Argunenhäuser zu bringen, versteckte Bölgelmir sie, für sein eigenes Vergnügen.«
»Mehr als zwei Jahre? Gab es keine... Nachkommen?« Nal rollte die Lippen ein.
»Er gab ihnen ein Kraut, damit keine Frucht überlebt.«
Byleist sah mich kurz an. Scheinbar wollte er sehen, ob mich dies berührte.
»Bölgelmir«, knurrte Helblindi. »Wie konnte er uns so hintergehen?«
»Fralgei ist einer der Argunen...«, fing Byleist an.
»Fralgei lebt?« Nal schlug sich die Hand vor den Mund.
Byleist nickte. »Wie ihr wisst, ist er der Magie mächtig und hat ĺsgaldur getäuscht.«
Was für eine interessante Information. Man konnte ĺsgaldur täuschen?
Helblindis Stimme klang hart. »Ich werde später über sein Schicksal entscheiden.«
»Was war es für ein Gift, mit dem deren Pfeile getränkt waren?« Immerhin schaffte es diese Tinktur, mir die Besinnung zu rauben.
»Es wird aus dem Fleisch des ĺswals gewonnen. Diese Tiere sind sehr selten geworden und sie zu töten wird hart bestraft.«
»Was ist mit Dorot? Er half mir zu entkommen.«
»Dorot war in der Hitze, als wir eintrafen. Einige Krieger haben sich um ihn gestritten und er war bereits mehrfach gedeckt worden. Es ist davon auszugehen, dass er jetzt eine Frucht in sich trägt. Auch er ist im Argunenhaus.«
»Welche Gruppe hat Loki entführt und was wollten sie von ihm?« Byleist wandte langsam den Kopf zu mir und blickte mir fest in die Augen.
»Wir wissen es nicht. Es gibt auch einige Krieger, die Rache an Loptr fordern, für den Tod von Freunden und Familie.«
»So sehr, dass sie einen ihre Krieger töten?«
»Wieso? Wer wurde getötet?«
»Adgur.«
»Adgur?«
Byleist straffte sich. »Er hat dich tapfer verteidigt und sein Leben dabei gelassen.«
Es erfüllte mich mit Erleichterung, dass der Tote, den der dunkle Bote ankündigte, ein Eisriese war und keiner von uns
»Wir werden die Schuldigen finden«, sagte Helblindi fest.
»Sobald die Kinder die Zeremonie hinter sich haben, reisen wir ab.«
Helblindis Gesicht verzog sich kurz vor Schmerz, als Tiara scheinbar fester zubiss. »Wir sollten uns der Nahrung widmen. Die Geits aus dem Feuerloch werden euch schmecken. Und du, Kleine, wirst Fleischbrei kosten.«
Helblindi lief einfach los, noch immer unsere Tochter im Arm und am Finger. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihn ausgesaugt hatte?
Auf dem Weg zum Speisesaal, stießen unsere Gefährten und Vili zu uns. Ich bemerkte den innigen Blick zwischen Nal und Vili und wie sie beide auf Loan hinabsahen. Wahrscheinlich stellten sie sich ihr eigenes Kind vor. Ich trat dazwischen, unterbrach den blicklichen Kontakt. »Vili, du kennst dich gut aus, mit der Beeinflussung von Körper und Geist.«
»Wen willst du denn beeinflussen, Junge?«
»Niemanden. Ich frage dich, weil du bereits einmal in meinen Erinnerung warst, die mir verborgen waren.« Vili blieb stehen und musterte mich, während die anderen an uns vorbei liefen. »Kannst du an Erinnerungen kommen, wenn du nicht weißt, nach was du suchen musst?«
»Alles was du bewusst erlebt hast, ist in deinem Geist gespeichert. Wenn jemand Erinnerungen, wie damals zum Beispiel Votan, verschleiert, zeigt sich das durch einen dunklen Fleck in deinem Geist.«
»Es passierte mir ziemlich kurz hintereinander, nun schon zum zweiten Mal, dass ich mich nicht erinnern kann.«
»Manchmal verdrängt der Geist auch Geschehnisse, weil man sie anders nicht ertragen könnte.«
Ich pustete geräuschvoll die Luft aus. »Warum hat mein Geist dies nicht bei den Chitauri getan?«
Vili nickte nachdenklich. »Weil du stark bist.«
Ich starrte ihn an.
»Es könnte auch sein, dass jemand etwas zu verbergen sucht.«
»Gleich zwei Mal hintereinander? Kannst du das herausfinden?«
»Im Moment würde ich dir davon abraten. Du bist aufgewühlt und voller Unruhe. Der Geist ist fragil und anfällig. Finde wieder zu dir selbst, dann ist die Gefahr geringer.«
»Ich danke dir für den Rat.« Thor drehte sich zu uns um.
»Wo bleibt ihr?«
***
Die Geits mundeten uns vorzüglich. Sogar Volstagg schien voll und ganz mit dem Mahl zufrieden gewesen zu sein. Während des Essens war auch die Frage nach den Gevattersmännern unserer Kinder aufgekommen und Loki schlug Byleist und Helblindi vor. Ich gab vor darüber nachdenken zu wollen. Die Kinder schliefen nun, satt und zufrieden, in ihren Schlafstätten. Loki betrachtete ihre friedlichen Gesichter und kam dann zu mir in die Bettstatt. »Ich will nicht, dass Byleist Loan nimmt.«
»Erkläre dich.«
»Ich traue ihm nicht.«
»Warum nicht?«
»Er verabscheut Asen, wieso sollte er für einen Asen Gevattersmann sein.«
»Ich habe das Gefühl, dass Byleist alles verabscheut.«
»Deswegen wird er meinen Sohn nicht auf das Eis legen.«
»Loan braucht keinen Gevattersmann. Du wirst ihn hinlegen.«
»Hervorragend. Damit bin ich einverstanden.«
»Ich kläre alles mit Helblindi.«
***
Nur die engste Familie durfte bei dem Ritual anwesend sein, in unserem Falle Martr, Helblindi, Nal, Thor und ich. Byleist befehligte zwei Wachmannschaften, die großräumig mit gezähmten Smilodons, das Terrain um den Eisaltar sicherten. Helblindi wollte keinen weiteren Vorfall riskieren und dies lag auch in unser aller Interesse.
Nal hatte mich in alle Riten eingewiesen. Ich kannte meine Aufgaben. Zuerst würde Vona die Prüfung ablegen. Unsere Brut wartete in der Zwischenzeit, unweit von hier, bei einer Lagerstelle mit Feuer, bei ihren Kindermädchen und unseren Gefährten.
Wieder war ich mit barem Fuß unterwegs. Martr kniete neben dem Altar, legte Vona auf den Boden und wickelte ihn aus der Decke. Helblindi stand hinter ihm und wartete, bis Martr ihm ihr gemeinsames Kind reichte. Während Martr zeremoniell die Decke faltete, küsste Helblindi Vona auf den Bauch und gab ihn an mich weiter. Da hielt ich nun das kleine blaue nackte Bündel in den Händen, welches mich mit großen Augen ansah. Als ich Vona ebenfalls auf den Bauch küsste berührten mich seine kleinen Finger an der Nase. Auf das dein Leben besser werde.
»Ich übergebe dich dem ewigen Eis, auf das es dich prüfe«, murmelte ich die jotunischen Worte vor mich hin. Vorsichtig legte ich Vona in die kleine Mulde auf dem Altar ab. »Möge das Element Wasser in seiner reinster und kältesten Form dafür Sorge tragen, dass dein Körper kräftig und schadlos durch Jotunheim wandeln wird, dass dein Geist Klarheit erhält und weitergeben kann, dass du in der Lage bist, dass dir zugestandene Element aufzunehmen und weiterzutragen, in allen Zeiten, die zu dir kommen.« Ich nahm meine Hände von Vona und trat zurück.
Thursen durften nicht bei dem Kind bleiben, während des Rituals, also entfernte ich mich bis vor den Eingang der Eishöhle. Von hier aus konnte ich sehen was geschah, ohne ĺsgaldur zu beeinflussen.
Vona stellte seine Bewegungen ein und schloss die Augen. Mit größter Mühe unterdrückte ich das Vorwärtsstürmen, als sich die Mulde mit Wasser füllte und kurz bevor es das Gesicht des Kindes berührte, zu Eis wurde. Reif überzog das Gesicht Vonas und im gleichen Augenblick spürte ich, wie die Zeit auf dem Altar stehenblieb. Eine seltsame Aura legte sich über den Eisklotz. Die Linien unter meinen Füßen vibrierten leicht. Ganz Jotunheim erfuhr, dass sich ein Kind dem Entstehungsritual der Thursen stellte.
***
Martr war unruhig. Er knetete unablässig seine Hände und starrte immer wieder zu dem Durchgang, hinter dem sich der Altar befand. Nal lächelte zuversichtlich und lauschte mit geschlossenen Augen etwas, was sich mir verschloss.
Alle standen mit ihren Füßen auf den Linien und hörten ĺsgaldur zu. Ich war versucht mir ebenfalls die Stiefel auszuziehen, nur um zu testen, ob auch ich eine Botschaft empfangen würde. Doch ich stellte mir das kalte Eis vor, wie es in meine Lenden kriechen würde und begnügte mich damit, stiller Beobachter zu sein.
Nal erzählte uns, dass nur wenige Kinder das Ritual nicht bestanden. Für mich erschien es grausam, Kinder sterben zu lassen, wenn ĺsgaldur sie nicht annahm. Für die Thursen war es ein Akt der Gnade, da dieses Kind nicht lebensfähig gewesen wäre und ihm so Leid erspart blieb. Für Loan traf dies nicht zu. Er war kein Thurse und war in Asgard lebensfähig. Egal wie es für ihn ausgehen würde, ĺsgaldur würde ihn nicht behalten.
***
Plötzlich zog sich der Reif von Vonas Gesicht zurück. Das Eis verflüssigte sich und verdampfte, zu kaum wahrnehmbaren Schneeflocken, die sich noch in der Luft auflösten. Mein Blick hing wie gebannt an Vona, der kurz darauf die Augen öffnete. Seine Zeichnungen leuchteten und dann schrie er, wild zappelnd.
Ich lachte und ging zu ihm, hob ihn vom Altar, um ihn in seine Decke zu wickeln. Ein leichtes Beben ließ meine Füße vibrieren und ich machte mich auf den Weg zu den wartenden Eltern.
***
Helblindi nahm den Fuß von der Linie und drehte sich zu Martr. Das Gesicht des Argunen begann zu strahlen. Er stürmte zu Helblindi und ergriff dessen Hände. Scheinbar war das Ritual zu Ende und Klein-Vona bei den Jotunen aufgenommen.
Just in diesem Augenblick bemerkte ich, wie mich Unruhe ergriff. Helblindi kam zu mir.
»ĺsgaldur ist mit uns und mit Vona.«
Bevor ich ihm entgegnen konnte, dass mich dieser Umstand freute, trat Loki mit dem aufgeregten Bündel im Arm in die Höhle. Sofort stürzte sich Martr auf Loki und nahm ihm seinen Sohn aus dem Arm. Loki lächelte.
***
Limiteti drückte Tiara an sich und zögerte einen Moment, bevor sie mir meine Tochter überreichte. Unser Kindermädchen schien aufgeregt zu sein.
»Ihr wird doch kein Leid geschehen?«
»Sorge dich nicht. Nicht mal ĺsgaldur wird es wagen, Hand an meine Kinder zu legen.«
Ob Tiara wusste, was ihr bevorstand? Sie war vergnügt, hellwach und brabbelte vor sich hin. Selten sah ich so ein zufriedenes Kind.
Vor dem Altar reichte ich Tiara an Loki weiter. Er kniete sich mit ihr neben den Altar und wickelte sie aus der Decke. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Helblindi scharf die Luft einzog. Zu wissen, dass Tiara ein Mädchen war und es dann tatsächlich zu sehen – waren zwei völlig unterschiedliche Dinge. Es war der erste weibliche Eisthurse, den Helblindi in seinem Leben zu Gesicht bekam. Obwohl ich dies wusste, war es mir nicht angenehm, wie er sie anstarrte.
Loki gab mir Tiara zurück. Ich küsste sie auf den Bauch, während er die Decke zusammenlegte. Nun musste ich loslassen, vertrauen. Und das fiel mir sehr schwer. Zögernd reichte ich Tiara an Helblindi weiter, der sie musterte und dann lächelnd auf den Bauch küsste. Loki berührte mich an der Schulter.
»Wir müssen gehen.«
Ich wollte Tiara nicht hier zurücklassen. Was wenn das Ritual bei ihr nicht gut ausging, weil Asenblut in ihr war? Würde Helblindi sie vom Altar nehmen? Würde er sie, entgegen aller Riten, ĺsgaldur entreißen?
Ich sah Zweifel in Thors Augen und drückte sanft seine Hand. »Komm.«
Es fühlte sich nicht gut an, einfach zu gehen. Wie grausam war dieses Ritual für Eltern. Nicht zu wissen, ob sie ihr Kind lebend in Empfang nehmen konnten. Hinter uns hörte ich, wie Helblindi die Worte zum Ritual sprach.
»Ihr geschieht nichts.«
Ich konnte nicht glauben, dass ich sie wirklich dort ließ, als wir wieder in der Höhle neben dem Altar abkamen.
Vona saugte an Martrs Eisfinger, Nal blickte uns erwartungsvoll an. Loki achtete darauf, dass sein blanker Fuß auf einer Linie stand. Ich kniff die Augen zusammen, beugte mich herunter, öffnete hastig die Verschnallung meiner Stiefel, riss mir beide herunter und zog auch die Strümpfe aus. Nal starrte mich ungläubig an. Ich suchte den Kontakt mit den Linien. Der Boden war eisig kalt. Es war, als wolle Jotunheim den Asen verschlingen, als die eisige Kälte meine Füße einhüllte und den Weg in meine Beine suchte. Ich forschte nach meiner Tochter, nach einem Zeichen, nach irgendetwas...
Thor biss die Zähne zusammen, grub seine Zehen ins Eis und lauschte wohl vergeblich nach einem Zeichen von ĺsgaldur, seinem Gesicht nach zu gehen. Ich trat zu ihm und ergriff seine Hand. Die Irritation in seinem Gesicht hielt nicht lange an. Ich wusste nicht, ob er ĺsgaldurs Magie ebenso empfand wie ich, doch scheinbar fühlte er die positiven Magieimpulse, die durch die Linien pulsierten. Nal lächelte uns zu, seine Hände freudig zusammengepresst. Vonas Schmatzlaute verstummten, sobald die Impulse vom Altar kamen.
»Warte! Helblindi sagte, dass ich bei beiden Kindern dabei bleiben kann.«
Ich hielt Thor fest, der zum Durchgang eilen wollte und beugte mich zu seinem Ohr. »Zieh dein Schuhwerk wieder an – ich kann Helblindis jubelndes Herz hören.« Thor schnaufte erleichtert auf. Ich war noch immer angespannt. Bei Tiara war ich mir sicher gewesen, bei Loan war ich es nicht. In mir hallten Nals Worte wider: Ein Asenkind würde es nicht überleben.
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