6 » Das Ende der Welt
C H A R L I E
London, März 2015
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„Dass ich meinem freien Tag mit dieser Kuh verbringen muss, ist wirklich nicht fair", schnaubte ich verächtlich. Unsanft knallte ich die Tassen auf die Anrichte in der Küche und ärgerte mich.
„Gib ihr wenigstens eine Chance. Nathan zur Liebe."
Mum hatte gut reden.
Nathan und seine Victoria waren noch nicht einmal eine halbe Stunde hier und mir wäre beinahe schon drei mal der Kragen geplatzt. Sie war weder dazu in der Lage sich allein die Jacke auszuziehen, noch konnte sie sich selbst ein Glas Wasser einschütten. Nathan erledigte alles für sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Wäre ich an ihrer Stelle, wäre mir das einfach zu peinlich gewesen, vor den Augen der Familie meines Freundes die Diva zu spielen. Es war schon eine Frechheit, dass sie meinen Bruder ausnutzte, wenn die beiden alleine waren, aber so dreist zu sein, empfand ich als respektlos und heimste ihr einen weiteren Minuspunkt auf meiner Pro und Kontra-Victoria-Liste ein.
Als ich meiner Mutter dabei half, das Geschirr ins Wohnzimmer zu tragen, hätte ich mich beinahe auf dem Esstisch übergeben. Verträumt schaute Nathan seiner Angebeteten in die Augen, während sie seinen Kragen zurecht zupfte. Ich fand an ihr einfach nichts, dass ich positiv bewerten konnte. Dass sie wirklich hübsch war, tat auch nichts zur Sache, denn ihr Charakter machte sie so wahnsinnig hässlich, dass alles andere in den Hintergrund rückte.
„Toll, dass ihr so spontan Zeit hattet", ließ mein Bruder verlauten als wir uns zu den beiden an den Tisch setzten. „Wir haben ein paar großartige Neuigkeiten."
Dass Nathan spontan vorbei kam, um nach dem Rechten zu schauen, war nichts Neues, jedenfalls tat er das, bevor Victoria ihm eine Gehirnwäsche verpasst hatte und wir ihn kaum mehr zu Gesicht bekamen. Ich freute mich ihn zu sehen, er hätte sein Anhängsel jedoch liebend gern Zuhause lassen können.
Nathan nahm Victorias Hand und warf ihr einen zuversichtlichen Blick zu, dann sprach er ohne uns anzugucken: „Wir würden euch gerne etwas erzählen, was uns am Herzen liegt. Es gibt einen Grund dafür, dass wir zusammen hier sind und den Grund würden wir gerne mit euch teilen."
Die Worte meines Bruders hallten durch meinen Kopf. Solche Worte kannte ich nur aus Hollywood-Streifen und schlagartig wurde mir schlecht. Er wollte uns doch nicht weiß machen, dass er vorhatte diese Schreckschraube zu heiraten, oder?
Mein Blick glitt zu meiner Mutter, die stocksteif auf ihrem Stuhl saß und ihren Sohn anblickte. In ihren Augen spiegelte sich die blanke Panik wieder und ich fragte mich, ob ich in diesem Moment genau so irre aussah wie sie. Angespannt fuhr sie mit den Fingern durch ihre schulterlangen dunklen Haare und schluckte.
Im Gegensatz zu mir, war sie gelassener was Victoria anging. Jedenfalls äußerlich. In ihr drin sah es definitiv anders aus, denn jedesmal, wenn die beiden wieder verschwanden, verschwand auch ihr eingefrorenes Lächeln auf den Lippen und sie atmete erleichtert auf.
„Victoria und ich...", holte er uns aus unserer Starre und schaute meine Mutter an, die immer noch wie erstarrt in sein Gesicht schaute, „Wir haben vor, uns eine Eigentumswohnung zuzulegen", platzte es plötzlich begeistert aus ihm raus und mein ganzer Körper entspannte sich mit einem Mal. Neben mir entspannte sich auch meine Mutter und sie schloss für einen Moment die Augen. „Ist das nicht wunderbar?", fügte Nathan hinzu und schaute uns abwartend an.
Hilflos schaute ich zu Mum, die glücklicherweise ihre Sprache wieder fand und monoton vor sich hin stammelte: „Ja... wirklich wunderbar. Liebling, das ist toll." Ich rümpfte die Nase. Das war alles andere als toll.
Zwar blieb es mir erspart, dass ich Victoria bald als meine Schwägerin ansehen musste, jedoch war ich nicht wirklich erfreut über diese Art der Neuigkeit.
So lange ich zurück denken konnte, war Nathan immer für Abenteuer zu haben. Spontane Wochenend-Trips mit seinen Freunden, ungeplante Reisen ins Nirgendwo und die gemeinsame Zeit mit seiner Familie lagen ihm immer am Herzen. Es gab kein Wochenende an dem er auf dem Sofa versauerte. Entweder war er unterwegs oder wir setzten uns gemeinsam an einen Tisch und holten die alten Gemeinschaftsspiele aus dem Schrank.
Nun verbrachte er jede freie Minute mit seiner Freundin und legte sich eine Eigentumswohnung zu. Dieser spießige Alltag sah ihm gar nicht ähnlich und es machte mich wütend, dass er so viel von sich selbst aufgab. Er schaffte es noch nicht mal zum Geburtstag seiner kleinsten Schwester, dabei gab es eine Zeit, in der er genau so an seiner Familie hing, wie ich. Vor allem seit mein Dad vor knapp drei Jahren von uns gegangen war, hatte ich mir gewünscht, dass wir alle noch stärker zusammen wachsen würden.
Pustekuchen. Denn Nathan führte nun ein Leben weit Abseits von unserem, meine Mum wurde mehr und mehr zum Einzelgänger und versank lieber in ihren Papieren für die Arbeit. Mir war bewusst, dass wir alle älter wurden und irgendwann unseren eigenen Weg gehen würden, aber diese Art von Veränderung machte mir wirklich zu schaffen.
„Du bist so still, Charlotte", riss Victoria mich aus meinen Gedanken. „Freust du dich denn gar nicht für uns?"
Wenn sie dachte, sie könnte mir ein schlechtes Gewissen einreden, hatte sie sich geschnitten. Ihr süffisantes Grinsen würde ich ihr schon noch aus dem Gesicht fegen. Und die Tatsache, dass sie mich Charlotte nannte, nachdem ich ihr gefühlte tausend mal gesagt hatte, dass nur meine Grandma sich so nannte, machte mich zunehmend rasender.
„Ach, weißt du", schnaubte ich, lehnte mich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, „Ich bin nur kein Fan von Leuten, die sich ins gemachte Nest setzten ohne selbst auch nur einen Finger zu rühren." Nathan riss erschrocken die Augen auf und meine Mutter blieb neben mir merkwürdig ruhig. Irgendjemand musste ja mal was dazu sagen und wenn sie es nicht tat, dann musste ich das wohl oder übel selbst in die Hand nehmen.
„Charlie! Jetzt halt mal den Ball flach", fauchte mein Bruder und funkelte mich quer über den Tisch an.
Im Raum herrschte Totenstille und alle Beteiligten hatten den Blick stur auf den alten Holztisch gerichtet. Das Thema war für mich noch längst nicht beendet, aber ich wollte meinem Bruder nicht vergraulen. Immerhin war es einer der wenigen Tage an dem ich ihn sah.
Meine Mutter war mittlerweile wieder aus ihrer Starre erwacht und verteilte den Kuchen auf unsere Teller. Schweigend schüttete sie sich einen Tee ein und reichte die Kanne dann kommentarlos an mich weiter.
„Es gibt noch etwas, was ich erzählen wollte. Und bevor die Stimmung endgültig kippt, werde ich das Thema wohl mal ansprechen", sagte Nathan ruhig und nahm die Kanne entgegen, die ich ihm in die Hand drückte. „Miss Thompson hat die Wohnung zum ersten Juni gekündigt. Sie zieht wohl nach Brighton zu ihrem Verlobten."
Miss Thompson wohnte im Erdgeschoss unseres Hauses in einer Souterrainwohnung und war eine äußerst ruhige Zeitgenossin. Wir sahen sie nur, wenn sie den Müll raus brachte und uns spontan über den Weg lief. Ansonsten war sie eher wie ein Phantom und meine Mutter schaute bei ihr öfter nach dem Rechten, um sicher zu gehen, dass sie überhaupt noch lebte.
Das Haus gehörte meinem Vater und so kümmerte sich Nathan nach seinem Tod um alles. Er verwaltete die Finanzen und erledigte den ganzen bürokratischen Kram. Glücklicherweise hatten meine Eltern das Haus damals vollständig ab bezahlt, so mussten wir lediglich den Rest der monatlichen Kosten übernehmen. Mit dem Gehalt meiner Mutter, die in einer Kunstgallerie arbeitete und meinem Einkommen war das kein Problem.
Das Haus war nicht groß und meine Mutter hatte alles daran gesetzt, dass wir hier wohnen bleiben konnten. Wenn es am Ende des Monats mal knapp wurde, was selten bis nie vorkam, griff Nathan uns unter die Arme. Er verdiente mehr als gut in seinem Bürojob und wollte das Haus meines Vaters in keinster Weise aufgeben.
„Das ist aber schade", sprach meine Mutter und ließ enttäuscht ihre Kuchengabel sinken, "Ich mochte sie sehr. Sie hat immer pünktlich gezahlt und den Gehweg sauber gehalten."
„Ja, sie war wirklich sehr zuverlässig", erwiderte Nathan. „Ich habe aber schon darüber nachgedacht und habe bezüglich des nächsten Mieters eine Idee." Gespannt sah meine Mutter ihn an und ich stocherte weiter in meinem Schokokuchen herum, bis ich mich bei Nathans nächsten Worten verschluckte: „Ich finde, Charlie sollte dort einziehen."
„Wie Bitte?", fragte ich laut als ich den Rest der trockenen Krümmel runtergeschluckt hatte.
„Ich denke, es wird Zeit, dass du mal hier raus kommst", sprach er ruhig und setzte seine Tasse an die Lippen. Als er die Tasse abstellte und sich durch die blonden Haare fuhr, funkelten seine blauen Augen mich zuversichtlich an.
„Bei aller Liebe, Nate", mischte meine Mutter sich ein, „Aber wenn dir so sehr am Herzen liegt, dass Charlie auf eigenen Füßen steht und ein bisschen Abstand gewinnt, dann halte ich die Souterrainwohnung im gleichen Haus nicht unbedingt für die beste Wahl."
„Genau das ist es ja", verkündete er gelassen, „Charlie hätte eine eigene Wohnung, das heißt sie hätte einen Ort an dem sie einfach mal nicht parat ist, wenn jemand mit den Fingern schnippt." Nathan hatte diese Wörter speziell an unsere Mum gerichtet. Er hatte schon oft versucht sich dafür einzusetzen, dass ich von ihr, Amy und Mason Abstand gewann. Ich hatte das nie verstanden, denn ich hatte mich nicht einmal darüber beschwert. Ganz im Gegenteil, ich genoss es so viel Zeit mit meinen kleinen Geschwistern zu verbringen. Dahingehend fand ich Nathans Bedenken eher unnötig.
Gelassen sprach er weiter: „Sie sollte anfangen, ihr eigenes Leben zu führen, ohne dass sie immer einspringen muss, wenn du nicht in der Lage bist, etwas so selbstverständliches zu erledigen, wie Mason vom Fußball abzuholen."
„Sowas lass ich mir von dir nicht sagen, Nathan", fauchte sie ihn an. „Ich tue alles, um hier jeden zufrieden zu stellen. Stell mich hier nicht hin, als wäre ich der Grund dafür, dass Charlie sich nicht ausleben kann und sich Zuhause einsperrt."
„Entschuldigung?", warf ich dazwischen und schaute meine Mutter mit zusammengezogenen Augenbrauen an, „Was soll das denn heißen?"
„Ach komm, Charlie", mischte Nathan sich ein, „Wir wissen doch beide, dass du dich hier verschanzt, anstatt etwas zu erleben, dass dich im Leben weiter bringt."
Die Worte meines Bruders verletzten mich. Nur weil ich ohne mit der Wimper zu zucken einsprang, wenn es eine Familienkrise gab, hatte das nicht gleich zu bedeuten, dass ich mich hier verkroch und es vermied raus zu gehen. Ich war recht zufrieden mit dem was ich hatte. Ich hatte einen gut bezahlten Job, ein Dach über dem Kopf und ein eigenes Auto. Mehr brauchte ich nicht und ich fand es unverschämt von Nathan, etwas anderes zu behaupten.
„Der Vorteil wäre, dass niemand von dir verlangen kann die Tür aufzumachen, wenn du keine Lust hast jemanden zu sehen. Du hättest dein eigenes kleines Reich und trotzdem wärst du binnen ein paar Sekunden hier, wenn alle Stricke reißen", sprach Nathan. „Und was dich angeht, Mum. Ich möchte dir nicht zu nahe treten, ich respektiere dich und ich bin dir unendlich dankbar, dass du immer alles gegeben hast. Aber vielleicht ist genau das das Problem. Du machst es immer allen Recht, du vergisst dich selbst dabei. Du arbeitest ununterbrochen und vergisst die wichtigen Dinge, wie mit Mason zum Fußball zu gehen und ihn anzufeuern. Was ist daraus geworden, dass du mit Amy einmal in der Woche etwas gemeinsam machen wolltest?"
Sichtlich überfahren ließ unsere Mutter die Schultern hängen. Wieder kehrte Stille ein und jeder war damit beschäftigt, seine Gedanken zu ordnen.
Wenn ich genau darüber nachdachte, dann hatte Nathan recht. Nicht nur was meine Mum anging, sondern auch was mich betraf. Für mein Alter war es ungewöhnlich noch bei der eigenen Familie zu wohnen, das hatte ich auch nie verleugnet. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass ich dafür schon bereit war.
„Jeder muss mal erwachsen werden." Empört schaute ich von meinem Teller hoch und starrte auf Victorias selbstgefälliges Grinsen.
Mein Kiefer spannte sich schmerzhaft an: „Im Gegensatz zu dir verbrate ich nicht das ganze Geld, das meine Eltern mir in den Arsch blasen."
„Ich hör wohl nicht richtig", erwiderte sie schnaubend und eine penibel gezupfte Augenbraue schnellte in die Höhe. „Das muss ich mir nicht von jemandem sagen lassen, der mit Zweiundzwanzig noch Zuhause bei Mami wohnt."
„Hat dein grässliches Parfüm dir eigentlich jegliche Gehirnzellen vernebelt?", fuhr ich sie an. „Wenn Nathan nicht wäre, dann-"
„Es reicht!" Nathans Faust landete geräuschvoll auf dem Tisch und selbst meine Mutter fuhr erschrocken zusammen. „Habt ihr den Verstand verloren?"
Wortlos stand ich von meinem Stuhl auf, stampfte zur Haustür und ließ sie unsanft ins Schloss fallen. Im Vorgarten ließ ich mich unter die große Weide fallen und lehnte meinen Kopf an den Stamm.
Mein Vater hatte sie bis zu seinem Tod gehegt und gepflegt. Als er mit meiner Mum und Nathan hier eingezogen war, konnte er einen Punkt von seiner Liste abhaken. Er legte immer wert auf solch kleine Traditionen und so war das erste, was er machte als sie einzogen. Einen Baum pflanzen. Während meine Mutter damit beschäftigt war, das Wohnzimmer einzurichten, hatte mein Vater sich die Gießkanne geschnappt und hatte Stunden im Vorgarten verbracht.
Ich musste beinahe lachen, als mir eine kleine Träne die Wange runter rollte. Es war lächerlich, dass ich wegen so einer kleinen Lappalie anfing zu heulen. Entschlossen wischte ich mir mit den Ärmel die Wange trocken und schniefte vor mich hin.
Ich wollte nicht, dass sich etwas änderte. Ich wollte nicht, dass Mum sich von mir im Stich gelassen fühlte, auch wenn ich nur wenige Schritte von ihr entfernt war. Ich wollte nicht, dass ich nicht wusste was in Amys Leben vor sich ging und sie all ihre Probleme alleine durchstehen musste. Und erst recht wollte ich nicht, dass wir Nathan wegen seiner dämlichen Freundin überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekamen.
„Du magst sie überhaupt nicht, oder?" Durch die dichten Äste sah ich Nathan, der sich kurzerhand durch das Gestrüpp schob und sich neben mir fallen ließ.
„Können wir einfach über was anderes reden?", bat ich ihn und wischte mir erneut über die Wangen. „Ich werde mich schon irgendwie damit arrangieren, ich hab nur keine Lust mich jetzt gerade damit zu befassen."
„Du weißt, dass sich zwischen uns nichts ändern wird, oder Charlie?"
„Ist das dein Ernst?", schnaubte ich und schaute ihn ungläubig an. „Es hat sich doch schon alles geändert. Du warst dieses Jahr einmal da, Nate. Ein einziges Mal."
„Ich hatte so viel zutun in den letzten Wochen, dass ich-"
„Hör doch auf dich raus zu reden", unterbrach ich ihn, „Du willst mir doch nicht wirklich erzählen, dass du es in drei Monaten nicht geschafft hast, dir ein bisschen Zeit zu nehmen, um uns zu besuchen. Das kannst du Mum erzählen, aber nicht mir."
„Ich brauchte ein bisschen Zeit, Charlie."
„Zeit für was?"
„Zeit allein. Um zu wissen, wer ich alleine bin. Ich liebe euch, Charlie, aber manchmal ist das einfach zu viel. Ich musste raus, mir ist fast der Kopf geplatzt. Ich wollte mich frei fühlen."
„Was meinst du?", fragte ich blauäugig und schlang meine Arme um meine Beine.
„Ich will ehrlich zu dir sein", fing er an und lehnte den Hinterkopf an den dicken Weidenstamm, „Als Dad gegangen ist, habe ich mich unendlich leer gefühlt. Ich habe darauf vertraut, dass es irgendwann nicht mehr so weh tut, aber es funktionierte nicht. Also hab ich auf euch vertraut, in der Hoffnung es würde mir Halt geben und für eine gewisse Zeit tat es das auch. Aber irgendwann kam der Punkt wo ich wissen wollte, ob ich es alleine schaffen kann. Ich hatte das Gefühl wir haben so sehr aneinander geklebt, dass es uns auf Dauer nur noch mehr runter zieht. Und ich weiß, dass Dad das nicht gewollt hätte. Irgendwann werden wir alle unseren eigenen Weg gehen und ich hab den Anfang gemacht, sozusagen den ersten Schritt."
Wieder kullerte eine kleine Träne meine Wange runter und ich hörte Nathan aufmerksam zu, als er weiter sprach: „Ich wünschte du wüsstest, was ich meine. Ich wünschte, du würdest dich so fühlen, wie ich mich gefühlt habe. Alles für einen Moment zurück zu lassen und wieder neue Kraft zu sammeln."
„Ich hab Kraft genug, Nate. Dazu muss ich nicht alle im Stich lassen", ließ ich ihn wissen.
"Wen hab ich im Stich gelassen? Ich kann verstehen, dass du dich von mir allein gelassen gefühlt hast. Ich weiß, dass du wütend bist. Aber beantworte mir eine Frage, Charlie", sagte er, seine Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln, „Die Welt hat sich auch ohne mich weiter gedreht, stimmt's? Und genau so wird es sein, wenn du ein bisschen Abstand gewinnst. Das heißt nicht, dass du nicht mehr für unsere Familie da bist, sondern dass du dir Zeit für dich selbst nimmst. Die Welt dreht sich weiter."
Skeptisch betrachtete ich meinen großen Bruder: „Und wenn ich nicht will, dass die Welt sich weiter dreht?"
„Du hast keine Wahl, Charlie, das steht nicht in unserer Macht. Das einzige was wir ändern können, ist die Art und Weise wie wir unsere Zeit nutzen."
„Das versteh' ich nicht", gab ich ehrlich zu und beäugte ratlos meine Finger.
„Du wirst es verstehen", sprach er zuversichtlich und legte einen Arm um meine Schulter, „Wenn es so weit ist, dann wirst du wissen was ich meine. Und ich verspreche dir, dass sich zwischen uns nichts ändern wird. Weder zwischen dir und mir, noch den anderen. Egal was du tust, Charlie, wir werden immer wieder hier her zurück kommen."
Seine Worte schwirrten mir im Kopf herum. Immer und immer wieder. Ich verstand kein Wort von dem was er sagte.
Absolut ratlos starrte ich durch die Blätter der Weide und zerbrach mir den Kopf. Er hatte Recht. Dass er so lange nicht hier war, hatte nichts geändert. Ich hatte ihn genau so lieb wie davor, daran konnte nichts und niemand etwas ändern; nicht einmal Victoria oder die Tatsache, dass er seltener vorbei kam.
„Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?", fragte ich ihn schließlich.
„Das kann ich dir nicht beantworten", sagte er gelassen, "Aber ich bin mir sicher, dass du eine Antwort finden wirst."
Ich gab es auf weitere Fragen zu stellen. Meine Gedanken waren völlig durcheinander, mein Kopf fühlte sich leer und schwer an. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich sehr wohl Angst davor hatte was die Zukunft brachte. Nicht nur, weil ich Veränderungen haste, sondern auch davor, dass ich mich ewig vor so vielem verstecken würde.
Schlagartig wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als das Tor im Vorgarten energisch aufgerissen wurde und jemand über den Gehweg zur Haustür trampelte. Synchron standen Nathan und ich auf und kämpften uns durch die dichten Äste der Weide.
Vor der Haustür stand Amy, die mit zitternden Händen versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Als wir näher kamen, sah ich, dass sie geweint hatte und Nathan half ihr kurzerhand die Tür zu öffnen.
„Was ist passiert?" In mir machte sich ein unbehagliches Gefühl breit, Amys blaue Augen glänzten und dann brach sie Tränen aus.
„Nichts. Ich will allein sein."
Als Nathan den Schlüssel umdrehte, stieß Amy die Tür auf, pfefferte ihre Jacke in die Ecke und stampfte die Treppen hoch. Kurz darauf hörte ich die Tür knallen und Nathan schaute mich ratlos an.
Ich hatte das starke Gefühl, dass in der Schule irgendwas passiert war, oder dass sie sich mit Lauren gestritten hatte. Solange jedoch keine Möbelstücke durch das Zimmer flogen, ließ ich ihr ihre Ruhe.
Als Nathan und ich uns ins Wohnzimmer zu Mum und Victoria setzten, war die Stille unerträglich. Nathan stocherte lustlos in seinem Kuchen herum, Victoria betrachtete ihre Nägel und Mum starrte Löcher in die Luft. Es war das erste Mal, dass wir wieder mit Nathan zusammen an einem Tisch saßen und doch wagte es niemand etwas zu sagen. Zu groß war die Angst für einen handfesten Streit.
Mein Bruder forderte mich irgendwann wortlos dazu auf, den Tisch abzuräumen und ich stimmte sofort zu um die Gelegenheit zu ergreifen, dem Schweigen am Esstisch zu entgehen.
„Denkst du, Amy wird heute noch runter kommen?", fragte Nathan als er das Geschirr abtrocknete.
Es fühlte sich ein bisschen an wie früher, wenn Nathan und ich den Tisch abräumen mussten. Er hatte sich immer vor dem Spülen gedrückt und somit wurde das zu meiner Aufgabe. Manchmal, wenn Mum und Dad bereits vor dem Fernseher saßen und wir zum Abwasch verdonnert wurden, hatten wir uns Bärte aus Schaum ins Gesicht gemalt und unseren Vater damit zum Lachen gebracht. Dann jagte er uns durch das ganze Haus, bis er uns zu packen bekam und uns auskitzelte, bis wir keine Luft mehr bekamen.
„Ich weiß nicht," erwiderte ich, „So schlimm kann es ja nicht sein, oder?"
Zwei Sekunden später hatte ich die Bestätigung, dass es wohl doch schlimmer sein musste als gedacht. Von der oberen Etage schallte One Direction in voller Lautstärke zu uns herunter. Etwas, was immer geschah wenn Amy einen wirklich schlechten Tag hatte. Nathans Augen weiteten sich und er schob erschrocken den Kopf aus der Tür.
„Ich geh schon." Ich schmiss den Spüllappen ins Becken und machte mich auf den Weg nach oben. Vor Amys Tür blieb ich stehen und hämmerte gegen das Holz damit sie mich auch hören konnte. Ich bekam keine Antwort also entschied ich mich dazu die Türklinke runter zu drücken und nach dem Rechten zu schauen.
Wie von der Tarantel gestochen stand meine kleine Schwester auf dem Bett und riss an ihren Postern herum. Einige Papierfetzen lagen schon auf dem Boden, die laute Musik bereitete mir schlagartig Ohrenschmerzen und ich hörte Amy laut weinen.
„Was machst du denn da?" Entschlossen marschierte ich zur Anlage und drehte die Lautstärke herunter. Amy hörte abrupt auf mit den Fingernägeln an den Postern zu kratzen und ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie kauerte auf ihrer Decke und schluchzte ungehalten in ihre Kissen.
Ohne lang zu überlegen setzte ich mich auf die Bettkante und strich sanft über ihren Rücken: „Magst du mir erzählen was passiert ist?"
„Ich hasse ihn", murmelte sie in ihr Kissen, schnappte sich ein weiteres und platzierte es auf ihrem Kopf. Verwirrt runzelte ich die Stirn: „Wen?"
Schniefend rappelte sie sich auf und entsperrte ihr Handy um es mir dann vor die Nase zu halten. Sie zitterte so unkontrolliert, dass ich auf dem Display nichts erkennen konnte. So nahm ich ihr das Handy ab und warf einen Blick auf den langen Text vor mir.
Dabei handelte es sich um einen Facebook-Eintrag von One Direction in dem stand, dass Zayn die Band verlassen würde.
„Das ist das Ende", schluchzte Amy neben mir und vergrub das Gesicht in den Händen. „Das war's, es hat alles keinen Sinn mehr. Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Nichts wird sein wie vorher. Alles-"
„Jetzt mach mal halblang", unterbrach ich sie, „Hier steht doch, dass sie zu viert weiter machen."
„Weißt du was das heißt?", fragte sie mich und ich starrte sie ratlos an. Sie beugte sich über die Bettkante und hob ein zerknülltes Poster vom Boden auf. Jammernd strich sie es auf ihrer Jeans glatt und wedelte mir damit vor dem Gesicht herum: „Ich werde sie nie zu fünft sehen. Jetzt wo ich endlich Tickets habe und sie live sehe, sind sie zu viert. One Direction sind fünf, Charlie, fünf! Nicht vier!"
Für einen Moment betrachtete ich das Poster in Amys Händen. Ob Niall und Harry wohl schon davon gewusst hatten, als ich auf Harrys Party war? Oder womöglich noch früher? So eine Entscheidung traf man sicherlich nicht von heute auf morgen und wenn das der Fall war, dann waren die beiden wirklich gute Schauspieler. Vor allem Niall hatte man absolut nichts angemerkt. Er war so fröhlich und in jeglicher Art optimistisch, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, dass etwas in der Luft lag.
„Das muss doch nicht gleich bedeuten, dass es ohne ihn nicht mehr funktioniert", sagte ich zuversichtlich und gab ihr das Handy zurück.
„Du verstehst das nicht, Charlie." Frustriert ließ Amy sich in die Kissen zurück fallen und stöhnte auf.
In gewisser Weise konnte ich sie schon verstehen. Wäre ich in ihrem Alter gewesen und Tré Cool hätte Green Day verlassen, hätte ich wahrscheinlich auch wie ein Schlosshund geheult und diese ungerechte Welt verflucht. Allerdings war das keinesfalls das Ende der Welt und ich war zuversichtlich, dass meine Schwester das auch merken würde, wenn Gras über die Sache gewachsen war.
Ich ließ sich weinen und nahm sie in den Arm. Für sie brach gerade ihre kleine Fangirl-Welt zusammen und ich konnte nur ahnen wie sie sich fühlte, auch wenn ich ein bisschen schmunzeln musste, als sie die Twitter-Startseite durchging und alles mit Einträgen über Zayn übersät war.
Irgendwann schob Amy eine Konzert-DVD rein und ich fügte mich meinem Schicksal, reichte ihr alle Nase lang Taschentücher und strich ihr liebevoll über das Haar. Ich erwischte mich einige Male dabei wie ich ungehalten mit sang und grinste, als Niall und Co. ihre Späße machten.
Als ich das Konzert auf dem Fernseher betrachtete, dachte ich daran wie es sein würde, wenn ich die Band gemeinsam mit Amy und Hannah auf der Bühne stehen sah. Noch vor ein paar Wochen war ich davon überzeugt, dass es für meine Schwester eines der schönsten Tage in ihrem bisherigen Leben sein würde. Jetzt hoffte ich einfach nur, dass diese kleine Krise ihre Freude nicht zu Nichte machte, sie nicht kurz vorher doch alles hinwarf und ihre Poster endgültig in den Papierkorb verbannte. Vor allem wäre es wirklich schade um die Meet and Greet-Tickets. Davon erzählen, um sie eventuell aufzumuntern, wollte ich jedoch trotzdem nicht. Zu sehr freute ich mich auf ihr überraschtes Gesicht kurz bevor es so weit war.
Als Amy ihren Laptop auf dem Schoß legte und zig Interviews und Musikvideos anklickte, hörte sie allmählich auf zu schluchzen und kurz darauf schlief sie ein. Behutsam legte ich ihr die Decke über den Körper, löschte das Licht und machte mich auf den Weg nach unten.
Dort angekommen zog sich Nathan gerade die Jacke an und schaute mich mit einem halbherzigen Lächeln an. Ich tat es im gleich und seufzte: „ Kleiner One Direction-Zusammenbruch, aber ich bin sicher, sie fängt sich wieder."
„Haben es gerade im Radio gehört", erwiderte meine Mum und verdrehte die Augen.
„Wir machen uns jetzt auf den Weg", sprach mein Bruder und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Danach umarmte er Mum und kam dann zu mir. Als er seine Arme um mich legte, flüsterte er mir ins Ohr: „Überleg es dir, Charlie. Und erinnere dich an meine Worte, wenn du Zweifel haben solltest."
Als er sich von mir löste und auf halben Weg zur Tür hinaus war, rief ich ihm hinterher.
„Nate?"
Er drehte sich um und lächelte mich sanft an: „Ja?"
„Danke."
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