30 » Treudoofe Tomate
C H A R L I E
Khao Sok, Februar 2016
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Bevor Ed und ich wieder bei den anderen angelangt waren, achtete ich bedacht darauf, nicht im Schlamm hängen zu bleiben. Im Augenwinkel sah ich den Rotschopf lächeln und sofort überkam mich dieses vertraute Gefühl. Es tat mir gut, ihn wieder lächeln zu sehen; nicht halbherzig, sondern ein richtiges, ehrliches Lächeln, das von Herzen kam. Doch die Freude hielt nicht lange an, denn je näher wir den anderen kamen, umso nervöser wurde ich.
Schon von weitem sah ich Nialls blondes Haar, das an seiner Stirn klebte. Der dicke Kloß, der sich in meinem Hals bildete, ließ sich einfach nicht herunterschlucken, egal wie sehr ich es versuchte. Egal, wie sehr ich versuchte mir selbst zu sagen, dass es mir nichts ausmachte, dass es nicht nur mich an seiner Seite gab, es funktionierte nicht. Es war lange her, dass jemand so eine Wirkung auf mich hatte wie Niall. Und egal wie sehr ich mich anstrengte, mein Innerstes schrie nach ihm und als ich ihn sah, da wäre ich ihm am liebsten in die Arme gesprungen und hätte ihn nie wieder losgelassen.
Meine Schritte wurden langsamer, ich sah Ed an mir vorbei laufen, der Dave sofort erklärte, wo wir abgeblieben waren. Der stämmige Kerl packte sich aufgelöst an den Kopf und ich meinte, etwas wie „Kannst du dir vorstellen, was los gewesen wäre, wenn der große Ed Sheeran vom Regen weggespült worden wäre?" gehört zu haben.
Ed spielte das ganze herunter und drehte sich im Kreis, um Dave zu zeigen, dass er noch ganz war. Neben Dave stand Anuphap und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. So eine Truppe, wie wir es waren, hatte er sicher noch nie dabei gehabt. Es kam mir vor, als würden wir ständig für Aufruhe und Chaos sorgen.
Bevor ich Oscars Gesicht mustern konnte, kam Hannah auf mich zu gestiefelt. Prompt legte sie ihre zierlichen Arme um mich und atmete erleichtert auf. „Lass mich nie wieder alleine. Dave hat uns die ganze Zeit angemeckert, Oscar hat versucht ihn zu beruhigen und Anuphap hat irgendwas gefaselt, das niemand verstanden hat."
„Und Niall?", fragte ich, als ich sie an mich drückte.
Ich spürte deutlich, dass sie mit den Schultern zuckte. Unsere Klamotten waren immer noch ziemlich klamm und als sie sich von mir löste, begann ich zu frösteln. Um uns herum wurde es langsam immer dunkler und ich fragte mich, wo wir heute übernachten sollten. Obwohl es immer noch warm war, steckte der Regen mir tief in den Knochen. Jeder kleinste Windzug ließ mich frieren, ich war durchnässt bis in die Schuhe und ich wünschte mir das warme Feuer von vorhin zurück. Bis zum Parkplatz waren es sicher zwei Stunden Fußmarsch und ich Gedanken freundete ich mich schon mal damit an, mir auf ein paar Bananenblättern ein Bett zu basteln.
Einige hundert Meter weiter erkannte ich die großen Felsen, von denen Dave und Anuphap erst vorhin geredet hatten. Sie waren augenscheinlich nicht bis dorthin gelangt. Da das Unwetter jedoch vollkommen vorüber gezogen war, war ich mir sicher, dass sie hier auf uns gewartet hatten. Wir standen an einer Stelle, an der sich mehrere Wege kreuzten und ich fieberte nur dem Moment entgegen, an dem wir weiter gingen und ich genug damit Zutun hatte, nicht im weichen Boden stecken zu bleiben. Dann konnte ich vielleicht wenigstens versuchen mein laut klopfendes Herz zu ignorieren, wann immer ich Niall im Augenwinkel wahr nahm.
Unbeholfen stand ich einige Schritte von dem Blonden entfernt. Fast schon zögerlich schaute ich zu ihm herüber. Mein Blick wanderte aufmerksam zu ihm herüber. Seine nasse Sweatshirtjacke klebte an seinem Körper und die enge Jeans, die er trug, wirkte noch epsiger. Sofort fiel mir die Macke auf, sein Gesicht wirkte blass und seine Lippen wirkten eigenartig geschwollen. Ein Teil von mir sträubte sich noch dagegen, einfach zu ihm zu gehen, doch meine Schritte trugen mich fast ganz von allein zu ihm.
Als ich unmittelbar vor ihm stand, da begann er zu lächeln. Ich wünschte mir, einer von uns würde über seinen Schatten springen und bevor ich den Gedanken zu Ende führen konnte, da schloss er mich in die Arme.
Augenblicklich spürte ich die Wärme, die von ihm ausging. Nichts hätte ich in diesem Augenblick lieber getan, als seine Nähe zu spüren. Es war verrückt, wie wohl ich mich bei ihm fühlte und wie seltsam leicht sich alles anfühlte.
„Hast du dich mit einem Kragenbär angelegt?", fragte ich ihn, als er sich einen Schritt von mir wegbewegte. Der plötzliche Abstand zwischen uns gefiel mir nicht und sofort begann ich wieder zu frieren.
Er starrte auf dem Boden und kratzte sich am Nacken. „So ähnlich", sagte er und schob ein kurzes Lachen hinterher. „Ist nichts Schlimmes, kleiner Zwischenfall."
Irritiert runzelte ich die Stirn. Niall war eigenartig wortkarg und überspielte die Situation mit einem Schmunzeln. Sicher war ihm etwas ins Gesicht geweht, oder er war auf die Nase gefallen. Und wenn er es mir nicht erzählen wollte, dann würde ich einfach Hannah später darüber ausquetschen.
Als Dave in die Runde brüllte, hatte er ganz plötzlich Nialls Aufmerksamkeit, der sogleich seinen Rucksack über die Schulter schwang und mich auffordernd ansah. Unser selbsternannter Anführer klatschte ein paar mal in die Hände und forderte uns auf, unsere nassen Hintern Richtung Felsen zu bewegen. Dieses Mal schaute sich allerdings jeder in der Reihe zu seinem Hintermann um, damit nicht wieder jemand verloren ging.
Daves strammen Schritt hatten wir es zu verdanken, dass wir nur zwanzig Minuten später an den hohen Steinwänden ankamen und Anuphap sich sogleich daran machte, nach trockenem Holz für ein Feuer zu suchen. Das gestaltete sich schwierig, denn jedes noch so kleine Ästchen war klitschnass. Unter einem kleinen Felsvorsprung wurde Oscar schließlich fündig und kurz darauf saßen wir alle zusammen gequetscht an dem kleinen Feuer.
Immer wieder schaute ich zu Niall, der auf der anderen Seite saß und mit einem Stock in der Glut herum stocherte. Seine hellen Haare waren fast vollständig getrocknet, doch die einzelnen Strähnen hingen trostlos herunter. Obwohl er aussah, wie sieben Tage Regenwetter, lächelte er mich immer wieder an, wenn unsere Blicke sich kreuzten und fast war so, wie in den vergangenen Tagen.
Als ich in die Gesichter der anderen sah, sah ich die müden Augenpaare. Stumm saßen wir um die einzige Wärmequelle. Obwohl es draußen noch um die zwanzig Grad war, war mir immer noch zum Frösteln Zumute. Nur langsam trockneten meine Klamotten, ich hatte schon den Inhalt meines Rucksacks ausgeschüttet, damit der Pullover, den ich im Handgepäck dabei hatte, ebenfalls wieder trocken wurde. Zum Glück hatte ich das Fotoalbum und die Postkarten in Melbourne noch in den Koffer gepackt. Der dünne Stoff meines Rucksack war nämlich schon nach den ersten Sekunden des Regens vollkommen durchnässt gewesen.
Neben mir saß Hannah, die erschöpft seufzte und ihren Kopf auf meine Schulter legte. Immer wieder rubbelte sie mit ihrem bereits getrockneten Shirt auf ihrer Umhängetasche über ihr Handy, das augenscheinlich eine ganze Menge Regen abbekommen hatte.
„Wenn wir unseren Koffer haben, versprichst du mir dann was?", fragte sie mich.
„Kommt darauf an, was du im Sinn hast", entgegnete ich. „Wenn du von mir verlangst, dass ich einen Aufruf starte, damit du ein Dosentelefon bis nach London verlegen kannst, dann sag ich jetzt schon nein."
Mit einem leisen Kichern haute sie mir auf den Oberschenkel. „Nein, daran hatte ich nicht gedacht", sagte sie lachend. „Versprichst du mir, dass wenn wir in Bangkok ankommen, etwas entspanntes machen? Vielleicht Bummeln, oder einfach einen Kaffee trinken. Kein Survival-Training, keine illegalen Schwimmaktionen in Naturschutzgebieten und auch keine Wildpark-Besuche mehr, bei denen wir drauf gehen könnten. Nur du und ich, Charlie, versprich mir das."
Zögernd nickte ich, denn ich wusste genau, dass ich viel zu lange nichts mehr mit ihr allein unternommen hatte. Hannah war zwar für jede Party zu haben, doch diese kleine Abenteuerreise hatte mir definitiv gezeigt, dass sie nichts dafür übrig hatte, sich in jedes Chaos zu stürzen, das sich für uns bereit hielt. Und um ehrlich zu sein, hatte ich Anfangs gedacht, dass ich diejenige gewesen wäre, die all dem hier nichts abgewinnen könnte. Doch schon nach der kurzen Zeit sah das ganz anders aus.
Ich fing an, es zu lieben, Dinge zu tun, die ich mir selbst nie zugetraut hätte. Ich dachte daran zurück, wie das Adrenalin in meinem Körper tobte, als wir vor dem Parkranger geflohen waren. Wahrscheinlich hätte ich mich das allein niemals getraut, doch als wir völlig aus der Puste wieder am Auto ankamen, da hätte ich am liebsten vor Freude geschrien. Dieses Glücksgefühl, welches ich in dieser Situation gespürt hatte, war sagenhaft schön. Ich hatte mein Herz lange nicht mehr so rasen hören.
All diese kleinen, spontanen Dinge ließen mich wissen, dass ich lebendig war. Und das hatte ich größtenteils Niall zu verdanken.
Vielleicht hätte es auch jeder andere Mensch sein können, der mich einfach so an die Hand nahm und mich unwissend dazu verleitete, dass ich einfach ins kalte Wasser sprang. Doch es war Niall, der all das für mich tat. Und er wusste nicht, dass er mich beeinflusste, oder gar, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Er tat all diese Dinge, die mich zum Lachen brachten und wünschte, dieses Gefühl würde für immer so bleiben.
Vielleicht war es aber auch nicht das, was er tat oder das was er zu mir sagte. Wenn ich ihn ansah, dann setzte mein Herz jedes mal einen Schlag aus. Es war einfach seine sorglose, unbekümmerte Art, die ich so sehr an ihm schätzte. Es schien, als wäre kein Weg zu weit für ihn, keine Hürde zu groß, um sie nicht zu überwinden. Im Gegensatz dachte er über so vieles nicht nach, sondern folgte einfach seinem Herzen. Und auf eine gewisse Art und Weise, färbte seine Lebensfreude allmählich auf mich ab.
Noch einmal wagte ich es, Niall einen Blick zuzuwerfen. Er fuhr sich mit seinen Fingern durch das dichte Haar und zog sich anschließend die Jacke aus, um die näher an die Flammen zu halten, damit sie trocknete.
Einige Minuten saßen wir stumm dort, bis Anuphap sich in Bewegung setzte und sich in der hintersten Ecke des Felsvorsprunges einen Platz zu finden, um dort zu übernachten. Ed und Hannah taten es ihm gleich und ich schenkte Ed ein kurzes Lächeln zu, bevor er sich die Kapuze über den Kopf zog und umständlich versuchte, es sich auf dem harten Boden gemütlich zu machen.
Ich hatte geahnt, dass irgendetwas mit Ed nicht stimmte, doch dass es ihm in den vergangenen Wochen so schlecht ging und ich rein gar nichts dagegen unternommen hatte, bereitete mir Kopfschmerzen. Ich kannte die Teufelsdinger, die er sich täglich einschmiss gut genug, denn als mein Vater Zuhause war und das Haus nicht verlassen konnte, da war ich unzählige Male zur Apotheke gerannt, um seine Medikamente zu holen.
Ich wünschte Ed hätte sich schon eher entschieden, die Karten auf den Tisch zu legen. Ich war mir sicher, dass es für ihn alles andere als einfach war, mir zu erzählen, was mit ihm los war. Und jetzt hätte ich mich selbst dafür ohrfeigen können, dass mir nie in den Sinn gekommen war, dass es ihm so gehen konnte. Andererseits hätte ich ihn womöglich bedrängt, wäre er nicht mit der Sprache herausgerückt. Dann hätte er sich mir gegenüber höchstwahrscheinlich ganz verschlossen und er wäre über alle Berge verschwunden.
Obwohl er sich in den letzten Wochen so seltsam verhalten hatte, hatte ich nie daran gedacht, Ed sich selbst zu überlassen. Er war die treuste Seele die ich kannte, er hatte so viel Liebe und Verständnis in sich, auch wenn er das nicht immer zeigte.
Dave gähnte erschöpft vor sich hin und hob kurz die Hand, um sich für die Nacht zu verabschieden. Er hatte einen Platz auf der anderen Seite der Felswand für sich auserkoren. Er war unbequeme Plätze sicherlich gewohnt.
Mein Vater hatte mir vor Jahren einmal erzählt, dass Schafschützen bis zu zweiundsiebzig Stunden wach und dabei voll auf ihr Ziel konzentriert bleiben können. Dabei lungerten sie manchmal in den engsten Ecken und bewegten sich keinen Zentimeter. In ihrer Ausbildung lernen sie eine spezielle mentale Übung, die sich Fantasie-Integration nennt. Sie denken sich ein Szenario aus, das sie in ihren Gedanken beschäftigt, jedoch verlieren sie dabei das Ziel nicht aus den Augen.
Und so schnell, wie Dave zu schnarchen begann, war der harte Felsboden höchstwahrscheinlich einer der komfortableren Plätze, die er in seinem Leben bereits für sich beansprucht hatte. Ich fragte mich, wo er schon überall gewesen ist und welches Elend er bereits gesehen hatte. Doch Dave machte mir nicht den Anschein, als würde er darüber reden wollen und ich war ohnehin viel zu feige, ihn zu fragen.
Oscar und Niall waren die einzigen, die sich noch unterhielten. Ich schälte mich aus meiner Jacke und zog meinen Pullover über, der mittlerweile trocken und warm vom Feuer war. Anschließend legte ich mich zwischen Hannah und Ed, die mir eine kleine Lücke gelassen hatten. Der harte Boden war eiskalt, jedenfalls kam es mir so vor. Mein Rucksack fungierte als Kissen und ich versuchte eine Position zu finden, bei der mir kein Stein schmerzhaft in die Seite bohrte. Neben mir schnarchte Ed selig vor sich hin und ich rückte ein Stück näher an ihn heran, sodass wir Rücken an Rücken lagen. Er hatte sich seine Jacke über die Schultern gelegt und lag mit dem Kopf zur Felswand. Hannah hatte einfach die Decke, die sie aus dem Flugzeug hatte mitgehen lassen, über sich geworfen. Als ich Hannah den nassen Stoff über den Arm zog, hoffte ich, dass Oscar und Niall noch eine Weile wach blieben, damit das Feuer uns noch ein wenig wärmte, bevor sie es löschten.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, als ich dort lag und mich versuchte zu entspannen. Die Gedanken fuhren Achterbahn in meinem Kopf, es war das reinste Chaos. Ich versuchte, an Zuhause zu denken. Daran, was Amy gerade wohl machte. In London war es gerade Nachmittag und Amy war sicher bei Lukas. Das hoffte ich zumindest, denn ich hatte nichts mehr von ihr gehört, seitdem sie mit angerufen und ungehalten ins Telefon geschnieft hatte.
Irgendwann wurden meine Augen schwer und ich zwang mich dazu, mich nicht mehr zu bewegen, damit ich einschlief. Am Rande nahm ich wahr, wie das helle Licht, das vom Feuer ausging, allmählich erlosch. Dann legte mir jemand etwas warmes und weiches über die Schulter und Sekunden danach, übermannte mich die Müdigkeit.
Als ich das nächste Mal wach wurde, war es gerade so hell, dass ich einen Schatten an der Felswand wahr nahm. Für einen Moment versuchte ich, meine Augen erneut zu schließen, denn ich war mir sicher, dass es noch viel zu früh war, um aufzustehen. Außerdem blinzelte ich einige Male und sah, dass sich um mich herum nichts regte. Doch je mehr ich versuchte noch einmal ins Land der Träume abzudriften, desto wacher wurde ich.
Umständlich richtete ich mich auf und sah, dass Dave bereits putzmunter in seinem olivgrünen Rucksack herumkramte. Mein Rücken machte sich deutlich bemerkbar und ich rieb mir verschlafen über die Augen. Ed hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Noch immer schnarchte er zufrieden, mit dem Gesicht zur Wand. Hannah war immer näher an mich heran gerutscht, denn ich tat mich schwer damit, mich zwischen den beiden herauszuquetschen, ohne, dass ich mich auf sie stützte.
Als ich es endlich geschafft hatte aufzustehen, rutsche mir etwas von den Schultern. Schnell fing ich es mit der linken Hand auf, bevor Hannah es ins Gesicht fiel. In den Händen hielt ich Nialls Sweatshirtjacke, die er in den vergangenen Wochen abends getragen hatte, wenn es kalt wurde. Ich kannte sie in und auswendig, denn er sah immer unheimlich niedlich aus, wenn er die dunkelblaue Jacke bis zum Kinn zu zog.
Ein kleines Lächeln erschien auf meinen Lippen, als ich über den weichen Stoff strich. Niall selbst lag zusammen gekauert ein paar Meter weiter weg und hatte die Beine angezogen. Da mir jedoch endlich wärmer war, entschied ich mich dazu, ihm die Jacke über die Schultern zu legen. Anschließend tappste ich auf leisen Sohlen zu Dave und setzte mich neben ihn.
Er hatte sich in der Zwischenzeit etwas weiter abseits unter den freien Himmel gesetzt. Der Boden war bei weitem nicht mehr so durchweicht, wie am Vortag und langsam glitzerte die Sonne durch die Baumkronen.
„Morgen", murmelte er mir entgegen.
„Guten Morgen, wie spät ist es?"
Er blinzelte auf seine Armbanduhr. „Kurz vor sechs", sagte er schließlich und musterte mich anschließend fragend. „So früh schon auf den Beinen?"
„Konnte nicht mehr schlafen", erwiderte ich lächelnd.
„Ihr habt mir gestern einen ganz schönen Schrecken eingejagt", sagte Dave mit gedämpfter Stimme. „Ihr seid ein komischer Haufen." Als ein breites Lächeln auf seinen Lippen erschien, musste ich grinsen.
Dave stapelte ein paar Äste auf einen Haufen und knüllte ein paar trockene Gräser in seinen Händen zusammen. Anschließend zog er ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete es an. Er schmunzelte und hielt mit der freien Hand seinen Zeigefinger an die Lippen. „Verrat das niemandem, Anuphap reißt mir den Hintern auf. Für Notfälle habe ich immer alles dabei und wenn er nicht da ist, mach ich das auf die handelsübliche Weise."
Ich versicherte ihm, dass ich ihn nicht verpfeifen würde. Aus seinem Rucksack holte er einen kleinen Metalltopf und er nahm mich mit an einen kleinen Bach, der einige Meter weiter am Fuße der Felsen lag.
„Wie lange dauert es, bis wir wieder am Parkplatz ankommen?", fragte ich ihn interessiert.
Dave hockte sich hin und füllte den kleinen Topf, sowie eine Plastikflasche, mit Wasser. „Um die zwei Stunden, wenn wir normal schnell gehen. Aber deine kleine Freundin hat so kurze Beine, da sind wir sicher drei Stunden unterwegs", sagte er lachend und spielte dabei auf Hannah an.
Ich konnte es kaum erwarten endlich meinen Koffer wieder zu haben. Einerseits hatten uns die letzten vierundzwanzig Stunden vielleicht zusammen geschweißt – jedenfalls was Ed und mich anging. Andererseits freute ich mich auf frische Klamotten und eine lange Dusche.
Als Dave den Rückweg zu den anderen antreten wollte, bat ich ihn darum, das ich noch einige Minuten dort bleiben konnte. Der kleine Bach war umgeben von Bäumen und wild bewachsenen Büschen. Still floss das Wasser durch den breiten Rinnsal. Um mich herum zwitscherten Vögel, ein leichter Wind blies durch die Blätter und ich ließ mich auf einem der Felsbrocken nieder. Ich musste Dave fast anbetteln, dass er mich hier einfach so sitzen ließ, doch nach einigen Protesten, marschierte er durch die Büsche davon („Dass du mir ja heile wieder zurück kommst").
Obwohl ich ziemlich übermüdet war, ließ ich es mir nicht nehmen, die schöne Gegend zu genießen. Gestern hatten wir dazu leider keine Chance gehabt, umso schöner fand ich die Stille und die Natur, die mich umgab. Ich roch den feuchten Waldboden und fühlte den leichten Wind auf meiner Haut. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Felsbrocken, lehnte mein Arme auf die Beine und stütze meinen Kopf darauf ab.
Meinem Vater hätte es hier definitiv gefallen. Als ich mir vorstellte, dass er womöglich Stunden hier verbracht hätte, jeden Stein umgedreht hätte, um alles genauestens unter die Lupe zu nehmen, musste ich lächeln.
„Ich hatte schon Angst, du bist wieder spurlos verschwunden."
Ich erschrak, als die vertraute Stimme plötzlich die Stille durchschnitt. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da hinter mir stand. Sofort begann mein Herz unkontrolliert drauf los zu hämmern. Konnte das alte rostige Ding sich nicht einmal zusammenreißen?
„Wenn du nicht weg gewesen wärst, dann wäre das gar nicht passiert", entgegnete ich matt.
„Ich hab' für ein paar Sekunden die Orientierung verloren, weil ich im Matsch stecken geblieben bin", sagte er. „Sag das nicht Ed, dem hab' ich gesagt ich musste pinkeln."
Seine Aussage brachte mich zum Lachen. Mit ein paar Schritten kam er näher und setzte sich anschließend wie selbstverständlich neben mich. In der Hand hielt er zwei Blechbecher, wovon er mir einen reichte. „Die anderen schlafen noch und ich hab' Dave dabei erwischt, wie er sich einen Instantkaffee gemacht hat. Du hättest mal sein Gesicht sehen sollen. Von wegen Heuschrecken grillen und von der Natur leben. Ich könnte schwören, er hat irgendwo noch ein Tankstellensandwich in seinem tollen Armyrucksack."
„Und dann hast du ihn in den Schwitzkasten genommen und ihm den Kaffee abgeschwatzt?", fragte ich lachend und nippte an der heißen Flüssigkeit. Schwarzer Kaffee lag mir nicht besonders, doch angesichts meiner Müdigkeit, war ich dankbar.
„Bei dem hätte ich nicht den Hauch einer Chance", ließ er mich grinsend wissen. „Er hat ihn mir in die Hand gedrückt, damit ich ihn nicht bei Anuphap verpfeife."
„Drei mal darfst du raten, wie professionell er das Feuer vorhin angemacht hat."
Niall lachte ungehalten drauf los. Ich mochte sein Lachen, das mir nach all der Zeit so vertraut war, dass ich nicht anders konnte, als mich ihm anzuschließen.
„Du hast mich also gesucht?", fragte er schließlich und wackelte mit den Augenbrauen.
„Weißt du was Zuhause los gewesen wäre, wenn Amys Liebling irgendwo im thailändischen Dschungel verschütt gegangen wäre?", sagte ich und ging nicht auf seine Provokation ein. Wieder lachte er. „Dann wäre das Geheule groß gewesen, das wollte ich mir selbst nicht antun."
Ein süffisantes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er genau wusste, wie er Frauenherzen zum Schmelzen bringen konnte. Sein freches Grinsen stand ihm unheimlich gut und er wusste es. Ich zwang mich dazu, ihn nicht weiter anzustarren, denn in der Morgensonne schienen mich seine blauen Augen förmlich zu durchbohren. Sein Haar war völlig platt gelegen und seine Wangen waren gerötet. Er sah unheimlich hübsch aus und am liebsten hätte ich ihn geküsst.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen, Charlie", sagte Niall.
„Wofür?"
„Ich bin eigentlich nicht der Typ, der mehrere Frauen an der Hand hat, das musst du mir glauben."
Umso schlimmer, dass es jetzt so war und mein Herz mir bis in die Hose rutschte, als er mich darauf ansprach. Ich sollte mich damit abfinden, doch so einfach war das nicht. Ich schluckte hart, als er fortfuhr.
„Ich mag dich sehr Charlie und ich würde die letzten Wochen um nichts in der Welt eintauschen, wenn ich könnte. Dieses – was das auch immer zwischen uns ist – werde ich nicht bereuen, ich hoffe das weißt du", sagte Niall. „Ich weiß nicht warum ich bei Melissa war. Vielleicht hatte ich einen im Tee, das ist keine Entschuldigung, ich weiß."
Mir wurde flau im Magen. Ich wollte nichts davon hören, was er mit Melissa getan hatte, es reichte mir völlig, dass ich wusste, dass er bei ihr gewesen war. Womöglich hatten sie die ganze Nacht gelacht und über vergangene Tage geredet. Schlagartig wurde mir schlecht.
„Es war ein Fehler, denn eigentlich wusste ich vorher schon genau, dass das in einer halben Katastrophe endet. Melissa ist einfach sehr anhänglich, jetzt ruft sie ständig an und will die Sache klären. Dass es da nichts zu klären gibt, versteht sie leider nicht. Denn es war nur Sex; unverbindlicher, bedeutungsloser Sex."
Dass die treudoofe Tomate sich wahrscheinlich Hoffnungen machte, weil der Vollidiot, der neben mir saß, mit seinem hübschen Gesicht ihr schöne Augen gemacht hatte, interessierte ihn anscheinend genau so wenig.
Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich keinen Hauch anders war, als Melissa. Ein Blick von ihm genügte und ich fiel erneut auf sein dämliches Grinsen rein. Niall hatte mir mehr als klar gemacht, dass dieses Freundschat-Plus Ding genau das war, was er im Sinn hatte. Nicht mehr und nicht weniger. Das einzige, was mich von Melissa unterschied war, dass ich keine Szene machte und dass es ihm gelegen kam, dass ich das einfach mit mir machen ließ. Aber wie konnte ich auch anders? Würde ich ihm sagen, dass ich mich in ihn verliebt hatte, war er sicher über alle Berge, bevor ich überhaupt ausreden konnte.
Und genau das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass er sich aus dem Staub machte. Lieber lief es genau so weiter und ich schluckte den großen Kloß in meinem Hals herunter, anstatt ihn jemals gehen zu lassen. Viel zu sehr genoss ich seine Nähe und die kleinen Dinge, die er für mich tat.
Zuhause sah das sicher ganz anders aus. Der Alltag würde mich wieder voll für sich beanspruchen, Niall wäre irgendwo auf einem anderen Kontinent und würde sein Ding durchziehen. Bevor ich mit der Tür ins Haus fiel, wollte ich zumindest die letzten zwei Wochen mit ihm voll ausnutzen, ihn bei mir haben und mir für ein paar Sekunden vorstellen, wie es wäre, wenn er das gleiche für mich empfand.
„Es ist einfach so, dass-", fuhr Niall fort, doch ich unterbrach ihn, indem ich meine Hand hob. Nicht eine Minute länger wollte ich mir anhören, was er zu erzählen hatte. Krampfhaft versuchte ich ein paar Mal tief durchzuatmen, denn sonst würde mir sicher die Luft wegbleiben.
„Du musst dich für nichts rechtfertigen, Niall", sprach ich ruhig. In meinem Kopf hämmerte mein Puls gegen die Schädeldecke, am liebsten wäre ich abgehauen, doch seine Augen hielten mich an Ort und Stelle. „Du kannst tun und lassen, was du willst."
Ich verfluchte mich selbst, dass ich ihn anlog und ihm weismachen wollte, dass das alles mir nichts ausmachte. Doch für mich selbst hatte ich den Entschluss gefasst, dass ich lieber etwas vorgab zu sein, anstatt ihn nicht wieder zu sehen.
Viel zu sehr liebte ich das Gefühl, das er mir gab.
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Viel zu lang ist es her, deshalb kommt am Dienstag direkt das neue Kapitel, das ich schon vorgeschrieben habe. Ich hoffe ihr habt ein schönes Wochenende :)
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