28 » Der längste Tag
C H A R L I E
Khao Sok, Februar 2016
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Ich konnte es fühlen. Ich konnte spüren, wie die Wut meiner Freunde gegenüber langsam immer mehr in mir anstieg und ich war zu neunzig Prozent sicher, dass einer von uns an diesem Abend noch im Lagerfeuer landete. Und wenn das nicht zufällig passierte, dann würde ich mich eigenhändig darum kümmern. Vorher musste der erbärmliche Holzhaufen in unserer Mitte, der eher einem Scheiterhaufen glich, erst einmal an sein. Und das erwies sich als äußerst schwierig.
„Meine Fresse, Hannah, hast du noch nie Bear Grylls geguckt oder was? Du machst das falsch, lass mich mal ran." Und prompt hatte Ed ihr den zugespitzten, dünnen Ast aus den Händen gerissen und hockte nun neben dem Scheiterhaufen. „Die Scheiße kann doch nicht so schwer sein."
Skeptisch, und fast schon belustigt, beobachteten Oscar und Dave, der sich mir schon auf dem Parkplatz als Dolmetscher vorgestellt hatte, das, was gerade geschah. Anuphap, der den Kurs leitete und ungefähr um die Siebzig war, musterte Ed kritisch und runzelte angestrengt die Stirn. Ich war froh, dass Dave dabei war, der nebenbei bemerkt ein ehemaliger Schafschütze der Army war. Ohne ihn würden wir sicher nichts davon verstehen, was Anuphap uns eigentlich zu erzählen versuchte, denn er war weder unserer Sprache mächtig, noch gab seine Gestik Schlüsse darauf, was wir tun sollten.
Je länger der Thailänder dem Rothaarigen dabei zusah, wie er vergeblich versuchte, ein paar Funken entstehen zu lassen, desto mehr kleine Fältchen bildeten sich auf seiner Stirn. Er war kaum größer als einen Meter Fünfzig und war für sein Alter noch ziemlich fit. Erst vor ein paar Stunden hatte er uns gezeigt, wie er mit nur vier Schlägen und einem alten Buschmesser eine Kerbe in einen Bambusstamm schlug, um an Trinkwasser zu gelangen.
„Warum bist du nicht mehr bei der Army, Dave?"
Nialls Stimme holte mich schlagartig zurück in die Realität. Ich war froh, dass er dabei war, denn er verhielt sich halbwegs normal, was ich von meinen besten Freunden nicht gerade sagen konnte.
„Die Psyche", erwiderte Dave schlicht. Er war kaum dreißig und im Gegensatz zu Anuphap, der neben ihm stand, ein echter Riese. Er trug ein olivgrünes Muskelshirt, welches Sicht auf seine zahlreichen Tattoos freigab.
Hannahs Kopf schnellte in die Höhe. So wie ich sie kannte, dachte sie womöglich gerade daran, ob er uns vielleicht mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf trennen konnte. Sie dachte bestimmt, dass ein Ex-Army-Mitglied mit psychischen Problemen nicht gerade der beste Begleiter war, um in der Einöde zu überleben.
„Also nicht, dass ihr denkt ich höre Stimmen oder habe multiple Persönlichkeiten", schob Dave schnell hinterher. „Es gibt Dinge, die ich gesehen habe, die lassen mich nachts nicht mehr ruhig schlafen."
„Und hast du nach deiner Zeit bei der Army gemacht? Also, bevor du hierzu gekommen bist?", fragte Niall daraufhin. Ed hatte immer noch keinen Erfolge, auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen und er fächerte sich zwischendurch immer wieder selbst Luft zu.
„Fliesenleger", erwiderte Dave trocken. „Mein alter Herr ist selbständig und ich habe eine Weile ausgeholfen."
„Bald dunkel", quatsche Anuphap plötzlich dazwischen und schaute zu Ed. „Feuer machen."
„Er hat recht, Ladies. Bevor es stockduster wird, sollten wir noch ein bisschen Holz besorgen, damit wir nachher nicht los müssen und uns die Kragenbären holen", fügte Dave hinzu.
„Kragenbären", mischte Hannah sich ein, „das hört sich süß an."
„Vertu' dich mal nicht, Mädchen", entgegnete Dave, „die Teile können sich ganze Wasserbüffel reißen und machen sicher keine Kompromisse, wenn sich vor so einem zarten Lamm wie du es bist, stehen."
Neben dem vermeintlichen Lagerfeuer begann Ed lauthals an zu lachen. Prompt hob Hannah einen kleinen Kiesel vom Boden auf und traf Ed damit am Oberarm. Dieser beschwerte sich sogleich und bereitete sich zum Gegenangriff vor.
„Schluss mit dem Affentheater." Daves dunkle Stimme brachte die beiden dazu, dass sie in ihrer Bewegung verharrten. „Meine Güte, das ist ja zum kotzen mich euch beiden. Reißt euch mal zusammen."
Daraufhin sagte er nochmal in die Runde, dass es Zeit wurde endlich Holz zu holen. Oscar meldete sich sofort als Freiwilliger und gesellte sich zu Dave. Dieser beäugte Ed, der nahe dran war, einen Schweißausbruch der Extraklasse zu erleiden.
„Ich kann mitkommen", bot ich an und stand von dem dicken Stein auf, auf dem ich bis dato gesessen hatte. Doch Dave schüttelte den Kopf und winkte ab.
„Bleib du mal mit Blondi hier und kümmere dich darum, dass wir nachher nicht im Dunkeln sitzen", sagte er trocken. „Ich nehme Oscar, die Dramaqueen und das Arschgesicht da drüben mit."
Neben mir schmunzelte Niall sich einen zurecht und nahm Eds Platz am Feuer ein. Dabei schob er den Rothaarigen unsanft zur Seite. Dann stand Ed auf und plusterte sich unnötig auf. „Wir sind hier nicht bei der Army, ich muss hier erst mal gar nichts."
Obwohl wir Dave nicht kannten und ich mir nicht sicher war, ob er uns nicht im Wald zurück ließ, wenn man ihm weiter auf der Nase herumtanzte, fand ich seine direkte und schroffe Art herrlich amüsant.
„Abflug", sagte Dave zu Ed und forderte ihn auf, sich zu bewegen. Kurz darauf verschwanden die vier im dichten Gebüsch, Hannah trottete hinter ihnen her und ich hörte sie noch einige Sekunden lang vor sich hin meckern. Somit waren es nur noch Anuphap, Niall und ich.
„Stille", hörte ich Anuphap erleichtert sagen, was mich dazu brachte zu lächeln.
Anstatt die Gegend zu genießen, hatten die beiden Streithähne nichts besseres zutun, als sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Dabei war es hier wunderschön. Es war zwar brühend heiß (die Luftfeuchtigkeit hier betrug momentan über achtzig Prozent), doch das störte mich überraschenderweise nicht im geringsten.
Die Gegend war atemberaubend. Vom Parkplatz hier her hatten wir knapp eine Stunde gebraucht. Dabei hatte Dave Anuphaps Erzählungen übersetzt.
Die Gegend war berühmt für ihre atemberaubenden Kalksteingebirge, die aus der Erde emporragen und mit dichtem Urwald bewachsen waren. Dave erzählte, dass es hier vielfältige Tiere und Pflanzen gab und welchen davon wir lieber nicht zu nahe kommen sollten. Im Regenwaldgebiet sollen über hundert wilde Elefanten leben, aber auch eine Vielzahl an Insekten, Wildschweinen und sogar Tigern. Mit etwas Glück konnte man sogar Makaken oder Nashornvögel sehen.
Dave erzählte uns von der Rafflesia, welche die größte Blume der Welt war. Mit ihrem ekelerregenden Geruch lockt sie Insekten an, die die Pflanze dann bestäubten. Ihre Spannweite soll über einen Meter betragen und mit ihrer roten Farbe schon fast unnatürlich aussehen.
Es gab unzählige Wanderwege, riesige Wasserfälle, Höhlen und Bäche. Überall hörte man die Vögel zwitschern oder etwas, das im Gebüsch raschelte. Es gab so viel zu entdecken, doch Hannah und Ed wussten das wohl überhaupt nicht zu schätzen. Deshalb war ich umso dankbarer, dass ich für ein paar Minuten meine Ruhe hatte. Das sah Anuphap anscheinend genau so, denn er setzte sich erleichtert auf einen der dicken Steine, am Rande eines großen Baumes.
Ich hockte mich zu Niall und beobachtete ihn dabei, wie er in aller Ruhe den Dünnen Ast in seinen Händen hin und her zwirbelte. Es war niedlich, wie sehr er versuchte, ein paar Funken zu entfachen. Er hatte seine Zunge raus gestreckt und starrte Konzentriert auf die Holzspäne auf der flachen Rinde, auf dem er den Ast rieb.
„Was läuft bei den beiden eigentlich schief?", fragte er abwesend, als ich mich im Schneidersitz ihm gegenüber setzte.
„Ich weiß nicht", erwiderte ich. „Die beiden gehen schon seit ein paar Tagen gegenseitig aufeinander los."
„Genieß' die Ruhe, ich wette es geht wieder los, wenn die beiden zurück sind."
Zu meinem Erstaunen schaffte es Niall recht schnell ein paar Funken zu entfachen. Nach zwei gescheiterten Versuchen, in denen er nur Qualm produzierte und die Flamme, die kurz darauf entstand, wieder erstickte, hatten wir bald darauf eine richtige Flamme und Anuphap lobte ihn mit einem aufrichtigen Schulterklopfen.
Bei unserem Marsch hier her hatte der Thailänder zwei kleine Vögel mit einem Bogen erwischt, die er nun ein paar Meter weiter weg von den Federn befreite. Mit Händen und Füßen erklärte er uns, worauf man dabei achten musste und ich lehnte höflich ab, als er mir das leblose Tier vor die Nase hielt, damit ich selbst ein paar Federn zupfte. Ich war zwar nicht wirklich zimperlich, aber das musste auf leeren Magen nicht sein. Anschließend zeigte er uns, wie man ein paar Heuschrecken fing und spießte sie auf einen dünnen Stock auf.
Zwischendurch verschwand Anuphap immer wieder im dichten Gebüsch, um mehr Insekten anzuschleppen. Währenddessen machten Niall und ich uns auf einem massiven Baumstamm gemütlich und stocherten mit einem Ast im Feuer.
Mein Herz machten einen riesen Satz, als Anuphap erneut verschwand und Niall urplötzlich seine Lippen auf meine Lippen legte. Jedes mal, wenn er mich küsste, fühlte es sich an, als wäre es das erste mal, so sehr kribbelte es in meinem Bauch.
Ich spürte seine Finger, die sanft an meinem Arm entlang fuhren und als er sich kurz löste, brachte er mich mit seinen Worten zum lachen.
„Charlie?", sagte er leise. Dann lehnte er sich zurück und zog die Augenbrauen zusammen, gerade als Anuphap wieder zurück kam. „Hast du es schon mal im mit jemandem im Dschungel getan?"
Erst musste ich lauthals lachen, doch als Anuphap näher kam, verstummte ich. Niall versicherte mir, dass eh nicht verstand, was er gesagt hatte, doch ich war nicht gerade scharf darauf, dass die anderen vielleicht aus dem Gebüsch sprangen und uns erwischten.
Erst als das Feuer schon eine geschlagene Stunde vor sich hin fackelte, kamen die anderen aus dem Dickicht zurück und gesellten sich zu uns. Dave verteilte ein paar Survival-Kits an uns alle, die wir für einen kleine Aufpreis sogar behalten durften.
Darin enthalten waren Metallbesteck, ein Teller, ein Becher, ein Regenponcho für alle Fälle, eine große Plastikplane, ein Messer, eine zusammenfaltbare Plastikflasche und ein Kompass. Ich war mir fast sicher, dass wir die Hälfte der Sachen überhaupt nicht brauchen würden.
Zu diesem ganzen Abenteuer gehörte auch, dass Dave einige Wurfzelte parat hatte, die er vorhin, gemeinsam mit Oscar, auf dem weichen Boden aufgestellt hatte. Insgesamt waren es drei und ich bekam schon jetzt Bauchschmerzen, wenn ich daran dachte, mir ein Zelt mit Hannah zu teilen.
Ich ließ mich von Niall dazu überreden, eine gut geröstete Heuschrecke zu essen. Ein wenig ungewöhnlich war es schon, aber wenn ich schon mal hier war, dann war es für mich selbstverständlich, dass ich mich so was traute. Entweder ganz oder gar nicht; das war anscheinend heute mein Motto.
Für einen langen Augenblick herrschte Frieden, als wir gemeinsam am lauschigen Feuer saßen. Zwar hatten wir hier kein fünf Sterne Menü vor uns stehen, doch außer Hannah schien das zunächst niemanden zu stören. Die weigerte sich nämlich strickt dagegen etwas zu probieren, was Anuphap ihr unter die Nase hielt.
Viel zu früh kam jedoch die Ernüchterung, denn plötzlich fing auch Ed an zu nörgeln. Niall und ich ließen fast synchron die Metalllöffel sinken und seufzten genervt.
„Also satt macht mich das ja nicht gerade", ließ Ed verlauten und betrachtete genauestens die kleine Heuschrecke zwischen seinen Fingerspitzen.
„Vielleicht solltest du weniger schlafen und mehr essen", blökte Hannah los. „Dann hättest du wenigstens gestern gefrühstückt oder im Flugzeug ein Sandwich gegessen."
„Und du solltest deine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die dich nichts angehen", sagte Ed.
Neben mir nuschelte Dave etwas unverständliches, aber ich war mir sicher, dass es in etwa so etwas war wie: „Ich verlege lieber wieder Fliesen, das hält doch keiner aus. Kann denen mal jemand das Maul stopfen?"
Einem von uns würde gleich definitiv der Kragen platzen, das hatte ich ganz stark im Gefühl.
„Es scheint so, als hätte euer Ärger den Ursprung in eurer gemeinsamen Vergangenheit", bemerkte Oscar. „Ich finde das kontraproduktiv für's Gemeinschaftsgefühl. Habt ihr eine Idee, wie wir diesen ganzen Ärger auflösen können?"
Plötzlich erhellte sich Hannahs Gesicht und sie setzte sich gerade hin. „Mein Freund Kenoah hat mal von einer hawaiianischen Tradition erzählt. Sie heißt Ho'oponopono und ist-"
„Schieb' dir dein scheiß Hono-was-auch-immer doch einfach sonst wohin und halt um Gottes Willen einfach mal die Fresse", brüllte Ed los. Das leise Genuschel von Dave verstummte schlagartig, absolute Stille herrschte und in der Entfernung hörte man ganz deutlich die Grillen zierpsen.
Niall war der erste, der sich regte, während mir die Kinnlade nach unten klappte. „Jetzt komm' mal wieder runter."
„Sag du mir nicht was ich zu tun und zu lassen habe, Niall", schoss Ed zurück. „Warum macht ihr beiden euch nicht einfach vom Acker und ich fliege nach Hause, dann haben wir alle unsere Ruhe. Und Hannah könnt ihr gleich mitnehmen" Dabei zeigte er abwechselnd auf mich und Niall. Mir wurde flau im Magen und im Augenwinkel sah ich Hannah, die mich skeptisch betrachtete.
Bevor Niall oder ich darauf etwas erwidern konnten, fügte Ed hinzu: „Ach, kommt schon. Denkt ihr, ich weiß nicht Bescheid? Ich bin vielleicht kurzsichtig, aber nicht blind. Ich sehe doch, wie ihr beiden euch anguckt. Ist doch klar, dass ihr was am Laufen habt."
„Zeit zu verschwinden", verkündete Dave trocken und klopfte Oscar und Anuphap auffordernd auf die Schultern. Kurz darauf waren sie im Gebüsch verschwunden und wir saßen zu viert dort.
Erneut wurde es still. Ich fühlte die Hitze in mir aufsteigen und mein Herz begann zu rasen. Während der Erdboden sich jedoch weigerte mich zu verschlucken, begann Hannah schwer zu atmen und blökte erneut los: „Du bist echt ein Arschloch, Niall, ich dachte echt du bist anders."
„Halt mal die Luft an", mischte ich mich endlich ein. „Wir sind alt genug. Nur weil du meinst, mich mit Aaron zu verkuppeln, muss ich da nicht mitspielen."
„Das meine ich nicht", sagte sie nun deutlich ruhiger. „Ich rede davon, dass der werte Mr Horan anscheinend nicht genug mit nur einer Frau hat. Hab ich recht, Niall?"
Ich hatte keinen blassen Schimmer wovon sie redete, doch als ich Niall ansah und bemerkte, wie still er plötzlich wurde, da rutschte mir beinahe das Herz in die Hose.
„Was zur Hölle meint sie damit, Niall?", fragte Ed an den Blonden gewandt, ohne Hannah auch nur eines Blickes zu würdigen. Ohne ein Wort ließ Niall seinen Teller zu Boden fallen und erhob sich. Kurz darauf war er in der Dunkelheit verschwunden, ließ mich zurück. Ohne Erklärung.
„Ich habe ihn auf Marthas Party mit Louis reden hören", erklärte Hannah, als Niall endgültig aus unserem Sichtfeld verschwunden war. „Scheint so, als hätte er einen nächtlichen Spaziergang gemacht und ist dann aus Versehen nackt in eine andere Frau hinein gestolpert."
In meiner Magengegend zog sich alles zusammen und mir wurde schlagartig eiskalt. Ich hatte das Gefühl, dass der Schein des hellen Feuers vor meinem Augen verschwamm, doch ich bemerkte früh genug, dass sich Tränen in meinen Augenwinkeln bildeten. Die Blöße wollte ich mir vor meinen Freunden nicht geben, also räusperte ich mich und wandte mich ab.
„Der kann sich warm anziehen", sagte Ed und stand auf.
„Du bist auch kein Unschuldslamm, also spiel' dich hier nicht so künstlich auf", meinte Hannah. „Wenn wir hier schon ein paar Sachen aufdecken, dann solltest du deiner vermeintlich besten Freundin vielleicht erzählen, was du dir täglich rein schmeißt, weil du nichts auf die Reihe kriegst."
Abrupt drehte ich meinen Kopf in seine Richtung und starrte ihn an. Warum wusste hier anscheinend jeder über jeden Bescheid? Nur ich saß dort wie bestellt und nicht abgeholt.
Ging es hier um Drogen? Dass Ed sich hin und wieder einen Joint gönnte, war kein Geheimnis, aber ich hätte ihm nie zugetraut, dass er weiter ging. War er deshalb so erschöpft? Hatte Niall nicht nur mit mir geschlafen? Wo zur Hölle steckte er eigentlich?
Als Ed das Weite suchte, hatte ich das Gefühl, dass sich die ganze Welt gegen mich verschworen hatte. Neben dem schmerzhaften Ziehen in meinem Magen, bekam ich nun auch noch grauenhaftes Heimweh.
Ich wusste nicht, was mich in diesem Moment zum Weinen brachte. Doch ich tat es einfach.
Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass Hannah mir gegenüber saß und mich mitleidig ansah. Dass wir uns in den letzten zwei Tagen nur angeschwiegen hatten, weil ich sauer war, dass sie sich bei Amy verquatscht hatte. Eine Tatsache, die natürlich im Nachhinein betrachtet eher lächerlich war. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass es mich rasend machte, wie sie sich verhielt oder einfach, weil ich es nicht leiden konnte, dass sie seit Tagen nur von Kenoah schwärmte.
Vielleicht lag es daran, dass mir die Sache mit Ed nun noch mehr Bauchschmerzen bereitete, als zuvor. Ich machte mir wahnsinnige Sorgen um ihn, ich wollte nicht, dass er damit allein war und trotzdem hatte ich nicht den Mut ihn zu schütteln und ihn dazu zu bringen, mir endlich zu erzählen, was los war.
Ich hatte keine Ahnung, ob es daran lag, dass ich nicht wusste woran ich bei Niall war. Oder ob es deswegen war, weil ich nicht die einzige war, die seine Gesellschaft genoss; in welcher Hinsicht das auch immer sein mochte. Eigentlich sollte mich das nicht so herunter ziehen, denn schließlich hätte ich mir denken können, dass Niall niemals das fühlen würde, was ich für ihn fühlte.
Aber vielleicht weinte ich auch einfach nur, weil ich mich selbst gerade so wahnsinnig fehl am Platz fühlte.
Ich hasste mich dafür, dass ich sauer auf Hannah war, nur weil ich so blöd war und meiner Schwester etwas verschwiegen hatte. Immerhin war ich selbst schuld, denn ich wusste genau, dass sie es früher oder später sowieso heraus gefunden hätte. Und wer wusste schon, wie groß der Ärger dann gewesen wäre.
Ich hasste es, dass Amy nicht auf meine Anrufe reagierte und dass sie mich damit bestrafte. Ich wollte nach Hause und ihr alles erklären. Ich vermisste es, dass wir uns – obwohl sie so viel jünger war, als ich – immer alles erzählten.
Ich hasste den Gedanken daran, dass ich bald in diesem schrecklichen Cafe anfangen würde, indem ich mich nicht wohlfühlen würde. Ich wünschte mir, dass Mrs Clark den Laden niemals geschlossen hätte, damit ich nach meinem Abenteuer in aller Ruhe wieder an die Arbeit gehen konnte.
Ich hasste es, dass ich nicht gemerkt hatte, dass Ed anscheinend größeren Kummer hatte, als ich geahnt hatte. Dass ich ihn so oft allein gelassen hatte, verärgert war, weil er nicht mehr so war, wie früher. Ich hasste mich dafür, dass ich nicht für ihn da war, als er mich wahrscheinlich am meisten gebraucht hatte.
Aber am meisten hasste ich es, dass mir Niall unbewusst so weh tat. Ohne dass er es wusste, hielt er mein angeschlagenes Herz fest in seinem Griff. Und ich wusste genau, dass wenn das aufhörte, wenn wir wieder Zuhause waren, dass es mir das Herz brechen würde. Ich wollte nicht damit aufhören. Ich wünschte mir so sehr, es wäre für immer so geblieben, wie in der Nacht, als Niall und ich im Flowerdale Estate waren.
Doch plötzlich schien das alles viel zu weit von mir entfernt. Ganz so, als würde er sich von mir entfernen und ich konnte nichts dagegen tun.
Und als wäre das alles nicht genug, fing es schlagartig an zu regnen und die dicken Regentropfen fielen durch die dicht bewachsenen Baumkronen geradewegs auf uns hinab.
Während Hannah hektisch auf stand und nach einem Unterschlupf Ausschau hielt, blieb ich wie angewurzelt sitzen und starrte auf das Feuer, dessen Flammen immer kleiner wurden und nach wenigen Sekunden ganz erlischten.
„Auf was wartest du, Charlie?", brüllte Hannah mir entgegen. Der Platzregen war so ohrenbetäubend laut, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. „Steh auf!"
„Ist doch nur Regen", entgegnete ich.
Von weitem sah ich Niall, der hastig angelaufen kam und schlagartig stehen blieb, als er mich dort sitzen sah. Wenigstens konnte er wegen dem Schauer nicht sehen, dass ich wie ein Schlosshund heulte.
Je mehr Tropfen vom Himmel hinab fielen, desto mehr verschwamm alles vor meinem Auge. Doch als ich sah, dass Niall dort stand und mich stumm ansah, da hatte ich das Gefühl, ich würde ihn klar und deutlich vor mir sehen. In diesem Augenblick bildete ich mir ein, meinen Puls zu hören. Es fühlte sich an, als würde er kontinuierlich gegen meine Schläfen hämmern; immer und immer wieder.
„Packt euer Zeug zusammen, es sieht nach Unwetter aus." Daves markante Stimme hörte ich klar und deutlich, obwohl er hinter Niall stand und der Regen unaufhaltsam auf die Blätter prasselte.
"Nun steh' doch endlich auf", hörte ich Hannah sagen, die nun dicht vor mir stand und mir die Hand reichte.
Wie in Zeitlupe ließ ich mich von ihr hochziehen und stolperte ihr hinterher. Als ich an Niall vorbei spazierte, schaute ich starr auf den Boden. Ich wollte auf gar keinen Fall preis geben, dass es mich verletzte, obwohl es das nicht tun sollte.
Hastig kramte Hannah ihre Sachen in den Rucksack und ich tat es ihr gleich. Als der erste Windstoß durch die Äste pfiff, da drängte Dave uns dazu, dass wir uns beeilen sollten, denn mit einem Mal zog sich die Wolkendecke über uns noch mehr zusammen und tauchte alles in ein warmes Gelb.
Immer wieder versuchte ich durch den dichten Regen zu erkennen, wo Niall war, doch er stand nicht mehr dort, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Ich war in Sekundenschnelle bis auf die Knochen durchnässt, die nassen Klamotten fühlten sich grässlich schwer an meinem Körper an.
Ich zögerte einen Moment, als Dave uns dazu drängte uns zum Gehen zu bewegen, doch als ich Hannahs angestrengtes Gesicht musterte, schwang ich mir den Rucksack über die Schultern und stiefelte hinter ihr her. Als der erste Blitz den Himmel erhellte, zuckte ich zusammen, ich tat alles, um auf dem unebenen Boden nicht zu stolpern. Ich schaute zurück und beobachtete, wie das erste Zelt abhob und zwei Meter weiter an einen Baum prallte. Der Wind pfiff nur so durch den dicht bewachsenen Wald, pfiff in meinen Ohren.
„Etwa zehn Minuten von hier sind ein paar schmale Felsen an denen wir unterkommen können, bis das Schlimmste vorbei ist", hörte ich Dave zu uns herüber brüllen. Er stand bereits an einem schmalen Pfad, auf dem wir erst vor wenigen Stunden hier her gekommen waren.
Ich sah Ed, dessen rote Haarsträhnen platt an seiner Stirn klebten. Dann sah ich Hannah, die ausnahmsweise viel ruhiger zu sein schien als ich. Es war seltsam, denn sonst war sie die erste von uns beiden, die leicht in Panik geriet. Doch anders als sonst, bewahrte sie Ruhe, nahm meine Hand und verschränkte ihre zierlichen Finger mit meinen.
Oscar schaute konzentriert auf seinen Kompass und lief einige Schritte vor, als wir die kleine Stelle verließen. Viele Male wischte er mit seinen Finger darüber und schaute sich dann um. Anuphap winkte hektisch und teilte uns stumm mit, dass wir ihnen folgen sollten. Er hatte solch eine Situation sicher schon oft erlebt und ein bisschen war ich schon froh, dass er sich im Gegensatz zu uns mit Extremen auskennen zu schien.
Als wir den schmalen Weg entlang gingen, ließ Hannah meine Hand los. Ich schaute starr auf den Boden, um nicht an einer Wurzel hängen zu bleiben. Und als ich mich nach hinten umsah, sah ich Niall, der als letzter in der Reihe hinter mir her trottete.
In diesem Moment wünschte ich mir, dass ich nie davon erfahren hätte. Dass alles für mich so wäre, wie es heute morgen noch war. Dann hätte er jetzt vielleicht sogar meine Hand genommen und ich hätte mich sicher gefühlt. Und für einen Moment wünschte ich mir, er würde es trotzdem tun. Nur noch einmal, damit ich glücklich war und mich nicht so allein fühlte.
Doch er tat es nicht.
Aber statt weiter darüber nachzudenken, hallte Daves Stimme durch den ganzen Wald und ließ keine Zeit zum Träumen. Noch immer pfiff der Wind und ließ mich frösteln. Es fiel mir schwer, dem schnellen Schritt der anderen Stand zu halten, immer wieder stolperte ich über meine eigenen Füße. Den dicken Kloß in meinem Hals versuchte ich herunter zu schlucken so gut es ging, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Der nächste Blitz schlug ein, kurz darauf folgte ein lautes Donnern, das mein Herz schneller schlagen ließ.
Ich hatte nie Angst vor Gewitter gehabt. Zuhause in London setzte ich mich sogar mit einer heißen Tasse Tee ans Fenster und beobachtete mit einem Lächeln auf den Lippen das Getöse hinter der Scheibe. Für mich war es entspannend dieser Naturgewalt zuzuschauen, doch hier in der freien Natur, mitten im Wald, hatte ich Respekt. Ein Blitz an der falschen Stelle, zur falschen Zeit, und das ganze konnte ein böses Ende nehmen.
Der Regen wurde schlimmer, das Gewitter kam immer näher. Mit jeder Minute verringerte sich der Abstand zwischen Blitz und Donner und ließ fast den Erdboden unter uns beben.
Vor mir erkannte ich nur noch Hannah, die immer schneller wurde und bald fast gänzlich aus meinem Blickfeld verschwand. Ich versuchte mich dem schnellen Marsch anzupassen, konzentrierte mich einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch dass Dave – als Ex-Soldat – unsere kleine Gruppe anführte, machte es mir nicht leichter, die anderen einzuholen.
Meine Lunge brannte wie Feuer, der Rucksack auf meinen Schultern wurde immer schwerer und als ich mich umdrehte, blieb ich wie angewurzelt stehen. In mir machte sie Panik breit, mein Herz drohte aus meinem Brustkorb zu entfliehen und ganz plötzlich dachte ich für keine Sekunde mehr daran, dass um mich herum ein Unwetter tobte.
Niall war verschwunden.
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Wie versprochen kommt hier das nächste Kapitel. Ich hoffe ja, dass es euch gefällt. Danke für eure tolle Unterstützung, das muss ich einfach immer wieder erwähnen :)
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