Prolog
Im Sommer jenes Jahres
Ich rannte.
Ich lief so schnell, wie meine Füße mich nur tragen konnten.
Der unebene Waldboden war Schuld daran, dass mein Weg zu einer reinen Tortur wurde. Die Bäume flogen nur so an mir vorbei, doch ich nahm sie nicht wahr. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit, die mich umgab und die Tränen in meinen Augen sorgten dafür, dass ich kaum noch etwas erkennen konnte.
Ich streckte meine Arme weit von mir, um mögliche Hindernisse zu ertasten, doch im nächsten Augenblick senkte ich sie wieder. Ich brauchte all meine Kraft, um zu rennen, um zu fliehen.
Der Gedanke an eine Fluht trieb mir die Gänsehaut auf meinen Leib. Die Panik schien mich zu überrollen und um sie zu unterdrücken, steigerte ich mein Tempo. Meine Gedanken kreisten somit um die wachsende Anstrengung, mein pochendes Herz, meine stechende Lunge.
Ich müsste es bald geschafft haben. Nicht mehr lange. Es konnten sich nur noch um wenige hunderte von Metern handeln.
Plötzlich fand ich mich auf dem Waldboden wieder, die Hände tief in dem Laub vergraben. Um mich herum verschwammen die Bilder, so dass ich blinzeln musste. Ich rieb mir den Kopf und versuchte das Gefühl der aufkommenden Ohnmacht von mir zu schieben.
Einatmen. Ausatmen.
Tief und langsam.
Der kühle Sommerregen half mir, die Besinnung über meinen Geist zurück zu erlangen.
Allmählich beruhigte sich mein Kreislauf und das rasselnde Geräusch meiner Kehle verstummte.Fluchend blickte ich auf meine roten Hände und meine aufgeschlagenen Knie herab. Mein weißes Kleid war völlig verdreckt. Schlamm, Schweiß und Blut bildeten eine widerwärtige Mischung und als ich den stechenden Geruch aufsog, zog sich mein Körper zusammen.
Ich wollte nicht aufstehen, nicht rennen. Die Müdigkeit ermöglichte es mir kaum noch die Augen offen zu halten und die letzte Trauer trieb mir Tränen des Schmerzes in die Augen. Doch ich konnte hier nicht bleiben. Ich musste verschwinden, für immer von diesem Ort Abschied nehmen.
Mühselig kämpfte ich mich auf, wobei ich gefährlich schwankte.
Meine nackten Füße schmerzten bei der Berührung mit den Tannennadeln und Ästen auf dem Boden. Meine Sandalen hielt ich in der Hand. Ich durfte nichts verlieren, nichts zurück lassen, was mich verdächtig erschienen ließ. Woran auch nur ein Mensch sehen konnte, dass ich in der heutigen Nacht an diesem Ort gewesen war.
Ich rannte weiter.
In naher Ferne konnte ich vereinzelte Lichter der Straßenbeleuchtung sehen. Um mich herum war alles still. Den Fluss hatte ich schon lange hinter mir gelassen und die gerade Landstraße war zu dieser Uhrzeit nicht befahren.
Die Stille ängstigte mich. Es schien, als würde die Welt um mich herum still stehen.
Endlich erblickte ich mein schwarzes Auto. Es stand einsam und verlassen auf dem Parkplatz, den ich nun erblickte. Bereit für die Flucht, genauso wie ich.
Nur noch wenige Meter trennten mich von ihm. Ich rannte schneller.
Die Angst stand mir in das Gesicht geschrieben und meine Lunge brannte vor Anstrengung. Ich musste weiter, ich musste fort von hier. Für immer verschwinden. Alles hinter mir lassen.
Keuchend ließ ich mich auf den schwarzen Sitz meines Ford Focus' fallen und schnappte nach Luft. Mein Brustkorb hob und senkte sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Ein Blick auf meine Füße zeigte mir, wie aufgescheuert sie waren. Rot und so voller Blut. Es war zu viel. Meine Gefühle übernahmen die Kontrolle über mich und laut schluchzend fiel ich vorne über, mitten auf das Lenkrad.
Ich konnte nicht nach Hause fahren und weiter leben wie bisher. Nicht mit dieser Schuld. Es war unmöglich. Was würde Mutter von mir denken? Sie würde mich hassen. Sie würde mich verabscheuen. Vermutlich noch mehr, als ich es selbst schon tat.
Mit zitternden Fingern versuchte ich den Schlüssel in das Zündschloss zu stecken. Meine geröteten und tränenüberströmten Augen richtete ich auf die Straße und obwohl ich wusste, dass es verantwortungslos war in meinem Zustand noch zu fahren, gab ich Gas. Die Steine des Kiesel Parkplatzes sprangen zur Seite, als ich das Gaspedal durchdrückte und auf die Straße einbog.
80. 100. 120.
Die Geschwindigkeitsanzeige stieg rasant an. Eine kleine Lenkung nach links und alles wäre vorbei. Ein Fehler und ich konnte meine Schuld vergessen. Ich wäre weg, einfach nicht mehr da. Verschwunden. Für immer vergessen.
Ich fuhr blind die Straße entlang, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Ich war so müde, doch ich konnte mich der Müdigkeit nicht hingeben. Auch wenn ich es kaum noch schaffte, musste ich mich auf die Straße konzentrieren und die aufsteigende Übelkeit ausblenden.
Vor mir wurde die Autobahnausfahrt ausgeschildert. Kräftig trat ich in die Bremsen und schrie bei dem Schmerz meiner blutenden Fußballen auf.
Doch es war gut. Der Schmerz würde mich wachhalten. Er würde dafür sorgen, dass ich durchhielt und die Narben würden mich nie vergessen lassen, was ich getan hatte. Es war für die Ewigkeit.
Ich traf die Entscheidung binnen Sekunden und lenkte mein Auto in die Kurve, die zu der Autobahn führte. Ich musste ein neues Leben anfangen. Jetzt sofort.
Nur noch 3 Stunden und 58 Minuten trennten mich davon. Meine Mutter würde es verstehen, wenn ich ihr sagte, dass ich für eine Weile bei meinem Vater wohnen wollen würde. Sie wäre enttäuscht, ganz bestimmt, doch dies war sie in der letzten Zeit so gut wie immer von mir gewesen. Vermutlich wäre sie sogar erleichtert, wenn ich sie Morgen anrufen würde und ihr sagte, dass ich abgehauen war. Eine Sorge weniger in ihrem Leben. Sie hatte bereits genug zu kämpfen.
Ich war nicht mehr gut genug für sie. Für keinen meiner Freunde und ganz bestimmt nicht für Ihn.
Ich hatte mich verändert. Ich klaute, rauchte und nahm Drogen. Ich schrieb schlechte Noten und raste betrunken mit 140 km/h über die Autobahn. Ich hatte Es getan. Etwas, was ich nie wieder rückgängig machen konnte. Etwas, was nie jemand erfahren durfte.
Ich verdiente sie nicht. Ich verdiente keinen von ihnen.
Bei dem Gedanken an Ihn kamen mir erneut die Tränen. Ich wusste, was ich aufs Spiel setzte. Er würde mich hassen. Der Junge, der mich nie aufgegeben hatte, der immer versucht hatte mich auf die richtige Spur zurück zu lenken. Ja, er würde mich noch mehr hassen, als er es schon tief in seinem Inneren tat.
Schon seit Wochen mussten wir der Wahrheit ins Auge sehen.
Wir hatten uns verloren.
In 24 Stunden würde alles vorbei sein. Ich würde nicht zurück kehren. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.
Sobald ich in Canterbury ankommen würde, wollte ich nicht mehr Dalia sein. Die beliebte Rebellin, die immer einen frechen Spruch auf den Lippen hatte und vor nichts und niemandem Respekt hatte. Ich würde zu meinen Wurzeln zurückkehren und das brünette, süße Mauerblümchen spielen, dass ich schon seit Jahren nicht mehr war. Ich würde meinen alten und so sehr gehassten Namen wieder annehmen und von vorne beginnen. Ich würde mich endlich das trauen, was ich schon vor Monaten hätte machen sollen.
Alles wäre vorbei und ich konnte es nicht mehr erwarten.
Die letzten siebzehn Jahre meines Lebens. Sie wären nichts weiter, als einige Erinnerungen, verewigt auf Bildern, so dass sie nicht in Vergessenheit geraten würden.
Doch Bilder lügen. Sie spiegeln nie unseren wahre Gefühle wieder. Du lächelst, obwohl du am Boden zerstört bist. Es sind Momentaufnahmen, doch keine echten. Sie manipulieren unser Gedächtnis und zeigen uns anders, als wir wirklich sind.
Alles war schöner auf Bildern. Personen. Landschaften. Einfach alles.
So etwas wie Liebe gab es in der echten Welt nicht. Sei es nun die Liebe zu seiner Familie, zu seinen Freunden oder zu dem Menschen, mit dem man eine Beziehung führte. Nein. Es war alles nur ein Schein. Manipuliert von uns selber. Liebe ist nicht dein Freund. Sie ist dein Feind und sie wird dich so sehr zerstören, dass du den Glauben in sie verlierst.
Ich liebte. Ich hatte einer Person mein Herz geschenkt und stand nun vollkommen alleine in meiner eigenen kleinen Welt.
Zerbrochen. Einsam. Gefühlslos.
Ich war gefallen. Von ganz oben nach ganz unten. Ohne Fallschirm kam ich auf. Mein Körper hatte überlebt. Ein Teil meiner Seele war gestorben.
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