𝟑 | scherben
Es war wirklich erstaunlich, wie viel man herausfinden konnte, wenn man Menschen einfach nur eine Zeit lang beobachtete. Man entdeckte beispielsweise ausschlaggebende Schwachpunkte, wie plötzliche Panikattacken. Und das war echt nützlich, fand zumindest Sukha.
Mit einem zufriedenem Lächeln strich er Clover über den Kopf und drückte sich weiter gegen die Wand, hinter der er sich schon eine ganze Weile versteckte. Bis vor ein paar Wochen hätte er noch gesagt, sein jahrelanges Spionage-Training habe sich überhaupt nicht gelohnt, doch jetzt war er vom Gegenteil überzeugt. Hätte er nicht gewusst, wie man das Schloss einer Tür knackte, stände er jetzt ziemlich dumm da.
»Ich wusste gar nicht, dass der Präsident so schlimm ist«, hörte Clover einer der Beiden sagen, nachdem sie sich auf der Treppe niedergelassen hatten. Das Studieren der Akten zahlte sich aus - er erkannte, um wenn es sich hier handelte. Die junge Frau mit der auffälligen Narbe und der silbernen Strähne war Silviara Cyntrailys, und der immer noch leicht zitternde Typ war Cadence Eveir. Die Sanitäterin und der Leiter.
Bei dem Gedanken, dass so jemand den Forschungstrupp anführen würde, hätte Sukha fast losgelacht. Er sah es schon vor sich - den Kampf mit einem tollwütigem Pokemon, bei dem derjenige, der alles koordinieren sollte, zitternd in der Ecke saß. Lächerlich. War die Regierung von Horizon City wirklich so verzweifelt?
»Na ja ... Irgendwie muss er sich ja durchsetzen«, erwiderte Cadence mit brüchiger Stimme und lehnte sich mit einem erschöpftem Seufzen zurück. Er sah so aus, als ob er einen kilometerlangen Sprint hinter sich hatte, dabei war er gerade mal 50 Meter gelaufen. Erneute konnte Sukha sich ein verächtliches Schnauben nur knapp verkneifen. Das würde sicher eine lustige Expedition werden, mit solchen Leuten im Team.
Nach ungefähr zehn Minuten, in denen er dem Gespräch vor sich noch lauschte, wurde es ihm zu langweilig. Sie redeten über den Präsidenten, die Vergangenheit und die Mission - Themen, die in letzter Zeit in jedermann Mundes waren. Genervt wandte er sich ab. Was für eine Zeitverschwendung.
Kurz darauf klopfte er einen kurzen Takt gegen die hölzerne Hintertür und wartete. Auf der anderen Seite hörte er ein leises Krachen, ein Fiepen und ein unsicheres 'Kirlia?', dann öffnete sich der Eingang mit einem unangenehmen Quietschen. Mit hochgezogenen Augenbrauen trat er ein.
»Shari, du weißt, dass einen Schrank umwerfen nicht gerade unauffällig und leise ist, oder?«, sagte er zu dem Elektro-Pokemon, das sich kleinlaut in eine Ecke verkrochen hatte. Bücher lagen überall in dem kleinem Hinterzimmer verteilt, und in der Mitte des Haufens lag ein großes Regal. Gut, das er nicht hier gewesen war. Das Ding hätte ihn wahrscheinlich erschlagen.
Während er noch versuchte, über das Chaos zu klettern, hörte er auf einmal etwas. Etwas, das jetzt wirklich ziemlich ungelegen kam. Schritte. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Das war nicht gut.
Aus Reflex suchte er nach einem Fluchtweg, doch dafür war es ohnehin schon zu spät. Wenn seine Ohren ihn nicht täuschten, hatte er vielleicht noch Zehn Sekunden. Sein Blick kreuzte sich mit dem von Shari. Schnell aktivierte er einen der Pokebälle an seiner Hüfte und brachte Clee in Sicherheit. Keine Sekunde zu früh.
Ohne Vorwarnung brüllte Shari einmal laut und sprang. Seine Krallen bohrten sich durch Sukhas schwarzen Mantel, und obwohl er sich mit den Händen abfing, stieß er ziemlich unangenehm gegen eine Buchkante. Dann verstummten die Schritte und jemand öffnete die Tür.
»Ka Kapuno?«
Im ersten Moment fragte Sukha sich ernsthaft, wie es ein Kapuno bitte geschafft hatte, eine Türklinke herunter zu drücken. Erst, als er Sharis feindseligem Blick folgte, bemerkte er den Jungen, der hinter dem kleinen Pokemon stand. Erstaunlicherweise wirkte dieser weder überrascht noch schockiert. Sein Gesicht glich einer Maske, völlig emotionslos.
»Warum liegen hier überall Bücher herum?«, fragte der Fremde. Ja, das war tatsächlich eine interessante Frage. Wirklich Schade, dass er selber keine Antwort darauf hatte. Wäre er nicht gerade damit beschäftigt, das vor Angst zitternde Opfer zu spielen, hätte er Shari vorwurfsvoll angeguckt.
»Dieses Viech hat mich angegriffen! Kannst du mir vielleicht helfen und nicht nur-«
Shari schnitt ihm das Wort ab, indem er demonstrativ brüllte und eine Pfote zum Angriff hob. Blitze begannen, um die Krallen des Pokemons zu knistern. Sukha schluckte. Er vertraute Shari zwar, aber ... eigentlich hatte er wenig Interesse daran, Blitzableiter zu spielen. Panisch sah er zu dem Kapuno und seinem Trainer.
»Uno, Kopfnuss«, befahl dieser in diesem Augenblick ruhig und sah immer noch völlig emotionslos zu, wie sein Pokemon auf Shari zu rannte und den Kopf senkte. Das Luxtra entdeckte die Bedrohung, noch während sie über die Bücher kletterte, und sprang zur Seite. Dann ging alles ganz schnell.
Das Kapuno war gerade dabei, seinen Kurs zu ändern, als es über ein Buch stolperte. Zu seinem Entsetzten erkannte Sukha, das es jetzt direkt auf ihn zu stolperte, und hob die Hände. Doch bevor er getroffen wurde, wurde das angreifende Pokemon von einem Ball aus purer Elektrizität zur Seite geschleudert und flog wie eine Kanonenkugel durch die Luft. Es krachte mit voller Wucht gegen das einzige Fenster im Raum, das sogleich mit einem lauten Klirren in tausend Scherben zerbrach.
Wenn bisher niemand bemerkt hatte, das sie hier waren, dann hatten es spätestens jetzt alle.
Eigentlich hatte Cadence es nie als besonders beruhigend empfunden, draußen zu sitzen, besonders im Dunkeln. Dafür gab es einfach zu wenig Schutz und zu viele Möglichkeiten, angegriffen zu werden. Und dazu kam auch noch die Vielzahl von Geräuschen, die sich alle so anhörten, als ob jemand auf einen Ast trat oder eine Waffe zog. Ja, draußen sein war wirklich alles andere als entspannend.
Doch jetzt, wo ihm die kalte Abendluft angenehm ins Gesicht blies und die zwei Straßenlaternen neben ihm alles in ein geheimnisvolles Licht tauchten, konnte er nicht anders, als erleichtert zu seufzen. Außer Liv und ein paar Dusselgurr war niemand hier, und sie schien genauso in Gedanken versunken wie er. Niemand drohte, stresste oder erwartete etwas von ihm.
»Nochmal danke für vorhin, Liv«, murmelte er erschöpft und schenkte ihr ein müdes Lächeln. Irgendwann musste er ihr diesen Gefallen unbedingt noch zurückzahlen. Gut, dass dafür noch mehr als genug Zeit und wahrscheinlich auch Möglichkeiten geben würde.
Liv nickte, winkte aber mit einer Hand ab. »Gerne. Aber denk jetzt bloß nicht, dass du in meiner Schuld stehst oder so etwas. Jemandem im Not zu helfen ist für mich selbstverständlich.«
Umso mehr Zeit er mit ihr verbrachte, umso mehr bewunderte Candace die junge Sanitäterin. Nicht nur dafür, dass sie sich an ihre Prinzipien hielt und Leuten tatsächlich half, anstatt nur davon zu reden, sondern auch für ihre Menschenkenntnisse. Sie hatte sofort erkannt, dass er sich irgendwie schuldig fühlte und entsprechend reagierte. Ach, wie gerne er so etwas auch können würde.
»Das ... Das ist nett. Aber wenn du bei irgendwas Hilfe brauchst, kann ich dir doch trotzdem helfen, oder? Ganz ohne Hintergedanken«, schlug er mit großen, unschuldigen Augen vor. Liv lachte leise und nickte dann.
»Wenn es sein muss. Aber eigentlich bin ich ganz gut darin, meine eigene Probleme zu lösen.«
»Pff. Das dachte ich auch, und du siehst ja, was es mir geholfen hatte.«
Kurz schwiegen sie beide. Obwohl sie immer noch lächelte, bemerkte Cadence durchaus, das Liv sich etwas angespannt hatte. Verdammt. Das hatte er nicht gewollt. Es war doch so einen angenehme Atmosphäre gewesen, als sie über den Präsidenten gelästert hatten. Wieso zerstörte er nur immer alles?
Unsicher blickte er wieder geradeaus und musterte konzentriert die Bäume auf der andren Straßenseite. Was jetzt? Er schluckte leise. Sollte er etwas sagen? Und wenn ja, was? 'Tut mir leid, dass ich so ein Idiot bin, ich wollte dich nicht verletzen'? Nein. Das klang viel zu aufgesetzt. Hilfesuchend blickte er zu einem der Dusselgurrs, die auf den Bäumen vor sich hin zwitscherten.
Wieso gab es nochmal keine Anleitung für soziale Interaktionen?
»Also, ähm ... Ich-«
»Gurr!«
Im ersten Moment hörte Cadence nur ein lautes Klirren, dann begannen die Pokemon auf den Bäumen zu kreischen und weg zu fliegen. Federn flogen durch die Luft, während er und Liv gleichzeitig auf die Beine standen. Verdammt. Sein Herz schlug schon wieder viel zu schnell.
»Das klang, als ob jemand ein Fenster eingeschlagen hat«, stellte Liv ebenso angespannt wie er fest. Ihre Hand legte sich um einen der Pokebälle an ihrer Hüfttasche. Eine vernünftige Reaktion, wenn man bedachte, das es sich um ein tollwütiges Pokemon handeln könnte. Auf jeden Fall vernünftiger als sich verkrampft an einen Messergriff zu klammern.
»Gehen wir hin?«
Für einen Moment dachte er, sie würden ihn jetzt für völlig irre erklären, doch dann nickte sie. Ein Teil von ihm freute sich, weil sie genauso wie er Neugier über Vernunft stellte, doch der Rest schrie panisch auf. Egal, was das Fenster eingeschlagen hatte, es war ganz sicher nicht ungefährlich, es zu suchen. Er sollte abhauen und Hilfe holen. Hilfe, die dem Problem gewachsen war.
»Kommst du?«, flüsterte Liv, noch während sie zwei Pokebälle in die Luft warf. Ohne auch nur ein Geräusch zu machen, landete ein Absol neben ihr, während das zweite Pokemon, ein UHaFnir, direkt in der Luft blieb. Cadence stand immer noch wie erstarrt da, während Liv dem fliegenden Pokemon etwas zuflüsterte. Dann blickte sie noch einmal zurück.
»Du kannst auch hier blieben. Ich zwinge dich zu nichts.«
Er sah an ihrem freundlichen Lächeln, das sie es nicht böse meinte. Sie nicht. Doch er erinnerte sich an jemanden, der dasselbe gesagt hatte, vor mehreren Jahren. Mit einem bösen Grinsen und funkelnden Augen, die das Wort 'Angsthase' buchstabierten. Er schluckte. Seit damals hatte sich vieles geändert. Von dem schüchternem Jungen, der er gewesen war, war so gut wie nicht übrig geblieben.
Und außerdem war er jetzt Anführer einer Expedition, bei der es tausend von Vorfällen wie diesen geben würde. Außerhalb von Horizon City wartete hinter jeder Ecke ein mordlustiges Pokemon. Dagegen war das hier doch Nichts. Angestrengt löste er seine Finger vom Griff seiner Waffe ging zu Liv rüber. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er fast gemeint, sie anerkennend lächeln zu sehen.
»Sounder«, sie deutete auf das UHaFnir, »bringt uns zu der Geräuschquelle. Wer oder was das auch war, es ist immer noch da und macht Lärm.«
Er nickte nur stumm und zog dann auch einen Pokeball aus einer Tasche. Kurz darauf stand Lou neben ihm und sah sich neugierig um. Das Lucario und Livs Pokemon musterte sich kurz gegenseitig, bevor sie alle zusammen weiter liefen. Jetzt, wo sie zu fünft und nicht länger nur noch zu zweit waren, viel Cadence das Atmen wieder leichter.
»Es ist nicht sehr nett, einfach Pokemon fremder Leute anzugreifen«, hörte man Jemanden sagen, höchstens noch eine Ecke weiter. Beinah gleichzeitig beschleunigten sie beide ihre Schritte. Ob es wohl um einen Einbrecher ging, der einen der Partygäste angegriffen hatte? Bei dem Gedanken, das so jemand vielleicht keine guten Pokemon, dafür aber eine Pistole haben könnte, wurde Cadence kurz schlecht.
»Oh ja, das denke ich auch. Deswegen warte ich auch auf einen Entschuldigung«, schnaubte eine zweite Person genervt, dann waren sie endlich angekommen. Mittlerweile war Cadence sich nicht mehr sicher, ob überhaupt jemand angegriffen worden war. Das, was sich vor ihm abspielte, sah eher wie eine Reihe an ungünstigen Zufällen aus.
Direkt vor ihnen kniete ein Junge neben einem Kapuno, um das herum Scherben verstreut waren. Gegenüber dieser Beiden stand jemand im Türrahmen, die Arme locker verschränkt. Als dieser sich mit glühenden Augen zu den Neuankömmlingen umwand, erkannte Cadence auch, um wen es sich handelte.
»Ambrose Lione und ...«
»Tenko Shimura«, beendete Liv seinen Satz mit hochgezogenen Augenbrauen. Der Junge drehte sich ebenfalls zu ihnen um. Mit seinen hellen, pastellblauen Klamotten und den vielen Haarklammern und Pflastern passte er nicht wirklich in die Dunkelheit, die mit der untergehenden Sonne einherkam.
»Dürfte ich fragen, was hier passiert ist?«, wollte Cadence mit verschränkten Armen wissen. Obwohl Tenko derjenige war, der in einem Haufen aus Scherben am Boden saß, hatte er das starke Gefühl, das das wahre Probleme jemand anders war. Man brauchte nur in seine Augen zu sehen, um zu wissen, dass Ambrose nicht annähernd so nett war, wie alle behaupteten. Er bedeutete Chaos, da war Cadence sich sicher.
»Schauen Sie mich nicht so böse an, Mister Eveir. Ich bin unschuldig. Dieser Irre-«- sein Blick streifte Tenko voller Abscheu-»-hat mich und mein Pokemon angegriffen und das Zimmer verwüstet. Ich wollte nur ein Buch holen.«
Cadence sah zu Tenko, der immer noch nur emotionslos in die Luft starrte. Man sah ihm nicht an, was er über die Worte seines Gegenübers dachte. Und Ambrose, der sich nur verächtlich schnaubend Staub von den Klamotten klopfte, schien nicht zu lügen. Zumindest, wenn man seiner Körpersprache Glauben schenkte.
Doch als Mensch, der gesehen hatte, wie Leute ganze Staaten hinters Licht führten, wusste Cadence, wie einfach es war, gut zu lügen. Beschäftigte man sich ein bisschen damit, konnte man seine Körpersprache schnell kontrollieren und alles unterdrücken, das auf eine Lüge hindeutete. Er vertraute Ambrose nicht. Und dabei würde es bleiben.
Auch, wenn es bisher nicht einmal wusste, warum.
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