53. Kapitel: Der Tag danach
Jenna wachte am nächsten Morgen auf und als die Ereignisse vom letzten Abend auf sie niederprasselten wurde ihr klar, wieviel sich gestern geändert hatte. Müsste sie sich Richard stellen? Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten, wenn er ihr über den Weg lief? Wie hatte er so etwas nur tun können?
Sie hatte Richard niemals als einen so aggressiven Typen eingestuft, doch er hatte sich in den letzten Monaten stark verändert. Das College hatte ihn verändert. Sie konnte froh sein, dass er frühzeitig Schluss gemacht hatte, denn sie hätte bis zum heutigen Tag wahrscheinlich nicht den Mut gehabt. Und sie hätte so vieles in ihrem Leben verpasst. All das, was es jetzt im Moment ausmachte. Sie zog sich die Decke über den Kopf und wollte sich noch einmal auf die andere Seite legen um weiter zu schlafen, doch dann kam ihr Liams Geschichte in den Kopf. Und bei dem Gedanken daran, wurde ihr ganz schwer ums Herz. Diese Geschichte machte ihr sogar noch mehr zu schaffen, als das was mit Richard geschehen war. Und unfreiwillig war auch Richard ein Teil davon.
Wie hatte sie damals nicht sehen können, was in Liam vor sich ging? Wie hatte es ihr nur so egal sein können? Sie hatten sich bereits ihr ganzes Leben über gekannt, wie konnte man also so blind sein, was das Wohlbefinden eines anderen Menschen anging? Hätte sie Liam vor dem Schmerz bewahren können? Hätte sie denn anders reagiert, wenn er ihr diesen Brief gegeben hätte?
Sie versetzte sich in die Zeit von vor über zwei Jahren zurück. In ihr 15 jähriges Ich und ging die Geschehnisse von damals noch einmal in ihrem Kopf durch.
Niemand hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt für sie interessiert. Sie hatte Maria gehabt und ihren Bruder und dieser hatte sie immer und überall es ihm möglich war mit einbezogen, weswegen es zumindest so schien als hätte sie einen stabilen Freundeskreis. Sie musste nicht alleine an einem Tisch sitzen, wenn Maria gerade nicht da war und war niemals alleine. Doch sie hatte sich oft einsam gefühlt. Außer Maria und Chris hatte sie niemanden gehabt, der sich wirklich für sie, Jenna, interessierte. Mit Liam hatte sie nicht wirklich was am Hut gehabt. Er war ab und an am selben Tisch gesessen, hatte sich aber meistens mit Eric einen geteilt. Etwas Abseits. Liam war schon damals nicht der Typ, der die Aufmerksamkeit erregen wollte, tat es aber jeden Tag mit seiner Erscheinung. Er war bei weitem noch nicht so groß wie heute gewesen, hatte bei weitem noch nicht so viel Charme gehabt. Er war eben ein 16 jähriger gewesen der sein Leben lebte. Sie versuchte sich an irgendetwas zu erinnern, was ihr hätte zeigen müssen, dass er Gefühle für sie hatte, doch da fiel ihr beim besten Willen nichts ein. Sie hatte in dieser Zeit nur Augen für Richard gehabt, der damals begonnen hatte um sie herum zu schleichen. Und dieses Interesse, das er an ihr gezeigt hatte, hatte dazu geführt, dass sie sich beschwingt fühlte. Sie freute sich auf die Mittagspausen, auf die kurzen Augenblicke in den Gängen wenn sie ihm über den Weg gelaufen war. Sie hatte eine große Liebesgeschichte auf sie zurasen gesehen und sich sehr bereitwillig einverstanden erklärt, mit ihm auszugehen. Sie hatten sich geküsst und ab diesem Zeitpunkt war sie für alles andere, was um sie herum geschah, blind gewesen.
Sie konnte sich an die zwei Wochen erinnern, in denen Liam nicht in der Schule gewesen war, konnte sich an seinen ersten Tag zurück erinnern. Aber was die Zeit davor anging, es schien fast so als wäre er gar nicht da gewesen. Sie hatte ihn komplett vergessen.
Sie erinnerte sich zu gut, wie er damals wieder in der Schule aufgetaucht war weil es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen war, dass er gefehlt hatte, als seine düstere Erscheinung durch die Gänge spazieren gesehen hatte. Sie hatte geglaubt, dass er vielleicht Probleme gehabt hatte, vielleicht sogar zwei Wochen im Jugendknast verbracht hatte. Sie hatte ihm alles zugetraut, kannte sie ihn doch schlicht und ergreifend nicht. Er sah aus wie ein Delinquent, wie jemand, der riesen Mist gebaut hatte. Doch sie hatte es nicht einmal für nötig gehalten ihren Bruder, der damals viel Zeit mit ihm verbracht hatte, danach zu fragen. Sie war ein egoistisches Miststück gewesen, das nur an sich selber gedacht hatte. Es interessierte sie nicht, dass Liam sie mittlerweile keines Blickes mehr würdigte, wunderte sich nur darüber. Daran konnte sie sich erinnern. Und nach einigen Wochen begann er damit all seine Last auf ihr abzuladen. Es schien als wären die Sticheleien von früher zurück gekehrt, doch sie waren schlimmer geworden. Auch dies wunderte Jenna nicht, es interessierte sie nicht und so hatten sie so weiter gemacht bis zu dem Zeitpunkt, als Mrs. Star ihnen verkündet hatte, dass sie die Pluspunkte des Anderen entdecken sollten. Sie erinnerte sich daran, was sie gefühlt hatte in dem Augenblick, waren ihre Streitereien doch zu diesem Zeitpunkt auf einem Höhepunkt gewesen, den sie, wenn sie an ihre Kindheit zurück dachte, niemals erwartet hätte. Es war kein Wunder gewesen, dass Mrs. Star diese Konstellation gewählt hatte und eigentlich sollte Jenna ihr danken, denn sie hatte ihr einen Freund gegeben, der ein Leben lang in ihrem Herzen sein würde. Nicht nur jemanden in den sie verliebt war.
Sie riss die Decke von ihrem Kopf und raufte sich die Haare. Am liebsten hätte sie sich den ganzen lieben Tag in diesem Zimmer verkrochen, doch sie war rastlos und so stieg sie aus dem Bett. Chris hatte offenbar bemerkt, dass Bewegung in ihr Zimmer kam, denn keine Minute später klopfte es an ihrer Tür und er trat herein. Sein besorgter Blick schloss darauf, dass er ein kleines Elend erwartete.
„Wie geht's dir?", fragte er deswegen vorsichtig und ließ sich auf ihr noch ungemachtes Bett nieder.
„Ich glaube gut, ich weiß es nicht. Ich muss einiges verarbeiten!", erklärte sie und ließ sich auf den Boden nieder, wo sich Pino breit gemacht hatte, nachdem Chris die Tür geöffnet hatte. Sie strich dem kleinen Rüden über das weiche Fell.
„Das kann ich mir vorstellen. Am liebsten würde ich ihm noch eine Abreibung verpassen. Ich kann immer noch nicht fassen, was aus ihm geworden ist!", meinte Chris und sah gedankenverloren seine Schwester an. Eine Frage schlich ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf.
„Jenna, das hat er aber nie getan als ihr zusammen wart, oder? Er hat dich nie zu etwas gezwungen?", fragte er vorsichtig und erregte damit Jennas Aufmerksamkeit, die überrascht aufblickte. Aber natürlich machte Chris sich Sorgen. Er hatte keine Ahnung von der Beziehung die sie und Richard geführt hatten.
„Nein niemals. Wirklich. Er war nicht der netteste Freund den man sich wünschen kann, aber so was ist nie passiert Chris. Du musst dir keine Sorgen machen!", entgegnete sie und stand auf, um sich neben ihren Bruder zu setzen.
„Ich verstehe nicht, was mit ihm passiert ist in den letzten Monaten....", fügte sie dann hinzu doch Chris zuckte mit den Achseln.
„Richard hatte schon immer ein wahnsinnig großes Ego und hat es noch nie verwunden, wenn er etwas das er wollte nicht haben konnte. Die Drogen und alles andere haben wohl sein übriges getan.", meinte er beifällig, doch Jenna riss erschrocken die Augen auf.
„Drogen? Was zum Teufel...", sie lehnte sich an die Wand in ihrem Rücken. Sie hatte noch niemals Kontakt mit Drogen gehabt und jetzt sollten sie für zwei der schwierigsten Dinge, die sie in ihrem Leben erfahren hatte, verantwortlich sein?
„Das hab ich echt nicht kommen sehen.", meinte sie jetzt und legte sich die flache Hand auf die Augen.
„Ich auch nicht, glaub mir. Ich hätte ihn mir schon früher krallen sollen, bereits als Maria mir von dem, was zwischen euch war, erzählt hat. Doch ich habe geglaubt, dass sei alles nur Geplänkel und ich wollte mich nicht einmischen. Ich weiß ja wie allergisch meine kleine Schwester darauf reagiert, wenn sie das Gefühl hat man würde sie bevormunden.", ein leichtes Grinsen schlich sich in Jennas Gesicht. Chris hatte ins Schwarze getroffen.
„Zum Glück war Liam da.", sagte jetzt Chris gedankenverloren und Jenna musste sich fragen, was Maria ihm eigentlich genau alles erzählt hatte und vor allem, wie es dazu gekommen war.
„Ja er war in den letzten Wochen und Monaten immer für mich da, wenn ich ihn gebraucht habe und jetzt hat er vermutlich riesige Probleme am Hals wegen mir. Mal wieder.", der Gedanke machte sie beinahe verrückt. Es durfte nicht dazu kommen, dass Liam ihretwegen eine Anzeige am Hals hatte.
„Er ist wirklich kein übler Kerl, ich hab ihm absolut Unrecht getan. Fuck, er ist einer meiner besten Freunde und ich hab ihn so vor den Kopf gestoßen!", Chris schien von einem schlechten Gewissen geplagt zu sein.
„Was hast du zu ihm gesagt?", wollte Jenna wissen, die Kraft sich darüber aufzuregen hatte sie nicht.
„Im Club, als du mit David unterwegs warst. Ich hab ihm gesagt, dass er vorsichtig sein soll und, dass er Menschen um sich herum weh tut, auch wenn er es nicht beabsichtigt. Ich habe seine scheiß Vergangenheit genutzt um ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Was bin ich nur für ein Mensch? Und dann als ich ihn gestern gesehen habe, ist mir alles klar geworden.", erzählte Chris und sah seine Schwester an.
„Du hast ihn echt um den Finger gewickelt, das weißt du, oder?", meinte er leicht grinsend. Saßen sie jetzt gerade etwa da und besprachen die Beziehung zwischen Liam und Jenna? Aber Jenna nutzte die Chance, um Chris die Fragen zu stellen, die ihr auf der Seele brannten.
„Warum hast du mir nichts von dem, was vor zwei Jahren passiert ist, erzählt? Warum bin ich die letzte die solche Dinge erfährt?", Jenna sah ihren Bruder eindringlich an, doch dieser sah ihn unverwandt in die Augen.
„Es war nicht mein Geheimnis, das ich geteilt hätte, verstehst du? Liam hat schreckliches erlebt, aber es stand mir doch nicht zu, diese Geschichte in die Welt hinaus zu tragen. Und du und Liam wart zu der Zeit nicht wirklich ein Herz und eine Seele. Er hat mich darum gebeten mit niemandem darüber zu sprechen, also habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Sag mir nicht, dass du anders gehandelt hättest!", sagte Chris und er hatte natürlich Recht.
„Woher wusste Richard davon?", fragte Jenna deswegen. Sie konnte es nicht ertragen, dass Richard der Meinung war, Liam sei schuld an dem Tod seines Cousins und der anderen beiden.
„Sein Vater arbeitet für die Kanzlei, die Liam vertreten hat. Es war eigentlich nur der Form halber, denn außer dem Drogenkonsum hat Liam nichts falsch gemacht. Er saß nicht am Steuer als das passiert ist, er hatte nicht einmal die Drogen besorgt. Man kann und konnte ihm nichts vorwerfen.", erklärte Chris und dies leuchtete Jenna ein.
„Aber was ist wenn Richard ihn anzeigt? Was ist wenn Liam diesesmal wirkliche Probleme bekommt?", sie hatte Angst vor den Konsequenzen.
„Wird er nicht, glaub mir. Richard dealt seit einiger Zeit mit Drogen. Er ist wohl der Meinung niemand kann ihm was abhaben. Neben dem was gestern passiert ist und einigen heiklen Informationen die sein Studium maßgeblich beeinflussen könnten wird er sich nicht trauen Liam anzuzeigen, mit den ganzen Informationen die ich gegen ihn habe. Ich habe die ganze Zeit geglaubt, es handelt sich hier um Spinnereien, hab das nicht ernst genommen, aber fuck, das Ganze ist verdammt ernst. Irgendwann muss ich mich ihm nochmal stellen und ihm klar machen, dass er dabei ist sein ganzes Leben wegzuwerfen!", Chris schien sich wirklich Gedanken zu machen, und das tat Jenna auch. Richard war abgerutscht in eine Richtung, in der sie ihn niemals vermutet hätte.
„Also mache ich mir jetzt deswegen keine Sorgen mehr?", fragte Jenna nochmals nach und spürte, wie zumindest ein kleiner Teil der Last von ihr abfiel.
„Nein. Nicht wegen Liam und auch nicht wegen Richard. Der wird dir nie wieder zu nahe kommen!", dabei ballte Chris die Faust. Jenna konnte nicht anders, als ihren Bruder in den Arm zu nehmen. Noch eine Frage formulierte sich in ihrem Kopf, doch sie hatte Angst sie zu stellen. Was meinte Chris damit, dass sie Liam den Kopf verdreht hatte? Chris hingegen schien zu spüren, was sie belastete, denn er sprach das Thema von sich aus an.
„Also um nochmal zu Liam zurück zu kommen, was genau ist da jetzt zwischen euch beiden?", fragte er und hatte Angst, dass Jenna sich gleich wieder zurück ziehen würde. Doch das tat sie nicht. Denn sie brannte so sehr darauf mit ihm darüber zu sprechen. Mit jemandem der Liam kannte wie ein Bruder einen Bruder kannte.
„Ich weiß es um ehrlich zu sein nicht. Sind wir zusammen? Ja vermutlich, zumindest scheint es so, als würden wir eine Beziehung führen. Habe ich mich in ihn verliebt? Das muss ich mit einem klaren Ja beantworten. Wird diese Beziehung halten? Höchstwahrscheinlich nein.", Jenna schien sehr niedergeschlagen als sie dies sagte und Chris sah sie überrascht an. Er hatte genau gesehen, was Liam für Jenna empfand. Er hätte es vorher schon sehen können, doch gestern war sehr klar gewesen.
„Wie das?", fragte er daher irritiert und sah sie dabei an.
„Die ganze Geschichte mit den Drogen, all das was mit Kevin passiert ist, bringt er doch mit mir in Verbindung. Neben seiner Angst, die Menschen um sich herum zu verletzen, würde er mit der Liebe die ich für ihn empfinde gar nicht klar kommen! Er würde mich automatisch von sich stoßen, wenn er es erfahren würde verstehst du? Könnte es die Zeit beheben? Ja definitiv, doch die haben wir nicht. Ich reise in wenigen Wochen ab und Liam? Ich weiß ja noch nicht einmal wo er hingeht! Ich habe keine Zeit mehr dafür, ihm die Sicherheit zu geben die er braucht. Und über eine größere Distanz wird das nicht möglich sein. Liam ist noch nicht bereit dazu. Vielleicht, wenn ich Glück habe, und er im College nicht irgendjemanden trifft, die noch besser zu ihm passt, ja vielleicht danach, wenn sich unsere Wege kreuzen. Aber bis dahin werde ich mich wohl oder übel damit abfinden müssen, dass es einfach der falsche Zeitpunkt war.", Timing war und würde vermutlich niemals ihr Ding sein. Chris überlegte kurz. Wusste Jenna, dass Liam sie immer noch liebte? Vermutlich nicht. Würde diese Information sie zum umdenken bewegen?
„Du weißt, dass er nach wir vor Gefühle für dich hat, oder? Ich bin mir nicht so sicher, dass er jemals aufgehört hat damit!", sagte Chris und Jenna lächelte.
„Ja das weiß ich, ich bin mir sogar auf irgendeine Art und Weise sicher. Doch mit Liebe bringt er das nicht in Verbindung. Und selbst wenn? Wie soll denn unsere Beziehung aussehen, wenn er mich für den schlimmsten Part in seinem Leben verantwortlich macht?", erklärte Jenna und zog ihre Beine an.
„Du willst mit ihm Schluss machen?", Chris war überrascht, doch er hatte die falschen Schlüsse gezogen denn Jenna schüttelte den Kopf.
„Nein, das wird die Zeit für uns lösen. Ich könnte mich nicht von ihm trennen selbst wenn ich es wollte, denn etwas Offizielles ist das alles ja gar nicht. Wir leben von einem Tag zum nächsten. Und genauso werden wir weiter machen, bis ich fahre.", Jenna versuchte zu lächeln, obwohl ihr absolut nicht zum Lächeln zumute war. Diese Situation war äußerst festgefahren und schien ihr auswegslos. Sie kannte Liam gut. Er würde ihr in so gut wie allem widersprechen, was sie Chris gerade gesagt hatte. Er würde es anders sehen, doch in seinem Innersten, würde dieser Gedanke dennoch immer wieder auftauchen. Er musste erstmal selber mit seiner Vergangenheit klar kommen und ja, vielleicht in ein paar Jahren, hätten sie eine Chance, wenn das Leben ihnen nicht erneut einen Streich spielen würde.
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