33. Kapitel: Ausgeschalteter Verstand
33. Kapitel: Ausgeschalteter Verstand
Am nächsten Morgen fühlte sich alles, was gestern geschehen war, nur noch unwirklich an. Jenna fühlte sich, als hätte sie ein Zug überrollt obwohl, trotz ihrer anfänglichen Annahme, gar nicht so betrunken gewesen war. Sie war nicht betrunken und hatte Liam trotz allem so nah an sich heran gelassen. Sie hatte ihm ihr OK gegeben für etwas, von dem sie selber nicht genau wusste, was es eigentlich sein würde. Wie genau würde sich dies denn nun gestalten? Wie sollte sie ihm gegenübertreten? Was erwartete er denn jetzt von ihr? Etwa, dass sie bei der nächstbesten Gelegenheit sofort mit ihm ins Bett sprang?
Sie erschauderte bei dem Gedanken, wollte sich doch eigentlich nicht zu denjenigen gehören, von denen sie früher schon so viel gehört hatte. Sie wollte nicht aus dem berüchtigten Camp kommen mit einem Mann mehr auf ihrer bisher äußerst beschaulichen Liste und vermutlich einem gebrochenen Herzen. Doch sie konnte Liam ja wohl kaum fragen, was genau er sich jetzt vorstellte, oder? Schließlich war er eigentlich immer ziemlich direkt! Wieso also sollte sie nicht ebenso direkt auf ihn zugehen können und ihm all die Fragen stellen können, die sie an diesem Morgen so beschäftigten.
Gerade befand sie sich mit Steph, Amelia und Maria Speisesaal bei Frühstück. Viele ihrer Mitschüler schienen nicht viel Schlaf abbekommen zu haben und sogar heute schon konnte man einige peinliche austauschende Blicke erkennen bei dem Gedanken daran, was am vorherigen Abend geschehen war. Bei diesem Gedanken betrat Liam den Raum. Sein riesiger Körper und seine unverwechselbare Präsenz fiel Jenna augenblicklich auf, doch sie war nicht die Einzige, die darauf aufmerksam wurde. Steph reckte ihren Hals und winkte Liam zu, als sie ihn entdeckte.
„Bitte komm nicht rüber. Bitte komm nicht rüber. Bitte...", natürlich kam er doch rüber. Jennas Gemurmel hatte nichts gebracht und als sie aufsah entdeckte sie ein breites Grinsen auf Liams Gesicht, dass ihr sofort die Schamesröte ins Gesicht trieb. Es war so viel einfacher, über SMS zu kommunizieren oder in der Dunkelheit, in welcher sie seinen bohrenden Blick nicht sehen konnte. Jetzt, hier in diesem Moment, am helllichten Tag, nachdem wo er sie gestern berührt hatte war ihr das mehr als nur unangenehm.
„Guten Morgen Liam, ich hoffe du hattest eine angenehme Nacht?", fragte Steph und schob sich kurz darauf einen Löffel Jogurth in den Mund. Offenbar war sie der Ansicht, dass dies anzüglich wirken würde, doch Jenna grauste einfach nur von diesem Anblick. Liam lächelte und sein Blick wanderte über den Tisch bis er an Jenna hängen blieb. Nur einen kurzen Augenblick, doch dabei stockte ihr der Atem und sie schnappte sich ihre Tasse, aus der sie einen großen Schluck nahm. Oh Gott, diese Augen. Er würde sie wahrhaftig irgendwann noch umbringen weil sie bei seinem Anblick vergaß zu atmen. Wie hatte sich all dies so schnell ändern können? Bis vor einigen Wochen hatte sie ihn nicht einmal leiden können!
„Mehr als angenehm. Ich hatte ziemlich heiße Träume...", erklärte er und Jenna wusste, dass sein Blick wieder auf sie gerichtet war. Sie verschluckte sich beinahe an ihrem Kaffe und stellte deswegen die Tasse schnell wieder ab. Dies war also keine Option um sich von ihm abzulenken.
„Rate mal. Ich auch!", meinte Steph und Jenna fragte sich, ob die Arme denn wirklich nicht merkte, dass Liam eigentlich nicht an ihr interessiert war. Oder vielleicht war es dies doch und alles, was gestern geschehen war, blieb auch in diesem Gestern? Jenna sah Liam einen kurzen Augenblick an und dies nutze Liam direkt, um ihr zuzuzwinkern, ohne dass es jemand mitbekam. Vermutlich glaubte Steph, sie wäre gemeint gewesen. Jenna hoffte, dass Liam weiterging und sich bei seinen Basketballkollegen niederließ, doch er tat nichts dergleichen. Stattdessen zog er den leeren Stuhl neben Jenna hervor und ließ sich wie selbstverständlich darauf nieder. Jetzt würde Jenna vergessen können, auch nur einen weiteren Bissen runter zu bekommen, während Steph vergnügt quiekte. Eigentlich konnte Jenna Steph ganz gut leiden, doch langsam aber sicher ging sie ihr auf die Nerven.
„Und? Wollen wir heute Abend noch mal auf die Kacke hauen?", fragte Steph, die nicht merkte, dass sie die alleinige Kommunikation an diesem Tisch übernommen hatte.
„Mal sehen, was der Tag noch so bringt.", meinte Liam nur und schnappte sich eines der Brötchen, das er jetzt säuberlich halbierte und anschließend mit Butter bestrich. Zum Schluss kam noch eine Schicht Marmelade darüber und schon biss er genüsslich hinein. Jenna fühlte sich unwohl, so wie sie es in Liams so gut wie immer tat, wenn sie nicht von den ihr bekannten Personen umgeben war. Sie hasste diese Unsicherheit in ihr.
„Ich glaube ich spare mir heute mal die Afterparty und ziehe mich in meine Hütte zurück und zwar mit einem guten Buch!", erklärte Jenna deshalb. Sie wollte Liam gegenüber nicht den Anschein machen, als wäre er ihr in irgendeiner Weise überlegen und auch Steph wollte sie zeigen, dass sie nicht die Einzige war, die sprechen konnte. Naja, nicht die sprechen konnte, sondern vielleicht mehr die Liams Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Doch andererseits musste Jenna sich erstmal darüber klar werden, ob sie überhaupt wollte, dass irgendjemand von ihr und Liam wusste.
Bei ihren Worten sah Liam überrascht auf.
„Wie du gehst nicht auf die Party?", meinte er überrascht und hielt in der Vertilgung seines Brötchens inne.
„Du hast mich doch gehört, oder?", Jenna merkte sofort, dass Liam damit nicht gerechnet hatte.
„Und was liest du gerade? Shades of Grey um ein paar mehr Praktiken zu lernen?", fragte er sie lächelnd, unter dem Tisch berührte sein Bein kurz ihres. Schnell zog sie es weg. Jap, sie hatte definitiv keine Ahnung, wie sie mit Liam in der Öffentlichkeit umgehen sollte. Es war so viel einfacher mit ihm allein zu sein.
„Das hättest du wohl gerne!", konterte Jenna und wandte ihm ihren Oberkörper zu. Dass die Beiden von den anderen beobachtet wurden, war ihr in diesem Moment nicht bewusst, doch sie hatten sich schließlich schon so häufig in der Öffentlichkeit gestritten, dass sie sich auf diesem Terrain sogar sicher fühlen würde.
„Du hast es erfasst!", meinte Liam zwinkernd und wandte sich dann wieder ab. Jenna lachte kurz auf und vergaß doch tatsächlich, dass sie sich an einem vollen Tisch befand, an dem sämtliche Augenpaare auf sie gerichtet waren.
Steph räusperte sich und legte dann ihre Arme auf der Tischplatte ab, um über Jenna zu Liam sehen zu können.
„Heute Abend geht's bestimmt wieder rund!", meinte sie, doch Liam lehnte sich zurück und verschwand damit wieder aus ihrem Blickfeld. Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Arm, wie selbstverständlich, auf Jennas Rückenlehne sinken. Steph sah sofort seinen Arm an, so wie der Rest des Tisches auch, doch sie wartete weiterhin gespannt darauf, was Liam zu entgegnen hatte.
„Mal sehen, vielleicht leg ich mich auch zu Carson und lese mit ihr gemeinsam. Ich kann bestimmt auch noch ne Menge aus diesen verdammten Büchern lernen!", dabei zwinkerte er erneut und biss anschließend in die zweite Hälfte seines Brötchens. Steph schnappte einmal kurz empört nach Luft bevor sie es bemerkte und sich wieder zusammenriss.
„Welsh hör doch auf mit deinen Scherzen! Du bist doch der, der sich am meisten auf diese Partys gefreut hat, oder etwa nicht?", sprang jetzt Amelia in die Bresche. Jenna bemerkte, dass Maria sich während der ganzen Unterhaltung zurück hielt und die Situation einfach nur beobachtete. Würde sie ihr davon erzählen können? Was würde Maria zu all dem, was gestern geschehen war, sagen?
Alle am Tisch fingen an zu lachen und auch Jenna stimmte mit ein, doch Liam legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel, was sie sofort zum Verstummen brachte. Oh dieser...ihr fiel nicht einmal ein passendes Wort für ein.
„Na gut, also dann wir sehen uns dann wohl alle später beim Mittagessen, nicht?", erklärte Liam und stand auf da er offenbar schon fertig war mit dem Frühstück. Jeder wollte in seinen Kopf hinein sehen und wissen, was er eigentlich tatsächlich dachte doch niemand konnte es. Er verschwand ohne jedes weitere Wort und Steph wandte sich in ihrem Stuhl um und blickte ihm hinterher.
„Sag mal, habt ihr zwei da gerade geflirtet?", fragte Amelia Jenna, die jetzt wieder ruhigen Gewissens einen Schluck Kaffee nehmen konnte, ohne Angst zu haben, dabei zu ersticken.
„Ja Jenna, was war das gerade da zwischen euch beiden? Ich dachte da läuft nichts?", meinte jetzt Steph, die überhaupt nicht mehr gut gelaunt zu sein schien. Jenna zuckte mit den Schultern und tat so, als habe sie keine Ahnung von was die da eigentlich sprachen.
„Tut es ja auch nicht.", in gewisser Weise sagte sie sogar die Wahrheit, denn bisher war nicht viel geschehen.
„Das sah aber ganz anders aus...", meinte Steph und verschränkte ihre Arme vor ihrem perfekten Körper. Im Vergleich zu Steph war sich Jenna schon immer wie ein tollpatschiger Elefant vorgekommen, doch nicht in diesem Moment. In diesem Moment fühlte sie sich ihr gegenüber ein klein wenig überlegen.
„Obwohl ich es mir eigentlich nicht vorstellen kann, denn was sollte Liam denn an dir finden?", schoss es aus Stephs Mund, bevor sie darüber nachdenken konnte. Jennas Blick änderte sich augenblicklich und diesmal sprang auch Maria in die Bresche.
„Steph, jetzt reicht es aber langsam! Die beiden sind befreundet und das wirst du nicht ändern können, selbst wenn du dich splitternackt vor Liam präsentierst und dabei noch Räder schlägst!", meinte Maria, die sichtlich wütend war. Doch nicht halb so wütend wie Jenna selber. Was bildete sich diese dumme Kuh eigentlich ein?
„Hey das war nicht so gemeint, ok? Ich meinte nur, dass Liam mir immer so vorkam als stehe er auf kleine zierliche Mädchen, weil dies seinen Beschützerinstinkt weckt. Jenna gehört halt definitiv nicht zu dieser Kategorie!", Steph redete sich um Kopf und Kragen und obwohl sie gerade gesagt hatte, dass sie es nicht so gemeint hatte, schien sie sichtlich Vergnügen daran zu haben auf Jenna herum zu trampeln.
„Irgendwie ist mir soeben der Appetit vergangen also entschuldigt mich!", meinte Jenna und schob ihren Stuhl zurück, um den Speisesaal zu verlassen. Oh Steph konnte sich noch auf was gefasst machen diese dumme Schnepfe.
„Die hat das echt voll in den falschen Hals bekommen, ehrlich!", hörte sie sie hinter sich noch klarstellen, doch sie glaubte ihr kein Wort. Steph hatte Angst, dass gerade jemand ihr Territorium betreten hatte und aus diesem Grund versuchte sie es zu schützen. Sie hatte keine Ahnung, dass sie dieses Territorium was Liam betraf niemals gehabt hatte.
Liam beobachtete Jenna, als sie in der ersten Reihe des eintönigen Zimmers saß und Mrs. Carwinkles Monolog über die Französische Revolution folgte. Liam hatte die meisten Informationen über diesen geschichtlichen Bereich aus einem Videospiel bekommen und wusste nicht so Recht, ob er sich auf die geschichtlichen Grundlagen dessen verlassen konnte und wollte eigentlich zuhören, doch er schaffte es nicht, denn der gestrige Abend ging ihm stetig durch den Kopf.
Wie zum Teufel war er auf die Idee gekommen, sich dermaßen an Carson ranzuschmeißen? Sein Gehirn hatte in diesem Moment ausgeschaltet und war es seither auch geblieben. Er hatte die Berührungen so sehr genossen, ihre weiche, warme Haut und ihre schnellen Atemzüge die ihm gezeigt hatten, dass sie es ebenso genoss. Sie hatte ihn beinahe um den Verstand gebracht und ihn dazu gebracht, ihr eine Antwort zu entlocken, die er so sehr gebraucht hatte. Sie hatte ihm das OK gegeben, was jedoch nicht bedeutete, dass er es sofort mit ihr treiben wollte. Auf keinen Fall, denn er wollte sie nicht verschrecken. Ihm war nicht nur der Sex mit ihr wichtig, der in der nächsten Zukunft vermutlich stattfinden würde, ihm war ihre Nähe wichtig, was ihm irgendwie Angst machte. Sie hatte ihm gestern die Frage gestellt, was geschehen würde, wenn sie sich in ihn verlieben würde und dies hatte ihn erschreckt. Doch Carson war nicht blöd. Sie wusste wer er war, sie kannte ihn zu gut um sich solch einem Gefühl hinzugeben. Doch leider konnten Menschen nicht immer beeinflussen für wen sie Gefühle hegten und für wen nicht. Was also würde geschehen, wenn es tatsächlich so weit kommen würde? Würde er sie verletzen, so wie er es immer getan hatte?
So wie es bei Kevin oder seinen Eltern gewesen war? So wie es bei all den Mädchen zuvor gewesen war? Er hatte das Gefühl, dass tiefe Gefühle für jemanden immer nur Schmerz mit sich brachten so wie er es selber einmal erlebt hatte.
Doch er konnte sich nicht von Carson fern halten nur weil es eventuell so weit kommen könnte. Er würde mit der Sache dann umgehen, wenn es so weit war und nicht heute schon den Teufel an die Wand malen. Seine Aufmerksamkeit wurde von Steph angezogen, die sich gerade zu ihm umdrehte und ihm zulächelte. Die Kleine verstand nicht, dass er keinerlei Interesse für sie hegte und er wusste nicht wie er ihr dies begreiflich machen sollte. Musste er es wirklich aussprechen? Musste er ihr wirklich ebenso weh tun, wie den Mädchen zuvor? Er hatte sie gestern eindeutig abblitzen lassen, sie für Jenna stehen lassen und sie verstand es immer noch nicht.
Was genau gestern eigentlich geschehen war wusste er nach wie vor nicht, doch er wusste, dass sich etwas geändert hatte. Er hatte sich immer wieder in den letzten zwei Jahren eingeredet, dass Jenna niemals die Art Frau sein würde, die sein Interesse erweckte, doch er musste sich mittlerweile eingestehen, dass er einfach immer schon hatte wissen wollen wie Jenna war.
Nein, nicht nur im Bett sondern ganz und gar. Sie hatte seine Neugier angestachelt, seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Noch niemals hatte er so viel Energie auf ein einziges Mädchen verwendet und vielleicht war alles, was die Jahre zuvor zwischen den Beiden geschehen war, eine Art Vorspiel gewesen. Ja vielleicht, doch egal was es gewesen war, es hatte ihn umso mehr überrascht als er festgestellt hatte, dass Jenna eigentlich saucool drauf war. Er hatte es nicht erwartet, hatte sich immer eingeredet, dass sie eine frigide Schnepfe war die mit Bres ein Leben geplant hatte, das sämtlichen Bilderbüchern entsprang. Vielleicht hatte sie das auch tatsächlich, doch davon war sie mittlerweile weit entfernt. Sie hatte sich auf ihn eingelassen und ihm ihr okay gegeben. Sie würde die Party heute Abend ausfallen lassen? Das war in Ordnung für ihn, er brauchte diese Partys nicht und vielleicht könnte er sie dazu bringen, ihre Zeit mit ihm zu verbringen. Und selbst wenn nicht, so würde dies nur seine Vorfreude schüren.
Ja Carson brachte ihn dazu, seinen Verstand auszuschalten, doch es war ein befreiendes Gefühl in ihrer Nähe zu sein. Sie kannte seine dunkelsten Seiten und sah über sie hinweg. Vielleicht würde er irgendwann doch eine Chance dazu bekommen, jemanden glücklich zu machen. Doch noch wichtiger war, dass er vielleicht die Chance bekommen würde selber glücklich gemacht zu werden. Wenn auch nur für ein paar Augenblicke.
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