9 - Sommer
„Los, spring schon!", rief Richard hinter dem Schilf hervor.
Er hatte Aveline an den See gebracht, damit sie sich waschen konnte. Zu lange war es her gewesen, seit ihre Haut das letzte Mal Wasser berührt hatte und Richard hatte darauf bestanden, dass ein Bad im kühlen See ihre Lebensgeister wecken würde.
„Wasser spült die Dämonen weg", hatte er gesagt, als sie gemeinsam durch das Waldstück zum See gingen.
„Aber mir ist so kalt", rief sie.
Richard war hinter die hohen Schilfrohre gegangen, damit sie ihr Bad alleine nehmen konnte. Allerdings hatte sie ihn gebeten, sich nicht zu weit von ihr zu entfernen. Für den Fall, dass sie irgendwelchen Wikingern am See begegnen sollte. Doch schien an diesem Morgen keiner da zu sein. Nur der Fischreiher, der unweit von ihr am Ufer stand.
Sie war alleine.
„Jetzt geh schon hinein!" Richard wurde allmählich ungeduldig. „Oder soll ich dich schubsen?"
„Wage es nicht!", fauchte sie zurück, was ihn kichern liess.
Der See war spiegelglatt, nur Avelines Beine, die im Wasser standen, brachen kleine Wellen. Sie scheute sich vor der Kälte, aber sie wusste, dass ihr ein kurzes Bad wohltun würde.
Dann warf sie einen letzten Blick zurück. Richard war weit und breit nicht zu sehen. Sie vertraute darauf, dass er sich nicht erdreisten würde, einen Blick auf ihren nackten Körper zu erhaschen. Seufzend zog sie ihr Untergewand aus und watete ins tiefe Wasser.
Die Kälte stach auf ihrer nackten Haut, aber jäh schoss das Blut durch ihre Adern und erweckte sie zu neuem Leben. Es war wirklich erfrischend! Aveline liess sich vom See verschlingen und tauchte ab. Während unzähligen Herzschlägen blieb sie unter Wasser, die Augen geschlossen, nur das Rauschen des Sees in den Ohren.
Es war ein schönes Gefühl in der Kälte zu schweben. Schwerelos. Ihr Kopf klärte sich und die Grausamkeiten der letzten Wochen lösten sich im klaren Wasser auf.
Sie wusch sich und schrubbte ihre Arme und Beine sauber. Dann stieg sie aus dem Wasser. Richard hatte ihr am Seeufer ein frisches Untergewand und ein sandfarbenes Kleid zurechtgelegt, welches sie sich über den Kopf zog. Der Stoff fühlte sich seltsam an. Wolle, irgendwie anders verarbeitet, als sie das von zuhause gewohnt war. Ein rauer und einfacher Stoff. Den braunen Taillengurt zurrte sie sich um die Hüfte, während sie zurück zum Schilf lief, in welchem Richard irgendwo auf sie wartete.
„Na, was habe ich dir gesagt?", begrüsste er sie mit einem breiten Grinsen.
Aveline rang sich ein Lächeln ab. „Du hattest recht", gab sie zu. „Jetzt fühle ich mich besser."
„Gut." Richard nickte zufrieden. „Dann lass uns jetzt zurück gehen. Die Arbeit wartet auf uns."
Gemeinsam gingen sie durch den Wald zurück zum Hof. Von Weitem sahen sie Hjalmar auf dem Feld. Er hatte bereits damit begonnen, das Feld zu beackern und winkte Richard energisch zu sich. Dieser fluchte leise, denn er war spät dran. Er wandte sich ein letztes Mal Aveline zu.
„Ich muss aufs Feld", sagte er und blickte ihr tief in die Augen, als wolle er sehen, ob sich darin noch Angst befände. „Geh zu Salka ins Haus. Sie wird dir zeigen, womit sie Hilfe braucht."
Aveline nickte wortlos. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Die Vorstellung, ganz alleine in diesem Raum zu stehen, ohne die beruhigende Anwesenheit ihres Leidensgenossen, war schrecklich. Richard schien ihre Unsicherheit zu spüren.
„Hab keine Angst vor ihr, hörst du?", sagte er mit sanfter Stimme. „Sie ist wirklich eine gute Frau."
Seine dunklen Augen schimmerten aufrichtig. Darin lag keine Lüge. Er sprach die Wahrheit, aber dennoch konnte das Aveline nicht beruhigen.
„Wie soll ich denn verstehen, was sie von mir will, ohne dass ich diese Sprache spreche?" Sie schluckte schwer. Kein Wort hatte sie verstanden, als sie gestern in dieser Wohnstube sass. Wie um alles in der Welt sollte sie dann verstehen, welche Arbeit man ihr aufbürdete?
Richard warf einen Blick zu Hjalmar, welcher ungeduldig auf seinen Gehilfen wartete.
„Das wird schon irgendwie gehen. Wenn du mich brauchst, ich bin nicht weit weg. Ruf mich einfach", meinte er sodann und lief zu seinem Herr. „Du schaffst das schon, mein Vögelchen!"
Aveline blickte ihm einen Moment lang hinterher, wie er über den Acker lief und zu seinem Herr aufschloss. Hjalmar klopfte ihm mit seinen riesigen Händen auf die Schultern. Die zwei Männer lachten und machten sich sodann gemeinsam an die Arbeit.
Seufzend wandte sie sich von ihnen ab.
Das grosse Wohnhaus wirkte an diesem Morgen mächtiger, bedrohlicher, als am Vortag. Aveline betrachtete die ungewöhnliche Bauweise. Alles nur aus Holz, selbst die Dachschindeln. Es war so anders als das Steinhaus in ihrer Heimat.
Beim Gedanken an ihr Zuhause zog sich ihr Magen zusammen. Sie wollte von hier weg. Der Wunsch nach Freiheit brannte so sehr in ihrem Herzen, dass es schmerzte und ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
Das war nicht das Leben, welches sie sich erhofft hatte. Versklavt unter Wikingern! Sie konnte und wollte nicht unter Normannen leben und für sie arbeiten. Dieses Schicksal wollte sie nicht hinnehmen. Wütend schüttelte sie den Kopf, sodass es ihre Locken herumwirbelte.
Sie wollte rennen, einfach nur von hier wegrennen!
Doch ihr war bewusst, dass sie nicht fliehen konnte. Es wäre leichtfertig, ja gar lebensmüde, wenn sie sich jetzt einfach davonmachte. Inmitten normannischen Gebietes! Kein Mensch mit klarem Verstand würde so etwas wagen. In Windeseile hätte man sie eingefangen und wahrscheinlich den Wölfen vorgeworfen.
Trotz aller Gefahr wollte sie fliehen, jede Faser ihres Körpers wollte es. Mit allergrösster Sehnsucht.
Bevor sie allerdings überhaupt in Erwägung ziehen konnte, davonzurennen, musste sie herausfinden, wo sie sich befand und in welche Richtung ihr Zuhause lag. Daran alleine scheiterte es schon. Sie war über das Meer hierher gekommen.
Nie hatte sie etwas vom normannischen Gebiet gehört. Das Einzige, was sie wusste, war, dass es irgendwo im hohen Norden liegen musste und sie hoffte inständig, dass sie nicht auf einer Insel gelandet war. Denn dann wäre jeder Fluchtversuch umsonst.
Sie erschauderte bei dem Gedanken und schüttelte ihn schnell wieder ab. Im besten Falle befand sie sich auf dem Festland und wenn sie es irgendwie nach Hause schaffen wollte, dann brauchte sie einen ausgeklügelten Plan.
Während sie überlegte, biss sie sich auf die Unterlippe. Hinter ihr hörte sie, wie Hjalmar Richard einen Befehl zurief. Sie waren komplett in ihrer Arbeit absorbiert und merkten nicht, dass sich Aveline noch keinen weiteren Schritt dem Wohnhaus genähert hatte.
Sie grübelte weiter. Es war besser, die Dinge nicht zu überstürzen, denn das konnte ihr hier das Leben kosten. Das Letzte, was sie diesen Monstern geben wollte, war ihre eigene Seele. Man konnte ihr ihre Freiheit rauben, nicht aber ihren Willen. Solange noch Luft durch ihre Lungen strömte und ihr Herz in der Brust schlug, würde sie nicht aufgeben.
Entschlossen schritt sie die drei Treppenstufen hoch, die zum Eingang des Hauses führten. Ihre Hand legte sie aufs raue Holz.
Es würde Zeit kosten. Ein guter Plan brauchte Zeit. Auch wenn sie sich am liebsten in der nächsten Nacht davonschleichen wollte, wusste sie, dass sie geduldig sein musste. Geduldig und unauffällig.
„Ich habe alle Zeit der Welt", flüsterte sie zu sich selbst.
Und als hätte der Klang dieser Worte sie besänftigt, schlug ihr Herz plötzlich nicht mehr so ängstlich unter ihren Rippen. Das Beben ihrer Hände, die an der Tür lagen und zögerten, verebbte ebenso. Die Zuversicht nahm sie ein. Der Mut, die Hoffnung.
Sie würde sich den Wikingern stellen. Erhobenen Hauptes. Sie würde sich nicht von ihnen brechen lassen.
Niemals!
Je länger sie über ihren Plan nachdachte, desto konkreter wurden die Ideen.
Als erstes würde sie die Gegend auskundschaften. Irgendwie würde man sie bestimmt lassen. Sie würde einen Grund finden, dass man es ihr erlaubte. Die Kenntnisse über das Gelände und welche Hindernisse es zu überwinden galt, waren für ihre Flucht essentiell.
Die zweite Hürde war die Sprache. Solange sie dieses grässliche Nordisch nicht verstand, war sie im Nachteil. Es war unumgänglich, dass sie diese merkwürdige Zunge lernen musste, damit sie verstehen würde, was die Leute um sie herum sagten.
Dann waren da noch die Gepflogenheiten dieser Heiden. Diese wollte sie sich auch verinnerlichen. Sie musste verstehen, wie sie lebten, glaubten und dachten, damit sie ihre Schwachstellen finden konnte. Schwachstellen, die sie zum richtigen Zeitpunkt zu ihrem eigenen Vorteil nutzen würde.
Ein Lächeln schlich auf ihre Lippen. Ein triumphierendes Lächeln.
Sie mochte schön sein — das wusste sie. Man hatte es ihr im Frankenreich so oft zugerufen. Doch sie war klug und das sah man nicht. Das war ihre Waffe. Aveline würde die Heiden mit ihrer List bezwingen.
Sie würde sprechen und handeln wie eine Normannin, aber tief in ihrem Herzen würde sie Aveline aus Fécamp bleiben. Bis zu dem Tag, an dem sie von diesem gottverlassenen Ort verschwinden würde!
„Denen werde ich es zeigen", murmelte sie, als sie die Tür zum Wohnhaus aufstiess und hineintrat.
・・・
An der Feuerstelle sass Salka und nähte. Sie blickte auf, als sie Aveline hereintreten hörte und grüsste sie freundlich. Aveline blieb regungslos am Eingang stehen und wartete, bis die Herrin ihr einen Befehl gab.
Salka winkte sie zu sich und sagte in ihrer Sprache: „Kom nu, kom nærmere."
Aveline trat ans Feuer heran. Salka streckte ihr ein weisses Stück Stoff und einen Faden mit Nadel entgegen. Es war ein Schlafgewand für einen Säugling. Der fragende Blick der Herrin liess vermuten, dass sie wissen wollte, ob Aveline imstande war, das Gewand selbst zu nähen.
Sie begutachtete den Stoff eine ganze Weile lang und inspizierte die Naht. Dann nickte sie. Nähen konnte sie — Fischernetze.
Salka schenkte ihr ein warmes Lächeln und bat sie sodann, sich auf dem Hocker neben dem Feuer niederzulassen.
Aveline gehorchte, überschlug die Beine, das Gewand auf ihrem Schoss, und begann zu nähen. Währenddessen machte sich Salka daran, das Essen zuzubereiten.
Das Feuer knackte, im Raum war es still. Doch dann erklang eine Melodie. Salka summte ein Lied leise vor sich hin, völlig in ihren eigenen Gedanken versunken. Aveline musterte sie von der Seite. Ihre Herrin wirkte glücklich und irgendwie ... zufrieden.
Aveline lauschte. Die ungewöhnliche Melodie resonierte in ihrem Inneren, schwang sich tiefer in ihre Brust und berührte ihr Herz. Es klang melancholisch, aber friedlich. Das Lied rührte sie so sehr, dass sich eine Träne von ihren Augenwinkeln löste und auf das Säuglingsgewand tropfte.
Schnell wischte sie sich übers Gesicht. Obwohl in ihrem Kopf noch die Fluchtgedanken schwirrten, kehrte Ruhe in ihrer Seele ein. Das Lied besänftige nicht nur das Ungeborene im Bauch der Mutter, sondern auch sie.
・・・
Die zwei Frauen gingen still ihrer Arbeit nach, als plötzlich das rote Tuch vor Ruriks Schlafgemach aufgeschlagen wurde und eine junge Dame mit blondem Zopf herauskam. Sie blickte lachend zurück ins Gemach und stolperte fast über Aveline.
„Oh, Verzeihung Salka, ich habe dich nicht ....", murmelte sie ihre Entschuldigung, doch blieb sie beim Anblick der Sklavin abrupt stehen. „He, warte Mal, du bist gar nicht Salka!", stiess sie aus.
„Nein", antwortete Salka und beförderte das Gemüse, welches sie geschnitten hatte, in den Kessel, „das ist Aveline, meine neue Hilfskraft. Guten Morgen auch dir, Inga." Der Vorwurf war deutlich zu hören.
„Guten Morgen ...", murmelte Inga noch immer irritiert über die Anwesenheit der neuen Sklavin. „Kann die überhaupt was?", fragte sie dann und machte eine wischende Bewegung in Avelines Richtung. Diese hob fragend den Blick.
„Seit wann interessieren dich die Fähigkeiten unserer Sklaven?", zischte Salka und warf Inga einen glühenden Blick zu. „Ist er endlich wach?"
Ingas Lippen formten sich zu einer schmalen Linie. Salka mochte dieses Weib nicht und zeigte es offen. Die Missgunst beruhte auf Gegenseitigkeit.
„Ja, ist er." Inga nickte.
„Rurik!", rief Salka ins Zimmer. „Kommst du bitte raus. Ich brauche dich!" Ihr Ton war bestimmend. So, wie sie immer mit ihrem kleinen Bruder sprach, wenn er sie mit seinen Frauengeschichten nervte.
Es kam keine Antwort, also wandte sich Salka an Inga. „Danke für deinen Besuch." Die Aufforderung war klar.
Inga setze ein künstliches Lächeln auf, sodass ihre Zahnlücke hervortrat, machte einen kurzen Knicks und lief aus dem Haus.
„Was denn schon wieder?", donnerte es aus Ruriks Zimmer.
Mit zerzausten Haaren und nacktem Oberkörper kam er aus dem Gemach gestampft und schnürte sich seine Hose zu. Salka stützte die Hände in die Hüfte, bereit dazu, ihren Bruder in die Schranken zu weisen.
„Musstest du diese Inga wirklich wieder nach Hause schleppen?", herrschte sie ihn an. „Kaum bist du zurück, fangen die Liebschaften wieder an." Rurik verdrehte bloss die Augen. „Ich hab's echt satt", fuhr Salka allerdings fort, „jeden Tag ein neues Mädchen hier bei uns in der Stube begrüssen zu dürfen."
Sie hob den Kessel vom Tisch, in der Absicht, ihn über den Dreibeiner zu hängen.
Rurik schnaubte laut. „Ich darf tun und lassen, was ich will", erwiderte er schulterzuckend. „Ist ja schliesslich auch mein Haus, Schwesterherz."
Salka schüttelte wortlos den Kopf und befestigte den Kessel am Haken.
„Also: Was brauchst du von mir?", fragte Rurik.
„Wasser", sagte Salka tonlos und streckte ihm einen Topf hin, „und zwar hurtig."
Rurik grummelte etwas Unverständliches und marschierte mit lauten Protesten aus dem Haus.
Salka seufzte laut. „Oh mein Liebes", sagte sie an Aveline gerichtet, „ich wünschte, du würdest unsere Sprache jetzt schon verstehen. Ich brauche eine Frau hier im Haushalt, die sich mit mir über dieses Männerpack aufregen kann. Hjalmar zuckt immer nur gleichgültig mit den Schultern. Dabei brauche ich jemanden, der mich versteht!"
Die Sklavin blickte zu ihr hoch und schenkte ihr ein unsicheres Lächeln.
・・・
Die Zeit verstrich.
Salka hatte sich an den Esstisch gesetzt und rieb sich den Bauch, der unangenehm spannte. Aveline sass ganz in der Näharbeit versunken am Feuer und als sie fertig war, erhob sie sich und streckte den Stoff ihrer Herrin entgegen. Salka griff danach, da fielen Avelines Augen auf ihren Unterarm.
Vom Handgelenk bis zum Ellbogen erstreckte sich ein roter Hautausschlag, den Salka schon seit Tagen besonders in der Nacht juckte. Reflexartig packte Aveline den Arm und hielt ihn fest.
„Oh", stiess Salka vor Überraschung aus.
Die kleinen, dünnen Finger ihrer Gehilfin waren unerwartet stark.Wortlos untersuchte Aveline den Unterarm und drehte ihn gegen das Licht. Dann hob sie die Lider und liess den Blick über die Küchennische schweifen. Sie suchte etwas.
„C'est une éruption de grossesse", versuchte sie auf Fränkisch zu erklären. „Je peux la guerir ... Puis-je sortir un instant?"
Salka blinzelte sie fragend an. Nichts, absolut nichts hatte sie von dieser seltsamen Sprache verstanden, aber sie vertraute ihrem Bauchgefühl und nickte. Die Fränkin schien zu wissen, was man gegen die roten Pusteln unternehmen konnte.
„Ja?", sagte sie vorsichtig.
„Ja", wiederholte Aveline in der nordischen Sprache. Dann lief sie zur Tür und verliess das Haus.
Salka blickte ihr etwas perplex hinterher. Doch wartete sie geduldig. Nach einem kurzen Augenblick kam Aveline auch gleich wieder zurück, in der Hand hielt sie Sanddornbeeren, die sie vom Waldrand von einem Busch gepflückt haben musste.
Aveline streckte ihr die Hand voller Sanddorn hin und zeigte mit ihrem Finger auf den Unterarm. In dem Moment kam Rurik vom Brunnen zurück und goss den Inhalt in den Kessel, welcher über dem Feuer hing. Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab.
„So, meine Arbeit ist für heute getan", liess er seine Schwester wissen und machte Anstalten, in sein Zimmer zurückzukehren, um dort wahrscheinlich den Rest des Tages zu verbringen. „Weck mich, wenn das Essen bereit ist", fügte er noch hinzu.
„Nein, du bleibst hier", gebot Salka, was ein frustriertes Knurren bei ihrem Bruder auslöste. „Kannst du mir die Milch schlagen?"
„Wofür habe ich dir eine Hilfskraft geholt?", jammerte Rurik. „Jetzt mal ehrlich. Kann das nicht sie machen?"
Er deutete mit der Hand auf Aveline, die noch immer mit vollen Händen vor ihrer Herrin stand.
Ein breites Grinsen formte sich auf Salkas Lippen. „Ich glaube, du hast mir nicht nur eine Hilfskraft geholt ...", meinte sie und nickte Aveline zu. Diese huschte sogleich zur Küchennische, holte sich eine Schüssel und einen Stössel vom Regal, vermengte die Beeren darin und verarbeitete alles zu Matsch. Rurik betrachtete sie stirnrunzelnd. „Sondern auch eine Heilerin", fügte Salka hinzu. Sie kam nicht darum herum, Stolz zu verspüren. Aveline hatte sich selbstständig gemacht, ganz ohne Furcht.
Rurik trat näher und blieb neben Aveline stehen. Er beobachtete sie, wie sie die orange Paste in ihren Fingern zerrieb und genau analysierte.
Dann hob Aveline den Blick und winkte Salka zu sich. Diese gehorchte schmunzelnd. Behutsam nahm Aveline ihren Arm und strich die Sanddornpaste auf den Hautausschlag. Sie versicherte sich, dass jede Stelle mit der Paste bedeckt war, riss Rurik das Tuch aus den Händen und wickelte es um Salkas Unterarm. Mit geübten Griffen hatte sie einen Verband gemacht.
„Et voilà", sagte sie zufrieden und stemmte beide Arme in ihre Hüfte.
Salka betrachtete ihren Unterarm ganz fasziniert. Eine angenehme Kälte breitete sich auf ihrer Haut aus und linderte den Juckreiz.
„Bei den Göttern", stiess sie begeistert aus. „Mein Arm brennt normalerweise den ganzen Tag. Jetzt ist es weg. Das ist wirklich gut. Sehr gut." Sie nahm Avelines Hand und drückte sie. „Hab vielen Dank!"
Aveline wiederholte die Worte leise murmelnd.
Salka wandte sich ihrem Bruder zu. „Rurik, du hast mir hier wirklich jemand ganz besonderes mitgebracht." Dieser grinste schief. „Jetzt zeig du ihr, wie sie die Milch schlagen soll. So klug, wie sie mir den Anschein macht, wird sie das im Handumdrehen lernen!"
Salka war glücklich. Sie setzte sich auf den Hocker am Feuer und hob ihre Beine auf den zweiten Stuhl, um sich auszuruhen. Ihre Beine waren vom vielen Stehen geschwollen. Während Rurik ihrer neuen Lieblingshilfskraft zeigte, wie man Milch zu Buttermilch schlug, lehnte sich Salka zurück und genoss das wohltuende Gefühl der Salbe auf ihrem Unterarm.
In knapp drei Vollmonden war es soweit. Sie würde ihr erstes Kind gebären.
Seit dem Tod der letzten Hilfskraft, Gwynn, hatte Salka sich grosse Sorgen gemacht, wie sie den ganzen Haushalt und die Arbeit rund ums Haus in ihrem Zustand schaffen würde. Mit Aveline hatte sie allerdings eine kompetente Unterstützung gewonnen.
Salka war sehr stolz auf ihren Bruder, der ihr das ermöglicht hatte. Schmunzelnd beobachtete sie, wie dieser der neuen Hilfskraft mit Händen und Füssen zu erklären versuchte, wie man Buttermilch schlug. Es war köstlich, ihnen dabei zuzusehen, denn die zwei verstanden kein Wort, was der andere sagte.
So beschloss Rurik, anstatt Worte zu wählen, es Aveline schlicht zu zeigen. Er begann, die Milch im Kessel kräftig zu schlagen und überreichte ihr dann den Rührlöffel. Sie ahmte seine Bewegungen nach, doch schien sie Mühe zu haben.
Rurik war mit ihren Schlägen nicht zufrieden und nahm den Löffel nochmals aus ihrer Hand. Er zeigte ihr, dass sie kräftiger schlagen sollte. Aveline biss sich auf die Zähne und schlug die Milch stärker als zuvor. So, wie es Rurik gezeigt hatte.
Doch plötzlich jaulte sie laut auf. Der Löffel fiel zu Boden.
Salka schreckte auf und auch Rurik warf der Gehilfin einen überraschten Blick zu. Aveline hielt sich die Flanke, ihr Gesicht vor Schmerz verzerrt.
Salka stand augenblicklich auf. „Irgendwas stimmt nicht."
Aveline murmelte ein paar Worte, die wie eine Entschuldigung klangen. Sie wollte nach dem Löffel greifen, Rurik liess sie aber nicht. Sie griff ins Leere und stöhnte laut auf.
„Hol Richard. Sofort", sagte Salka.
Rurik nickte und verliess die Wohnstube. Salka näherte sich ihrer Gehilfin, die gekrümmt dastand und sie mit panischem Blick anstarrte.
„Keine Angst", flüsterte sie. Avelines Atem ging schnell, ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem hektischen Rhythmus.
Dieser Anblick brach ihr fast das Herz. Kummer erfüllte Salkas Herz. Sie war besorgt, dass ihr Glück vielleicht doch viel zu kurz angedauert haben könnte. Sie setzte Aveline an den Tisch.
Rurik kam mit Richard und Hjalmar im Schlepptau zurück.
„Es gibt Schwierigkeiten?", erkundigte sich Richard. Sein Blick fiel auf die Gehilfin.
„Hat dir Aveline irgendwas von einer Verletzung erzählt?", wollte Salka wissen. „Sie hat Mühe, den Oberkörper zu bewegen. Schau." Sie deutete mit dem Finger auf Aveline. „Sie sitzt ganz schief da. Vorher war alles in Ordnung. Beim Milchschlagen hat sie aufgeschrien. Weisst du von irgendetwas?"
Richard zögerte.
„Nein", antwortete er dann leise. „Aveline hat mir nichts von einer Verletzung erzählt."
„Sie scheint aber deutliche Schmerzen zu haben", warf Hjalmar ein. „Atmet viel zu schnell."
Ihr Keuchen war deutlich zu hören. Richard schluckte schwer, als zaudere er. Salka warf ihm einen strengen Blick zu. Er wusste irgendwas und sie wollte, dass er augenblicklich damit rausrückte.
„Was weisst du?" Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Aufforderung.
Richard kratzte sich am Kopf. „Als ich sie heute Morgen zum See begleitet habe ...", begann er. Seine Stimme brach und er räusperte sich. „Da ist mir aufgefallen, dass sie beim Gehen schwer geatmet hat. Die leichte Steigung und mein schneller Schritt haben ihr Mühe bereitet. Ich hatte mir eigentlich nichts weiter gedacht, bis ich ..." Er biss sich auf die Oberlippe. „Bis ich sie beim Baden gesehen habe."
Rurik prustete laut auf und lachte in die Faust. Salka zog ihm mit der Handfläche eins über den Hinterkopf, um sein kindliches Verhalten zu unterbinden. Derweil fuhr Richard mit roten Wangen fort. Es schien ihm peinlich zu sein, zuzugeben, dass er Aveline beim Baden beobachtet hatte.
„Ich ... ich habe sie nur von hinten gesehen", verteidigte er sich.
„Und?", bohrte Salka nach.
Richard seufzte tief. „Ihr Rücken ist mit schrecklich blauen Flecken übersät. Ihre ganze rechte Seite ist voll damit. Sie muss sich irgendwie verletzt haben."
Salka legte sich die Hand an die Brust.
„Und dir, Rurik, ist die ganze Zeit also nichts aufgefallen?", maulte Hjalmar ihren Bruder an. „All die Tage auf See? Wurde sie geschlagen? Habt ihr euch an ihr vergangen?" Seine Stimme bebte vor Wut.
Rurik mahlte mit dem Kiefer.
„Nein", erwiderte er. „Ich hatte die ganze Überfahrt lang ein Auge auf sie. Man hat ihr kein Haar gekrümmt."
Hjalmar hob die Augenbrauen. Nicht aus Überraschung, sondern weil er seinem Schwager offensichtlich nicht glaubte.
„Und wie erklärst du dir also ihren Zustand? Hm?"
Rurik schwieg eisern, doch Salka kannte ihn. Er hatte dieselben Augen wie ihre Mutter. Darin sah sie, dass er ganz genau wusste, was geschehen war.
„Rurik?", fragte sie.
Ein langer Seufzer. Frust, der wie eine Last aus seinen Lungen wich. „Sie ist gefallen ...", gab er schliesslich zu. „Als ich ihr hinterher gerannt bin und sie gefangen habe." Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin auf sie drauf gefallen."
Hjalmar schüttelte den Kopf, worauf Rurik beschwichtigend sagte: „Es war nur ein kleiner Sturz. Ist doch alles halb so schlimm."
Salkas Mann schnaubte. Ein verächtliches Schnauben. „Halb so schlimm? Dass ich nicht lache!" Er warf Rurik einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du bist so schwer wie ein Ochse. Wir sollten Odin danken, dass sie noch lebt!"
Rurik verschränkte die Arme vor seinem nackten Oberkörper.
„Wie lange willst du auf mich sauer sein, dass ich deiner Frau eine Hilfskraft besorgt habe?", wollte er diskutieren, doch Hjalmar kam ihm dazwischen.
„Eine zerschlagene Hilfskraft hast du ihr gebracht! Das ist so viel wert wie gar nichts. Die wird deiner Schwester nicht helfen können!"
Richard hob beschwichtigend die Hände. „Vielleicht habe ich die Verletzung nicht gut genug gesehen", versuchte er die Stimmung zu entschärfen. „Ich war weit weg. Vielleicht ist alles wirklich nur halb so schlimm."
Rurik nickte bei diesen Worten, Hjalmar knurrte bloss.
„Ich will es sehen", meinte dann Salka.
„Wie bitte?" Richard wurde bleich, aber Salka blieb beharrlich.
„Ich will ihren Rücken sehen", wiederholte sie. „Und dann fragst du sie, was sie von ihrer Verletzung denkt. Aveline scheint einiges über Heilkunde zu wissen. Vielleicht kann sie ihre Verletzung selber einschätzen. Ich will es von ihr hören."
Alle drei Männer starrten sie an, als wären ihr Hörner gewachsen.
„Zieh sie aus. Ich will es sehen."
Richard schluckte leer, beugte sich dann über seine Freundin und erklärte ihr auf Fränkisch, was soeben über ihren Kopf hinweg diskutiert worden war. Aveline riss die Augen auf. Ihr Blick huschte von Richard zu Salka, flehentlich. Doch Salka blieb hart. Sie wollte die Verletzung sehen.
„Zieh sie aus", wiederholte sie ihre Aufforderung.
Richard führte seine Hände an die Schlaufe am ihrem Rücken und flüsterte Aveline beruhigende Worte zu. Sie ergab sich, richtete den Blick fest auf den Tisch vor ihr und schlüpfte aus den Ärmeln. Er legte ihre Schultern frei und schob das Kleid zur Seite, sodass man ihre Rückseite im Licht des Feuers sah. Aveline presste den Stoff an ihre Brust, damit sie nicht komplett entblösst vor der Familie sass.
Salka stiess einen erschreckten Schrei aus, Hjalmar verzog das Gesicht. Rurik, der auf der gegenüberliegenden Seite stand und nichts sah, runzelte bloss die Stirn.
„Rurik, du bist wohl schwerer als ein Felsbrocken!", wurde er von Hjalmar geschmäht.
„Ach, kommt schon", sagte er und schritt auf sie zu, um sich selbst ein Bild von der Verletzung zu machen. „Ist doch halb—" Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
„So schlimm?", beendete Hjalmar seinen Satz. „Blau, grün, violett, schwarz, gelb. Halb so schlimm?"
Rurik schluckte leer, als er das ganze Ausmass seines Hechtsprunges auf dem Rücken der Sklavin sah.
„Das... das war keine Absicht", murmelte er, plötzlich um einige Farbtöne bleicher im Gesicht. „Ich wollte sie nicht verletzen, ich wollte sie nur stoppen."
Aveline fummelte mit zitternden Händen am Kleid, im Versuch, sich das Kleidungsstück wieder über ihre Blösse zu ziehen. Salka holte eine Decke und legte sie um die Schultern ihrer Sklavin.
„Wie lange wird es dauern, bis sie wieder bei Kräften ist?" Die Frage war an Richard gerichtet, der sie ratlos anblinzelte. „Na, los. Frag sie!"
Er nickte und tauschte ein paar flüchtige Worte mit Aveline aus. Als sie ihm die Antwort auf die Frage gab, richtete er sich wieder auf. Er wirkte erleichtert.
„Sie vermutet, dass sie sich die Rippen gebrochen hat. Die Heilung von Rippenbrüchen dauert etwa zwei Vollmonde, wahrscheinlich weniger, wenn sie sich schont", gab er Avelines Worte wider.
„Ist sie sich sicher?"
Richard richtete die Frage abermals an die Gehilfin. Aveline hob die Lider, um Salka in die Augen zu blicken. Das Feuer tanzte darin. Sie nickte.
„Oui", kam die Antwort und Salka verstand.
Sie stiess erleichtert die Luft aus.
„Gut. Dann sag ihr bitte, dass sie sich alle Heilkräuter zusammensuchen kann, die sie für eine schnelle Heilung braucht. Im Wald hier nebenan sollen viele Kräuter und Wurzeln wachsen. Ich vermute, sie hat Heilkenntnisse?"
Richard bejahte mit einem Kopfnicken.
„Sie darf sich frei bewegen und bekommt die Erholung, die sie braucht. Bis das Kind da ist. Danach werde ich sie ganz in Anspruch nehmen müssen. Ich erwarte sie nach zwei Vollmonden bei voller Gesundheit."
Richard übersetzte und Aveline nickte, erleichtert und dankbar zugleich. Salka schenkte ihr ein Lächeln, dann scheuchte sie alle Männer aus dem Haus.
Das war genug Aufregung für einen Tag.
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