8 - Sommer
„Wer ist das?", fragte Salka ihren Bruder und deutete auf die vor Nässe triefende Frau.
„Das, liebe Schwester", antwortete Rurik mit diesem stolzen Schmunzeln auf den Lippen, „ist ab heute deine neue Hilfskraft."
Er umkreiste die Sklavin und nahm ihr den schwarzen Umhang mit seiner Brosche von den Schultern. Augenblicklich verschränkte die junge Frau die Arme vor der Brust. Sie schlotterte vor Kälte.
„Meine neue Hilfskraft, sagst du?", hakte Salka nach. Sie legte den Kopf schief und musterte den zierlichen Körper der Fremden. Sie war klein und fein, wirkte gar etwas zerbrechlich.
Rurik schob die Sklavin näher zu seiner Schwester. „Ja, genau. Habe sie für dich mitgebracht."
„Sie ist sehr jung", stellte Salka fest, während sie das Gesicht der Frau betrachtete.
Rurik nickte. „Sie wird dir lange erhalten bleiben, Salka. Sie ist von der Reise auf dem Schiff zwar etwas geschwächt, aber sie wird schnell zu Kräften kommen, wenn du sie mit deinen Suppen verpflegst. Dann kannst du dich entspannen, bis das Kind kommt." Er stützte die Hände in die Hüfte und blickte seiner Schwester in die Augen. „Was meinst du?", bohrte er nach.
Neugierig umrundete Salka die Sklavin, welche totenstill und so starr wie ein Eisklotz im Raum stand. „Hm, ja", dachte Salka laut, „ich werde sicher von ihr Gebrauch machen können." Sie blieb direkt vor der jungen Frau stehen und lächelte sie an. „Bis zur Geburt kann sie mir beim Kochen helfen und danach mich mit dem Kind unterstützen." Sie drehte sich zu Rurik um. „Danke, mein Bruder, das ist wirklich lieb von dir!", sagte sie und schenkte ihm eine Umarmung. „Wo hast du sie aufgelesen?"
Rurik löste sich von ihr und zog die Sklavin etwas näher zum Feuer. Sie schlotterte noch immer fürchterlich. Salka gab ihr zu verstehen, dass sie sich auf den Hocker neben dem Feuer setzen solle. Die Frau gehorchte wortlos.
„Am Strand, als wir im Frankenreich gelandet waren, habe ich sie gesehen", erwiderte Rurik. „Sie wollte von mir wegrennen und war wirklich schnell für ein Mädchen, aber ich habe sie eingeholt. Dann, als ich sie gefangen hatte, dachte ich, dass ich sie für dich mitbringen könnte."
Er zuckte mit den Schultern und rieb sich dabei am Kinn. Das tat ihr Bruder immer dann, wenn er verlegen war. Salka schmunzelte. Ihr Bruder hatte ein grosses Herz und es war seine Art, ihr dafür zu danken, dass Hjalmar und sie ihn bei sich wohnen liessen.
Da kam Hjalmar durch die Tür, ein Stapel Holzscheite in der Hand. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich, als er das Mädchen erblickte. Er warf Rurik einen wütenden Blick zu.
„Hjalmar ...", versuchte Salka ihren Mann gleich zu besänftigen.
„Was soll das?", wollte dieser wissen. Er stampfte zum Feuer und beförderte die Holzscheite auf den Boden.
„Ich habe Salka eine Sklavin mitgebracht. Aus dem Frankenreich", erklärte Rurik.
Hjalmar prustete laut auf und deutete mit dem Finger auf die Fränkin. „Für Salka", fauchte er. „Dass ich nicht lache! Schau dir doch dieses junge Ding an! Ein wunderschönes Mädchen." Er wurde lauter. „Wahrscheinlich sind die Götter sogar neidisch. Ich glaube kaum, dass du sie bloss für Salka hierher gebracht hat. Du hast sie für dich geholt, damit du was Schönes zum Spielen hast."
Die Sklavin machte sich kleiner, das konnte Salka aus den Augenwinkeln sehen. Für sie musste Hjalmars beherrschende Stimme sehr angsteinflössend sein. Salka wollte aber nicht, dass sie sich fürchtete. Sie sollte sich hier schliesslich wie zuhause fühlen.
„Nein, Hjalmar", wandte Rurik ein. „Das war nicht mein erster Gedanke. Seit letztem Winter fehlt es uns dringend an einer zweiten Hilfskraft. Richard schafft nicht die ganze Arbeit alleine und du und Salka werdet bald mit ganz anderen Sachen beschäftigt sein, als Haus- und Feldarbeit." Er fuchtelte mit den Armen vor seinem Körper herum. „Ausserdem können wir es uns nicht leisten, einen Sklaven hier beim Händler zu kaufen. Darum habe ich mir eine Sklavin genommen und auf dem Schiff Anspruch auf sie erhoben. Das war die beste Lösung für uns alle." Er wirkte gereizt.
Hjalmar schüttelte seinen Kopf. „Ich will gar nicht wissen, wie sauer Ragnar jetzt ist, weil du dir so eine Sklavin markiert hast! Du weisst ganz genau, dass der immer nur das Schönste und Beste für sich behalten möchte. Das schliesst auch Sklaven ein!" Seine Stimme donnerte durch den Raum. Die Sklavin begann nun sichtlich zu zittern. Salka wollte etwas sagen, doch da wurde sie von Rurik unterbrochen.
„Ragnar hat mir diesen Anspruch gewährt. Wegen meines Einsatzes im letzen Winter", zischte er zurück.
„Ach ja?" Hjalmar lachte höhnisch auf. „Leere Worte sind das! Du solltest Ragnar Sigurdson mittlerweile besser kennen als das. Der redet mehr, als er meint! Glaub's mir, du kommst deswegen noch in Schwierigkeiten. Jetzt, da er dir das gewährt hat, wird er irgendwann etwas zurückverlangen. Genau dann, wenn du es zuletzt erwartest."
Rurik ballte die Fäuste und machte einen drohenden Schritt auf Hjalmar zu.
„Das wird er nicht!", grollte er. „Ragnar stand in meiner Schuld und die hat er damit beglichen. Er hat mir sogar einen grossen Silberbeutel mitgegeben. Mehr als üblich."
„Dieses blöde Silber ist mir einerlei! Wir kommen auch ohne ganz gut zurecht", rief Hjalmar und packte einen Scheit. „Wie hast du dir das verdient, hm? Indem du unschuldige Menschen abgeschlachtet hast? Indem du armen Leuten ihr letztes Hemd gestohlen hast? Indem du eine junge Frau von ihrem Zuhause entrissen hast, in ein Land, in dem sie kein verdammtes Wort versteht? Damit hast du dir dieses Silber verdient? Zur Hel kannst du mit dem Silber! Ich will das Geld nicht und ich will diese Sklavin hier nicht in unserem Haus haben! Nur ein weiteres Maul, das wir füttern müssen!" Mit diesen Worten warf er den Holzscheit ins Feuer. Die Glut wirbelte auf.
Salka stellte sich zwischen die Männer. „Ruhig! Ich mag dieses Zanken nicht", sagte sie mit möglichst sanfter Stimme. Dann wandte sie sich an ihren Mann. „Liebster, ich bin froh, dass Rurik mir eine Hilfskraft geholt hat. Ich stimme dir zu, dass die Umstände wohl etwas unschön sind, aber so ist es nun mal." Sie rieb sich den Bauch. „Dieses Kind wird bald zur Welt kommen und ich brauche eine Frau, die mir bei der Geburt unseres Sohnes helfen wird. Da seid ihr Männer nicht zu gebrauchen. Die Götter haben es so gewollt, dass Rurik mir diese Frau als neue Sklavin bringt. Dem Willen der Götter werden wir uns fügen — ob wir es mögen oder nicht."
Hjalmar schnaubte, wandte sich von ihr ab und schritt zur Küchenecke. Dort schnappte er sich den Bierkrug und goss die klebrige Flüssigkeit in einen Becher. Dann setzte er sich mürrisch an den Esstisch und leerte den Becher in wenigen Zügen. Salka drehte sich zu ihrem Bruder um, der noch immer vor Wut bebend im Raum stand.
„Und dir, Rurik, danke ich für deine Grosszügigkeit. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach war, diese Hilfskraft für mich zu besorgen. Sie wird mein Leben sehr erleichtern und mich gut unterstützen können. Hab vielen Dank", sagte sie, griff nach seiner Hand und drückte sie.
„Gern geschehen", murmelte Rurik etwas ruhiger.
Salka schmunzelte. Nun, da sich alle wieder beruhigt hatten, war es an der Zeit, das unbekannte Wesen kennenzulernen. „Und wie heisst denn unsere hübsche neue Hilfskraft?", fragte sie.
Rurik zuckte mit den Schultern. „Weiss nicht."
Salka lachte auf. „Na, dann wollen wir das doch herausfinden!"
„Sie wird dich nicht verstehen, Schwester", meinte Rurik. „Sie spricht kein Wort unserer Sprache. Ich hab's vorher schon versucht." Er ging zum Esstisch und setzte sich neben Hjalmar hin.
Die Sklavin merkte, dass jetzt ihr plötzlich die ganze Aufmerksamkeit galt. Sie lehnte sich auf dem Hocker etwas weiter nach hinten, ihre Augen huschten ängstlich von Salka zu Rurik. Sie presste ihre Hände in den Schoss.
Salka zeigte mit ihrem Finger auf die Sklavin und fragte: „Wie heisst du?"
Die Fränkin blinzelte. „Quoi?"
Salka lächelte und zeigte mit ihrer Hand auf sich selbst. „Salka", sagte sie und deutete dann mit derselben Hand wieder auf die Sklavin. „Und du?"
Ein helles Licht flackerte in den goldenen Augen der Fränkin. Sie musste verstanden haben, was Salka von ihr wollte. Sie benetzte sich ihre Lippen.
„Aveline", krächzte sie leise. Sie war heiser.
„Wie?", wollte Salka nochmal wissen, denn sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte.
„A V E L I N E", wiederholte die Fränkin langsamer und deutlicher.
„Aveline", ahmte Salka sie nach. Der Name fühlte sich anders in ihrem Mund an.
Salka wiederholte die Silben mehrmals, damit sie sich an den Klang gewöhnte. Dann zeigte sie auf ihren Bruder und sagte: „Rurik."
Aveline wiederholte seinen Namen laut. Sie hatte hörbare Mühe mit der Aussprache. Salka nickte ihr aufmunternd zu und deutete zum Schluss auf ihren Gatten, welcher in der Ecke sass und sein Bier trank.
„Hjalmar."
Auch diesen Namen wiederholte Aveline laut, um sicherzustellen, dass sie ihn richtig aussprach. Salka grinste. Der Anfang war geschafft!
Doch da wurden die Augen von Aveline ganz glasig. Sie schluckte schwer und versuchte, die Tränen, welche ihr in die Augen schossen, wegzublinzeln.
Salka sah sofort, dass sie unglücklich sein musste. Die letzten Tage mussten sie komplett überwältigt haben. So wandte sie sich an ihren Mann.
„Mein Liebling", bat sie ihn. „Kannst du Aveline bitte ins Arbeiterhaus zu Richard bringen? Er soll ihr das Bett richten. Ich denke, sie braucht für heute einfach nur Ruhe. Draussen stürmt es sowieso. Uns bleibt nichts anderes übrig, als Thor toben zu lassen."
Hjalmar stand auf, packte die Sklavin am Arm und führte sie aus dem Wohnhaus in den Regen.
・・・
Aveline begann sofort wieder zu zittern, als der kühle Wind ihr entgegenschlug. Draussen war es bitterkalt geworden und es regnete in Strömen. Blitze zuckten am Himmel, die Donner drangen verzögert zu ihnen herüber.
Der Kerl namens Hjalmar ging mit entschlossenem Schritt über den Hofplatz auf eine Hütte zu. Aveline folgte ihm wortlos. Er öffnete ihr die Tür und sie trat in die kleine Unterkunft.
Auf einer Liege ruhte ein Mann mittleren Alters mit rabenschwarzen Haaren. Er sprang sofort auf, als sie hereinkamen. Der stämmige Wikinger bellte ihm irgendwas zu. Der unbekannte Mann nickte und schon liess sie Hjalmar alleine zurück.
Aveline liess entsetzt ihren Blick durch den Raum schweifen. Es war weitaus bescheidener und unaufgeräumter als das schöne Wohnaus. Auch in dieser Hütte befand sich inmitten des Raumes eine Feuerstelle. Der hintere Teil war vollgestellt mit Zaunpfählen, alten Kisten, Werkzeugen und Körben.
Das schmale Bett, auf welchem der schwarzhaarige Mann gelegen hatte, war mit einem Kuhfell bedeckt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand ein zweites Bett. Darauf lagen ein Besen und eine Schaufel.
Aveline blickte verunsichert um sich. Der Mann kam auf sie zu, legte seine Hand auf die Brust, senkte seinen Kopf und sprach mit leichtem Akzent auf Fränkisch: „Mein Name ist Richard. Ich bin die Hilfskraft der Familie."
Aveline klappte der Mund auf. Sie hatte nicht erwartet, dass dieser Mann ihre Sprache sprechen würde! Sie verbeugte sich rasch zum Gruss, während ein Gefühl der Erleichterung ihr in die Brust strömte.
„Wie heisst du?", fragte er.
„Ich bin Aveline."
Richard machte eine einladende Bewegung mit dem Arm. „Sehr erfreut, Aveline", sagte er. „Was für ein schöner Name!" Er lachte und rieb sich dann etwas geniert am Hinterkopf. „Du musst bestimmt müde sein", fuhr er fort und deutete auf seine Liege. „Bitte setz dich auf mein Bett, bis ich deines gerichtet habe. Entschuldige die Unordnung, aber im Sommer habe ich immer so viel zu tun, da komme ich gar nicht dazu, hier aufzuräumen."
Aveline ging seiner Bitte nach und setzte sich auf sein Bett. Richard begann sogleich, den ganzen Kram von der zweiten Liege zu räumen. Er streckte ihr ein altes Hemd hin, mit welchem sie sich trockenreiben sollte. Während er alles sauber machte, musterte Aveline ihren neuen Zimmergenossen.
Er war mager und seine Haare lagen ihm kurz und unschön geschnitten auf dem Kopf, so als ob er sich selbst die Haare gekürzt hätte. Er trug eine schwarze Hose und ein weisses Leinenhemd mit spitzem Ausschnitt, woraus seine dunklen Brusthaare hervortraten.
„Warum sprichst du Fränkisch?", wollte Aveline wissen.
Richard stellte den Besen und die Schaufel klappernd in eine Ecke. „Ich war einmal ein Kaufmann im angelsächsischen Reich und habe viel Handel mit Menschen aus dem Frankenreich betrieben", erwiderte er. „Da lernt man die Sprache schnell! Und ihr Franken wollt ja unsere Sprache nicht lernen, also habe ich es halt getan. Hätte nicht gedacht, dass ich das jemals wieder sprechen müsste. Diese nordische Sprache raubt mir die Worte meiner eigenen Zunge. Ich fange an, sogar in Nordisch zu träumen! Hätte ich nie gedacht, dass mir das einmal passiert, nach all dem."
Er schien in Plapperlaune zu sein. Aveline fragte sich, ob er hier einsam war. Allein unter Wikingern.
Aus irgendeiner Ecke holte Richard eine Wolldecke hervor, die er über ihr Bett zog.
„Et voilà!", sagte er zufrieden und klopfte sich die Hände ab. „Deine Schlafstelle ist fertig."
„Danke", murmelte Aveline und setzte sich auf ihr frisch gemachtes Bett. Die Pritsche war hart und die Decke roch nach Staub.
Richard legte sich der Länge nach in sein Bett und gähnte etwas, das nach „Gern geschehen" klang. Aveline liess den Blick abermals durch den Raum schweifen. Es wurde still zwischen den beiden.
„Wie lange bist du schon hier?", brach Aveline die Stille, denn es war ihr unangenehm. In der Ruhe würden ihre schrecklichen Erinnerungen zurückkommen, um sie zu martern. Das wollte sie vermeiden, so suchte sie verzweifelt das Gespräch. Diese bedrohliche Stille musste sie mit Worten füllen. Mit irgendwas, damit die traurigen Gedanken sie nicht einnehmen konnten.
Richard kratzte sich am Kinn. „Lass mich überlegen", murmelte er. „Ich glaube, es sind mittlerweile schon vier Jahre."
Aveline riss die Augen auf. Vier Jahre in Gefangenschaft. Das war eine unglaublich lange Zeit. Nie hätte sie gedacht, dass Wikinger Sklaven so lange leben lassen würden.
„Und ... wie bist du hierher gekommen?", wollte sie weiter wissen.
Richard drehte sich um, sodass er ihr zugewandt war.
„Wahrscheinlich nicht anders als du, mein Vögelchen!", antwortete er. „Ich wurde gefangen genommen, als sie in Northumbria eingefallen sind. Haben alles geschlachtet, was nicht schnell genug wegrennen konnte. Mich haben sie mitgenommen. Ich weiss wirklich nicht warum." Für einen Moment starrte er in die schwache Flamme vor ihm, doch dann richtete er seinen Blick wieder auf Aveline. „Dann hat mich Hjalmar beim Fest ersteigert und seither lebe ich mit ihm und seiner Familie hier." Ein Lächeln kroch über seine Lippen. „Glaub es mir, diese Familie ist ein Segen! Das sind gute Menschen", versicherte er ihr. „Mir haben sie nie ein Haar gekrümmt, haben mich immer gut behandelt und sie bezahlen mich mit einem Dach über dem Kopf und gutem Essen — ich schwöre bei Odin, was Salka kocht, ist einfach göttlich!"
Aveline konnte seinen Worten keinen Glauben schenken. Sie wollte es nicht. Diese gottlosen Menschen hatten ihr Zuhause zerstört, sie verschleppt und sie behandelt, als sei sie ein Vieh auf dem Fleischmarkt. Daran war nichts segensreich. Sie schüttelte bei dem Gedanken den Kopf.
„Du bist also der Sklave der Familie?", fuhr sie in ihrer Fragerei fort.
Richard zuckte mit den Achseln. „Ich würde es nicht Sklave nennen. Eher eine Hilfskraft, wenn wir es genau nehmen wollen. Sie behandeln mich nicht wie einen Sklaven. Odin sei Dank! Ich unterstütze beide Familien: Jarson und Erikson."
Aveline blinzelte verwirrt. Sie verstand nicht ganz, worauf Richard hinauswollte. Sie hatte nur drei Personen im Wohnhaus gesehen. Wie konnte er da von zwei Familien sprechen?
Richard erkannte ihre Verwirrung und fuhr in seiner Erklärung fort: „Also, das musst du so verstehen: Hjalmar gehört der Bauernhof. Rurik und Salka sind Geschwister und sind erst später bei ihm eingezogen. Nach der Vermählung."
„Salka ist mit Hjalmar verheiratet?"
„Ja genau. Sie bekommen bald ihren ersten Sohn."
„Woher wissen sie, dass es ein Junge wird?"
Richard seufzte. „Oh, frag lieber nicht. Sie wollen einfach einen Burschen, darum sagen sie, dass es ein Junge wird."
Aveline starrte ins Feuer. Die Flammen tanzten vor ihr und warfen ein dunkelrotes Licht in den Raum.
Ihr Magen grummelte — sie hatte Hunger. Seit unzähligen Tagen hatte sie kein richtiges Mahl mehr gehabt. Richard schmunzelte und warf ihr einen Apfel zu, den er unter seinem Bett verstaut hatte. Sie wollte sich bedanken, doch er winkte ab.
„Ist eh besser, wenn der heute gegessen wird", meinte er. „Sonst schleichen sich nur wieder die Ratten an."
Aveline biss in den Apfel. „Gibt es hier keine Hofkatze?", fragte sie kauend.
„Nein, leider nicht. Katzen hat es hier allgemein sehr wenige", erwiderte Richard. „Die Normannen nehmen sich lieber Wölfe als Haustiere." Er zwinkerte ihr zu.
Aveline verschluckte sich fast an ihrer Frucht. „Ist nicht wahr!", stiess sie aus.
Richard lachte ab ihrer Überraschung laut auf. „Doch, doch!", sagte er. „Die Wikinger sind furchtlose Menschen. Sie jagen Bären und töten sie mit ihren baren Händen. Du hast sicher all die Tierfelle gesehen, die sie um ihre Schultern tragen. Wenn diese Menschen das schaffen, dann können sie auch Wölfe zähmen."
Aveline nickte stumm und starrte weiterhin ins Feuer. „Ich weiss nicht, ob sie wirklich Menschen sind. Auf mich wirken sie eher wie ... Monster", flüsterte sie und warf den Apfelkern ins Feuer.
Richard setzte sich auf und blickte sie ernst an. In seinen braunen Augen schimmerte das Mitgefühl, das konnte Aveline deutlich sehen. Er musste selbst wissen, was es bedeutete, alles durch die brutale Hand dieser Heiden zu verlieren. Er schien zu überlegen.
„Komm, erzähl mir etwas von dir", sagte er dann und Aveline beschlich das Gefühl, dass er vom Thema ablenken wollte. „Woher kommst du genau? Ich will alles wissen!"
Erst zögerte sie, doch Richard bestand darauf, mehr über sie zu erfahren. So tat sie es. Sie begann zu erzählen. Richard hörte aufmerksam zu und hakte hier und dort nach. Eine ganze Weile lang sprach sie, bis ein Lächeln ihr Gesicht zierte.
Die Erinnerungen an ihre Familie und an ihr Herkunftsland füllten sie mit einem tröstenden Gefühl. Zumindest die Erinnerungen konnten sie ihr nicht wegnehmen. Die gehörten für immer ihr.
Richard legte sich hin. „Nimm's mir bitte nicht übel, Aveline, aber ich bin todmüde", sagte er und gähnte laut. „Ich muss unbedingt schlafen. Mach dir für heute keine Gedanken mehr über die Normannen. Leg dich einfach hin und mach die Augen zu. Der Schlaf wird kommen — vertraue mir." Er drehte ihr den Rücken zu. „Ich sorge dafür, dass hier drin, in diesem kleinen Häuschen unsere eigene Welt herrscht. Nur wir zwei, keine Wikinger. In Ordnung?"
„In Ordnung", hauchte sie.
„Gute Nacht", murmelte Richard.
„Gute Nacht."
Als er tief und fest schlief, zog sich Aveline das schmutzige Kleid vom Körper. Für einen Augenblick hielt sie den rau gewordenen Stoff ihres einst blauen Kleides in den Händen und betrachtete es. Der Saum war an mehreren Stellen gerissen und hing in Fäden herunter, die Farbe war verblasst und der Stoff dreckig.
Aveline seufzte bei dem Anblick. Das Kleid hatte sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Es war ihr Lieblingskleid gewesen, weil es ihr so gut stand und weil es so unendlich weich und schön war.
Sie schluckte leer und faltete den steifen Stoff zu einem Päckchen zusammen, welches sie sich unters Bett schob. In ihrem Untergewand kroch sie unter die Decke und legte sich auf den Rücken. Das Bett knirschte.
Draussen prasselte der Regen stärker aufs Dach des Arbeiterhauses.
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