6 - Sommer
Rurik stand mit den Männern vom Beutezug vor dem Sippenhaus und wartete, bis man sie fürs Fest in die Halle liess. Die Rückkehrer waren gut gelaunt. Es wurde gelacht und gewitzelt. Einige Männer sahen sich erst jetzt wieder. Im Getose des Überfalls konnte man sich schnell verlieren und so war das Warten vor dem Sippenhaus für viele ein guter Augenblick, sich mit seinen Freunden wieder zu vereinen und sich über die Abenteuer, die jeder erlebt hatte, auszutauschen.
„Audgisil!", rief Rurik durch die Menge. Er hatte seinen Freund im Gewimmel erkannt.
War auch nicht schwierig, denn Audgisil stach deutlich aus der Menge hervor. Er war einen Kopf grösser als Rurik und breit gebaut — ein Hüne mit dunklem Schopf und schwarzem Bart. Audgisil, der Bär, wie man ihn nannte. Er trug zur Feier des Abends einen dunkelbraunen Bärenpelz über dem Rücken.
„Rurik, der Schnelle!" Audgisil lachte und drückte sich durch die wartende Menge. Die Männer begrüssten sich mit einem Klopfen auf die Schultern.
„Schön zu sehen, dass dich die Walküren noch nicht geholt haben", sagte Rurik.
„Noch ist meine Zeit nicht gekommen. Odin will, dass mein Weib weitere acht Kinder auf die Welt setzt — Midgard braucht mehr Riesen", erwiderte Audgisil.
Loki gesellte sich zu den zwei Freunden. „Deine arme Frau! Kaum zu glauben, dass sie schon drei deiner Kinder überhaupt gebären konnte, so riesig wie die waren!", witzelte er. „Wenn sie so weiter macht, verwandelt sie sich bald in einen Wal!"
„Was sagst du?", rief Audgisil empört und schlug Loki mit der Faust in den Bauch. Dieser krümmte sich kichernd.
„Wie ist es euch beim Beutezug ergangen?", lenkte Rurik ein.
„Oh, es war fantastisch!", erwiderte Audgisil und liess Loki los. „Wir waren sehr erfolgreich. Sind hoch zu einem Frauentempel. Der war voll mit alten und jungen Weibern, alle gleich angezogen. Ich wette mit dir, das waren irgendwelche Priesterinnen. Alles Jungfrauen! Kannst dir vorstellen, was mit den meisten von ihnen passiert ist." Der Hüne lachte laut und klopfte sich auf den Bauch. „Ich sag's dir, ein absolutes Fest hatten wir dort. Die Männer konnten sich nicht zurückhalten. Wir wollten einige der Priesterinnen mit nach Ribe nehmen, aber dann hat Ari, dieser Dummkopf, aus Versehen den Tempel zu früh angezündet!"
Loki schüttelte lachend den Kopf. „Ari kann auch nie mit dem Feuer warten. Er will immer gleich alles in Brand setzen."
„Sind die Priesterinnen verbrannt?", wollte Rurik wissen.
Audgisil zuckte mit den Schultern. „Nur ein Teil davon. Den Rest haben wir ja dann mit an den Strand genommen und auf die Schiffe verteilt. Aber ich sag's dir, das Lustigste war, als Ari das Feuer gelegt hatte, da waren noch unsere Jungs im Tempel — naja, du weisst schon — die hatten sich ja drinnen etwas vergnügt. Die kamen mit heruntergelassenen Hosen aus den Flammen gestürzt! Wir haben uns kaputt gelacht. Hjorts Bart brannte. Er war danach so wütend auf Ari, dass er versucht hat, ihn mit einer dieser Kreuzketten zu erwürgen."
Audgisil verfiel in ein grollendes Lachen, während er sich an die guten Momente des Beutezugs zurückerinnerte.
„Klingt so, als ob ihr auf eure Kosten gekommen seid." Rurik rang sich ein Grinsen ab.
„Oh ja, es war herrlich! Und ihr? Wie ist es euch ergangen?", fragte Audgisil seine beiden Freunde.
„Wir haben gute Beute gemacht. Wir—", wollte Rurik ausführen, jedoch wurde er von Loki unterbrochen.
„Du hättest Rurik sehen sollen", sagte dieser. „Kaum waren wir gelandet, ist der gleich einem Mädchen nachgesprintet. So schnell habe ich ihn noch nie laufen sehen. Der hat's in den Eiern gespürt!"
Audgisil legte fragend den Kopf schief. Rurik versuchte zu intervenieren. „Nichts da. Ich wollte nur nicht—"
„Du kannst mir nichts vormachen, Rurik", fiel ihm Loki abermals ins Wort. „Deine Lust hat deinen Geist vernebelt, du warst blind vor Verlangen und bist der Kleinen wie ein sabbernder Hund nachgehetzt. Und jetzt hast du sie sogar hierhergebracht." Loki zog die Augenbrauen weit in die Höhe, um die Dramatik seiner Aussage zu unterstreichen.
Audgisil grinste. „Das verstehst du also unter guter Beute, Rurik?", hakte er nach und rammte seinen Ellbogen Rurik in die Flanke.
„Nein, eigentlich wollte ich—", protestiere dieser.
„Und weisst du, was er auch noch getan hat?", liess ihn Loki abermals nicht ausreden. „Unser guter Rurik hat das Mädchen für sich beansprucht. Auf dem Schiff! Nicht mal unserem Ragnar will er es gönnen. Nein, seine Eier müssen so blau angelaufen sein, dass er sich eine Sklavin sichert."
Audgisil lachte abermals laut auf. Seine tiefe Stimme hallte über die Köpfe der Männer. Seine Pratze schoss hervor und landete auf Ruriks Schulter. Dieser wurde von der Wucht beinahe in die Knie gezwungen.
„Rurik", sagte Audgisil. „Es ist an der Zeit, dass du dir ein Weib suchst, welches du heiraten kannst. Sklavinnen sind zwar ein guter Zeitvertreib, aber auf lange Zeit macht das auch keinen Spass mehr. Und wenn du dann einen Haufen Bastarde auf dem Hof rumrennen hast, dann—"
„Würdet ihr mich mal ausreden lassen, ja?", wehrte sich Rurik und schob die grosse Hand seines Freundes von der Schulter. „Du weisst, dass du nicht auf Loki hören solltest. Es stimmt, dass ich einer Frau nachgerannt bin, aber nur, um zu verhindern, dass sie ihre Leute warnen kann. Als ich sie gefangen hatte, dachte ich, dass sie doch eine gute Sklavin für meine Schwester sein könnte. Darum." Er nickte, als ob er sich selbst von dieser Aussage überzeugen müsse.
„Ihre Schönheit hat dich geblendet, Rurik. Das ist die Wahrheit", erwiderte Loki schulterzuckend.
Rurik winkte kopfschüttelnd ab. Sein Freund wollte ihm nicht zuhören. Das hatte Loki alles falsch aufgefasst, aber es war nutzlos, ihm das erklären zu wollen. Solle Loki doch denken was er wolle. Rurik konnte das einerlei sein.
„Wie geht es deiner Schwester?", wechselte Audgisil das Thema. Rurik blickte ihn dankbar an. Der Bär hatte wohl gemerkt, dass ihm Lokis Sticheleien auf die Nerven gingen.
„Salka geht es gut, glaube ich! Aber ich hatte noch nicht die Gelegenheit, um zuhause vorbeizuschauen."
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Sippenhaus und die wartende Menge strömte hinein. Man konnte kaum damit warten, das Fest zu beginnen.
„Herein, der Jarl lädt euch alle ein!", rief der Diener, der die Tür geöffnet hatte.
・・・
Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und ein kühlender Wind wehte durch das Städtchen. Die Empfangshalle im Sippenhaus war in ein warmes, oranges Licht getaucht. Das Feuer loderte und es roch nach gebratenem Fleisch. Allmählich füllte sich der Raum mit Kriegern und Bewohnern der Stadt, die zum Feiern gekommen waren.
Jarl Ragnar sass auf seinem Thron und begrüsste die hereinströmende Masse mit seinem Hornbecher in der Luft.
„Kommt herein, meine Freunde! Setzt euch und füllt eure hungrigen Mägen!", rief er den Leuten entgegen.
Rurik setzte sich mit seinen beiden Freunden an einen freien Tisch. Sie begannen zu trinken und schlugen sich die Bäuche mit gebratenem Fleisch, gekochten Äpfeln und gerösteten Zwiebeln voll.
Der Raum war überfüllt, es wurde warm in der Halle. Die Stimmung war ausgelassen, die Menge feierte in die Nacht hinein. Das Bier floss in Strömen und regelmässig wurde neues Fleisch und Gemüse aufgetischt. Huren sassen auf den Schossen der tapferen Krieger und hörten ihren mutigen Geschichten zu, Freunde lagen sich in den Armen und prahlten von ihren Heldentaten, andere bestaunten die Schätze in der Mitte des Raumes. Es fehlte an nichts.
Während die Normannen so feierten, kauerten die Gefangenen aus dem Frankenreich in der Mitte des Raumes und beobachteten das Geschehen. Sie waren der feiernden Meute ausgeliefert.
Ruriks Blick schweifte zu seinem Jarl, welcher zufrieden in seinem Thron lag und seine Anhänger beobachtete. Ein Grinsen zierte sein Gesicht. Die wulstige Narbe, welche sich von seiner linken Wange bis zu seinem Kinn schlang, verzog seine Lippen zur Seite. Sein kantiger Kiefer wirkte trotz aller Ausgelassenheit streng und angespannt. An seinem Kinn wuchs sein langer, perlengeschmückter Bart, durch welchen Ragnar seine Finger streichen liess. Seine blaugrünen Augen blitzten im Schein des Feuers belustigt auf und Rurik fragte sich, woran er wohl gerade dachte.
Da hob der Jarl die Hände in die Luft. Er wollte offenbar seine Leute adressieren.
„Geschätzte Freunde!", rief er, da das Lachen, Schwätzen und Singen noch nicht verstummt war. Er strich sich durch die rostblonden, schulterlangen Haare und benetzte sich die Lippen.
Es wurde still im Raum.
„Geschätzte Freunde. Ich hoffe, eure Köpfe dröhnen vor Bier, eure Mägen platzen vor Fleisch und eure Schwänze zucken vor Lust!" Die Menge johlte und lachte. „Wir sind heute hier, weil meine Männer ihre Tapferkeit, ihren Mut und ihren starken Willen unter Beweis gestellt haben", verkündete er. „Wir sind aufgebrochen, ohne zu wissen, was uns erwarten würde. Eine neue Welt, ein fremdes Land. Diese Männer haben ihr Blut für uns vergossen, ihr Leben riskiert." Er machte eine ausladende Bewegung mit seiner Hand. „Es sind diese Krieger hier, die euch den Reichtum gebracht haben. Odin hat uns dabei zugeschaut und ich schwöre euch, sein Herz war voller Stolz! Meine Brust zerspringt auch vor Erhabenheit. Ich habe enormen Respekt vor diesen Männern. Lasst uns jetzt alle diese Krieger ehren und feiert, als ob es kein Morgen gäbe! Skål allerseits!"
„Skål!", rief die Menschenmenge laut zurück.
Musik erklang, die Menge sprang in Ekstase auf und ein tosendes Fest brach aus. Es wurde wilder getanzt, mehr getrunken und noch schiefer gesungen.
Rurik stiess mit seinen Freunden an und schüttete sich einen grossen Schluck Bier in den Rachen. Er liess seinen Blick durch die Halle schweifen. Dabei fanden seine Augen sie wieder.
Seine Sklavin sass mit den Knien eng an ihren Körper gezogen auf dem Boden und hielt sich die Ohren zu. Der Lärm dröhnte und die Schatten der fröhlichen Leute tanzten zu ihren Füssen, als wollten sie sie aufziehen. Sie starrte auf den Boden, zeigte niemandem ihr schönes Gesicht.
Loki und Audgisil waren neben Rurik in einer wichtigen Diskussion vertieft, mit welcher Waffe sich ein Kopf einfacher vom Körper trennen liesse — ob mit einer Axt oder mit einem Schwert. Sie wurden sich nicht einig. Während seine beiden Freunde hitzig diskutierten, konnte Rurik seinen Blick einfach nicht von der jungen Frau in der Mitte der Halle abwenden. Ihre Ausstrahlung hatte selbst jetzt, wo sie so geduckt und abwesend dasass, etwas Anziehendes.
Ihm war aufgefallen, dass vier Sklaven ein rotes Band um ihre Oberarme trugen. Ragnars Zeichen. Der Jarl musste sie für sich reklamiert haben. Die junge Frau kauerte auf dem Boden, sodass Rurik ihre Arme nicht sehen konnte, sein Gewand verdeckte sie vollkommen. Er reckte den Nacken, um besser sehen zu können, denn er wollte sichergehen, dass Ragnar die Regeln nicht gebrochen hatte und das Mädchen trotz seiner Brosche für sich beansprucht hatte. Doch er sah nichts.
Als jemand aus der Menge über den Tisch fiel und den Gefangenen betrunken vor die Füsse rollte, schnellte ihr Kopf hoch. Das Licht fiel auf ihr makelloses Gesicht.
„Oh, ich weiss, welches Mädchen unser Freund ausgewählt hat!", lallte Audgisil und zeigte mit seinem Finger auf Ruriks Sklavin. „Die da!"
Loki nickte grinsend. Rurik hielt seinen Blick unentwegt auf die Fränkin gerichtet. Sie bewegte sich und rutschte etwas zur Seite. Der Umhang gab ihre Arme frei. Kein rotes Band zierte ihre Arme. Erleichtert lehnte sich Rurik zurück.
Er lenkte seinen Blick zum Thron und da bemerkte er, dass Ragnar ihn angestarrt haben musste.
Der Jarl begann zu grinsen und streckte seinen Arm in die Höhe, einen Hornbecher in der Hand. Sein Blick war voller Erwartung. Rurik erwiderte den forschenden Blick seines Anführers und streckte seinen Becher ebenfalls in die Luft. Die zwei Männer stiessen zusammen in Freundschaft an.
Ragnar Sigurdson hatte ihn gewähren lassen.
Entspannt widmete sich Rurik seinen Freunden und dem ausgelassenen Fest. Das würde eine lange Nacht werden.
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