44 - Frühling
„Hörst du mir nicht zu, Aveline?", fragte Salka und wippte den kleinen Sveín in ihren Armen.
„Oh, was?"
Aveline hing mit ihren Gedanken noch am Vortag, an welchem ihr Rurik von seinem Gespräch mit Inga erzählt hatte und wie diese es nicht glauben wollte, dass er das Kind nicht wolle und nicht zu ihr zurückkommen würde. Er hatte Aveline gebeten, Abstand von Inga zu nehmen und während seiner Abwesenheit ein besonders aufmerksames Auge darauf zu werfen, was sie trieb. Sie war eine Schlange und konnte ihr Gift der Nächstbesten ins Gesicht spucken, wenn ihr danach war. Aveline graute es bei dem Gedanken an diese furchtbare Pute.
Salka stand im Eingang und wollte sich von ihrer Gehilfin verabschieden. Sie und Hjalmar waren gerade auf dem Sprung, um Hjalmars Bruder für ein paar Tage in Viborg zu besuchen. Sveín sollte seinem alten Onkel vorgestellt werden und sie wollten in der Grossstadt noch neue Waren und Werkzeuge für den Hof besorgen, bevor sie wieder rechtzeitig zurück sein würden, um Rurik in seine Abenteuer zu verabschieden. Aveline sollte für die Zeit auf die Hoftiere aufpassen und den Haushalt schmeissen.
„Denkst du, du kommst alleine zurecht?", wiederholte Salka ihre Frage.
„Selbstverständlich."
Aveline verabschiedete beide mit einem Winken von der Türschwelle aus und machte sich an die Hausarbeit. Es war später Nachmittag und das Abendessen musste aufgesetzt werden. Geschmortes Rindfleisch sollte es geben, nach fränkischer Art. Aveline hätte das eigentlich für die ganze Familie kochen wollen, aber Salka und Hjalmar hatten sehr spontan entschieden, den Bruder besuchen zu gehen. Sie wollten die milden Tage für einen kleinen Ausflug nutzen.
Aveline war froh, dass somit etwas Ruhe im Haus einkehrte. Sie war von ihren vielen Kundenbesuchen erschöpft und sie nahm es Salka nicht übel, dass sie mit dem kleinen Sveín für ein paar Tage verreiste. Der quirlige Junge sog ihr die letzte Energie aus den Knochen.
・・・
Rurik kehrte erst spät am Abend ins Wohnhaus zurück. Er verbrachte seine letzten Tage in Vestervig hauptsächlich damit, gemeinsam mit Ragnar und den anderen Anführern Schlachtstrategien und Plünderungstaktiken auszuhecken. Aveline wusste, dass dies zu seiner neuen Aufgabe als Hauptmann gehörte, doch sie mochte es nicht, mitanzusehen, wie sehr es ihn auslaugte. Dabei waren sie noch nicht einmal losgezogen.
Als er sich ans Feuer setzte und Aveline ihm einen Becher mit Wasser reichte, informierte sie ihn über die Abwesenheit seiner Schwester und seines Schwagers. Er nahm dies nickend zur Kenntnis.
Sie assen schweigend an der Feuerstelle. Aveline hielt sich den Teller nahe ans Gesicht, so als ob sie sich dahinter verstecken wollte. Sie schämte sich noch immer für ihr kleines Malheur vor ein paar Tagen, als Rurik sie sturzbetrunken nach Hause geschleppt hatte und sie im Delirium irgendwelche Sachen gelallt hatte, an die sie sich jetzt nicht mehr erinnerte. Sie hatte danach Rurik kaum in die Augen schauen können, so peinlich war ihr das gewesen.
Rurik rückte näher an sie heran und blickte ihr neugierig ins Gesicht. Er musste es gemerkt haben, dass sie irgendwelche Gedanken plagten. Mit beiden Händen hielt er seinen Teller vor sich zwischen den Knien, der Dampf stieg sanft vom heissen Schmorbraten hoch.
„Wo bist du gerade?", fragte er.
„Hm?"
„Du bist nicht wirklich anwesend, das sieht man dir an." Er stupste sie mit seiner Schulter an. „Wo bist du?"
„In meinem Gedankenschloss", antwortete sie und starrte auf ihren Teller.
„Erzähle es mir", meinte er.
„Was denn?"
„Das, woran du gerade denkst."
„Warum?"
Er lachte. „Weil ich wissen möchte, was in diesem Köpfchen vor sich geht. Erhelle mich!"
Diese himmelblaue Augen blickten sie erwartungsvoll an. Sie seufzte. Warum konnte er sie bloss so gut durchschauen?
Da gab es wirklich etwas, das sie loswerden wollte, aber es kostete sie Überwindung, die Worte in ihrem Mund zu formen. Sie räusperte sich und senkte den Teller von ihrem Gesicht.
„Ich habe mich noch nicht richtig bei dir bedankt, dass du mich nach Hause gebracht hast, als ich so viel getrunken hatte", murmelte sie. „Danke, wirklich."
Das war ehrlich gemeint. Sie war heilfroh, dass er sich in ihrer misslichen Lage um sie gekümmert hatte. Selbst am Morgen danach, als Aveline mit höllischen Kopfschmerzen und einem üblen Gefühl im Magen aufgewacht war, völlig verwirrt darüber, wo sie war und vor allem wie sie es zurück in ihre Kammer geschafft hatte, war er respektvoll genug gewesen und hatte weder Salka was davon erzählt, noch sich über sie in irgendeiner Weise lustig gemacht.
Ihr war bewusst geworden, dass er sie wohl davor bewahrt hatte, irgendwelche Dummheiten mit ihren neuen Freunden auszuhecken. Pferde stehlen — was für eine einfältige Idee das bloss gewesen war. Sie hätte sich in dem Zustand bestimmt schlimme Verletzungen geholt, wenn sie mit den Leuten mitgegangen wäre und den Plan ausgeführt hätte. Für ein Pferdewettrennen sass sie noch nicht sicher genug im Sattel. Aveline schüttelte nur den Kopf ob den närrischen Dingen, die sie alkoholisiert hatte tun wollen.
Und dann war da noch dieser aufdringliche Kjetill, dem sie irgendwelche Sachen — an die sie sich nur vage erinnerte — ins Ohr gesäuselt hatte. Was war bloss in sie gefahren? Vielleicht hatte Rurik sie ja vor noch viel Schlimmerem bewahrt. Wer konnte das schon wissen. Sie erschauderte bei dem Gedanken, aber auf jeden Fall war sie froh darüber, dass er sie gefunden und nach Hause gebracht hatte.
„Ach was!" Rurik winkte grinsend ab. „Da gibt es nichts zu danken. Es war für mich sehr unterhaltsam, ich würde fast sagen lehrreich." Die Andeutung war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. Er wollte sie ärgern.
„Was meinst du damit?"
„Ach, du hast so einige interessante Dinge erzählt", meinte er und zwinkerte ihr zu.
Der Schmorbraten schien ihm sehr zu munden, denn er verputzte ihn innert kürzester Zeit. Aveline stocherte betreten in ihrem Essen herum. Nicht das noch! Hatte sie Rurik irgendwelche irren Dinge ins Ohr geflüstert?
„Was habe ich gesagt?", wollte sie wissen.
Er runzelte die Stirn. „Kannst du dich nicht daran erinnern?"
„Nein."
Rurik lachte laut auf. „Oh, dann lasse ich dich lieber im Dunkeln tappen. Das wäre dir sonst viel zu peinlich."
Sie stellte ihren halbleer gegessenen Teller an die Feuerstelle, ihr war der Hunger vergangen „Rurik, was habe ich gesagt?", bohrte sie weiter.
Sie wollte das schwarze Loch, in welchem die Erinnerungen fehlten, unbedingt mit Fetzen füllen. Aber da war einfach nichts. Er amüsierte sich köstlich ob ihrer Unsicherheit, das war deutlich. Sie blickte ihn fordernd an, denn das wollte sie sich nicht gefallen lassen.
„Jetzt sag schon!"
„Also gut, also gut", gab er nach, „beruhige dich! Du hast mir ein Kompliment gemacht. Das ist alles."
Aveline seufzte erleichtert. Ein Kompliment war ja nicht ganz so schlimm. „Oh, wirklich?"
„Du hast mir gesagt, meine Augen seien so blau und kalt wie ein frischer Bergbach."
Aveline prustete los. „Das habe ich wirklich gesagt?"
„Ja. Du wirst echt zur Poetin, wenn du zu viel trinkst." Er grinste breit.
„Was habe ich sonst noch gesagt?"
Er zuckte mit den Schultern. „Nicht mehr viel. Nachdem du deinen gesamten Mageninhalt im Eimer entleert hattest, hast du mich gebeten, deine Füsse zu massieren."
Aveline blinzelte ihn entsetzt an. „Nein!", stiess sie aus. „Das habe ich nicht!"
Rurik nickte. „Doch. Doch."
„Das hast du aber nicht getan, oder?"
„Oh, doch!" Er lachte kehlig auf und wischte sich mit dem Ärmel übers Kinn. „Ich hab dir deine Füsse geknetet und du bist eingeschlafen. Hast geschnarcht wie ein betrunkenes Schwein. Diesen Anblick werde ich nie vergessen!"
Das war ihr endgültig zu peinlich. Aveline stand auf und nahm ihm den leeren Teller aus der Hand.
„Dann bin ich dir noch eine Entschuldigung schuldig", murmelte sie. „Es tut mir wirklich leid, dass ich mich so unanständig verhalten habe. Ich war nicht ich selbst. Und es tut mir leid, dass du ... meine Füsse anfassen musstest. Sie sind schrecklich deformiert. Das muss dich bestimmt sehr angeekelt haben."
Sie stellte die zwei Teller auf den Esstisch und verschränkte die Arme vor sich. Innerlich schwor sie sich, nie wieder in ihrem Leben so viel zu trinken. Sie verfluchte den Menschen, der den Gerstentrunk erfunden hatte — blöder Esel! Wer erfand schon ein Getränk, das einen sich selbst vergessen liess?
Rurik schüttelte den Kopf. „Red keinen Unsinn!", meinte er. „Ich bin mir den Anblick von Narben gewohnt. Wer keine Narben hat, kann sowieso nicht von sich behaupten, ein abenteuerliches Leben geführt zu haben."
Aveline schwieg und begann die Küchennische aufzuräumen. Die Scham brannte in ihrem Gesicht. Es wurmte sie sehr, dass sie sich vor Rurik so blamiert hatte.
Was er wohl jetzt von ihr dachte?
・・・
Rurik sass schweigend an der Feuerstelle und blickte in die Flammen. Aveline vermutete, dass er in Gedanken den Diskussionen in der Versammlungshalle nachhing. Die letzten Tage war er immer so nachdenklich gewesen.
Nach einer Weile streckte er sich, stand auf und schritt zum Wassereimer, der in der Küchennische stand. Der Geruch der Versammlungshalle hing noch an seinen Kleidern. Er streifte sich sein Hemd ab und begann, sich mit einem Lappen zu waschen.
Aveline stand betreten daneben und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Lange war es her gewesen, seit sie ihn das letzte Mal mit entblösstem Oberkörper gesehen hatte. Sein Rücken war ihr zugewandt, seine Muskeln an- und entspannten sich mit seinen Bewegungen.
Er war schön, stellte sie fest. Seine Schultern waren stark und breit, die Sehnen seiner Rückenmuskeln stachen deutlich hervor. Seine Haut hatte eine sanft beige Farbe, seine Arme waren sonnengebräunt. Sie spürte, wie sie sich von seinem Körper angezogen fühlte. Ihre Füsse trugen sie — wie von magischer Hand geführt — in seine Richtung, als ob ein unsichtbares Band sie enger an ihn schnürte.
Eine frische Narbe strahlte auf seinem bronzenen Unterarm. Rurik merkte nicht, dass sie sich ihm näherte und warf sich den Waschlappen klatschend über die Schulter. Als sie seinen Arm berührte, hielt er inne und blickte sie überrascht an, die blonden Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Wassertropfen perlten von seinem Kinn auf die Brust.
„Ist das der Wolfsbiss, den du eingesteckt hast, als ihr die Schweden gefunden habt?", fragte sie ihn.
Er nickte. „Ja, da hat mich das Biest gepackt. Aber ich hatte Glück. Ich konnte den Wolf mit der anderen Hand von mir stossen."
Sie berührte die rosa Linien mit ihren Fingerspitzen. Die frisch gebildete Haut war zart und weich.
„Es tut mir leid, dass du dir diese Verletzung einfangen musstest", sagte sie leise.
Ein Lächeln zupfte an seinem Mund. „Oh, das ist nichts!", erwiderte er. Er wandte sich ihr ganz zu und deutete mit seiner Hand auf die zahlreichen Narben auf seinem nackten Oberkörper. „Schau mich an, ich bin übersät mit alten Kampfwunden. Da kannst du mit deinen süssen kleinen Füssen einpacken."
Aveline liess ihren Blick über seinen Körper gleiten. Die Wasserperlen glänzten auf seiner Brust. Als ihre Fingerkuppen vorsichtig seine Haut am Rumpf berührten, sog er laut den Atem ein.
Er hatte einen bemerkenswerten Körper und Aveline fand Gefallen daran, mit ihren Fingerspitzen über die Wölbungen zu fahren. Seine Vorderseite war genau so eindrucksvoll wie seine Hinterseite. Die starken Brustmuskeln hoben sich von seinem Brustkorb deutlich ab und gingen in einen kräftigen Rumpf über. Er war wahrlich ein beeindruckender Krieger. Avelines Blick schweifte nur kurz über die Furche in seiner Leiste und der zarten Haarlinie, die in eine Richtung zeigten, dessen Ende von seiner Hose verdeckt wurde und ihr die Röte ins Gesicht trieb.
Sie lenkte ihre Augen schnell wieder nach oben und wanderte mit ihren Händen über die kleinen Narben und Wulste seiner vergangenen Schlachten. Sie seufzte bei dem Anblick der verblassten Wunden.
„Woher hast du die?", wollte sie wissen und strich über eine lange Narbe, die sich über seine Rippen erstreckte.
„Ein angelsächsischer Krieger hat mir die verpasst, mit einem Schwerthieb. Er war ein gewaltiger Kämpfer. Stark und robust. Die habe ich verdient."
„Und die?", fragte sie weiter und deutete auf eine kleine sichelförmige Narbe auf seiner Schulter.
„Ein Pfeil, als wir vor einiger Zeit rebellische Mitteljütländer bekriegen mussten. Wir gerieten in einen Hinterhalt und wurden von einem Pfeilregen überrascht."
Sie nickte stumm und betrachtete weiterhin seinen kräftigen Körper, ohne aber ihm in die Augen zu blicken. Das konnte sie nicht, denn sie fürchtete sich davor, zu sehen, was darin vor sich ging.
Rurik lächelte bloss und schaute ihr dabei zu, wie sie ihn musterte. Sie strich über jeden Kratzer und jede Schramme, die er bei seinen Kämpfen eingesteckt hatte, als ob sie mit ihrer Berührung die Erinnerung der Wunden aufnehmen wollte.
Er liess sie kommentarlos gewähren.
Sachte nahm er ihre Hände, die über seinen Körper glitten, in seine und strich mit den Daumen über die weissen Spuren an ihren Handgelenken. Die Narben schienen hell auf ihrer blassen Haut.
„Ich wünschte ich hätte deine Wunden vermeiden können", sagte er. Ein bitterer Unterton schwang in seiner Stimme mit.
Aveline seufzte. Auch sie hätte sich das gewünscht, aber ihr Schicksal hatte es gewollt, dass genau das geschah, was geschehen war.
„Sie werden mich daran erinnern, dass ich überlebt habe", antwortete sie und rieb sich ihre Handgelenke. „Sie zeigen mir, dass ich alles überstehen kann."
Rurik verstärkte den Druck auf ihre Hände. „Ich bin froh, dass die Götter dich noch nicht geholt haben."
Aveline schwieg, denn sie wusste nicht, ob sie froh sein sollte, dass sie den Weg noch nicht ins Paradies gefunden hatte. Ihr Leben hatte solch schreckliche Wendungen genommen, dass sie sich nur allzu oft eine Erlösung gewünscht hatte.
„Das hätte ich nicht ertragen", fügte er an und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
Ihre Wangen röteten sich, ihr Herz flatterte plötzlich. Ein Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, dass hier, in seiner Nähe, genau der Ort war, an dem sie sein wollte. Und dann realisierte sie, dass ihr das in wenigen Tagen wieder genommen werden würde, nämlich dann, wenn Rurik in eines dieser Kriegsschiffe stieg, um in die Schlacht zu ziehen.
Eine leichte Gänsehaut schlich ihr über den Rücken. Der Gedanke, er könnte nicht mehr da sein, jagte ihr Angst ein.
„Rurik?", hauchte sie.
„Ja?"
Sie hob den Blick und hielt seinen Augen stand. „Geh nicht."
Seine Augenbrauen jagten überrascht in die Höhe. „Wohin?"
„Auf Plünderung."
„Aveline ..."
Sie nahm seine Hand und drückte sie. Fest. „Du trägst genug Narben, die von deinen Abenteuern zeugen", sagte sie. „Meinst du nicht, dass die ausreichen? Brauchst du wirklich noch mehr?"
„Ich will die Welt besegeln, Aveline. Das kann ich nur so", erwiderte er.
„Aber musst du dafür in den Kampf ziehen? Geht das nicht auch friedlich? Müsst ihr schlachtend neue Länder entdecken?"
Er seufzte und blickte zur Seite. Ein trauriger Ausdruck legte sich über sein Gesicht.
„Und was, wenn du nicht mehr zurückkommst?", sprach sie weiter. „Was, wenn dich die Götter holen?"
Kaum hatte sie das gesagt, schlang er seine Arme um sie und drückte sie an sich. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Stirn. Seine Haut war angenehm warm und ein wohliger Geruch nach Tannennadeln umhüllte sie. Aveline schloss die Augen und horchte dem leisen Pochen seines Herzschlages. Ruhig und regelmässig ging sein Herz. Ein behagliches Gefühl der Geborgenheit umschloss sie.
„Ich werde zurückkommen. Sei unbesorgt", flüsterte er in ihre Haare.
Sie wollte nicht, dass er aufbrach. Sie wollte nicht, dass er sie verliess. Es blieb ihnen nur noch so wenig Zeit und dann würde er für unzählige Tage auf Reisen sein. Tage des Schlachtens, Tötens und Plünderns. Tage der Ungewissheit über seine Rückkehr und Nächte der Einsamkeit in Vestervig.
Aveline hatte sich so sehr an dieses neue Leben gewöhnt. Salka, Hjalmar, Sveín und Rurik waren ein fester Teil davon geworden und nur schon der Gedanke, dass Rurik fehlen könnte, war eigenartig unangenehm. Man gewöhnte sich tatsächlich an alles — Richard hatte Recht behalten. Dieser Ort, der ihr so lange so fremd gewesen war, war ihr neues Zuhause geworden. Unauffällig hatte sich die Gewohnheit an dieses neue Leben angeschlichen und gemütlich eingenistet.
„Ehrenwort?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte und sie musste den Kloss, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, runterschlucken. Sie wusste, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Es lag nicht in ihrem Ermessen.
„Ehrenwort."
・・・
Sie standen eine ganze Weile Arm in Arm da, horchten ihren Herzschlägen und sogen den Geruch des jeweils anderen ein. Dann löste sich Rurik von der Umarmung.
„Jetzt bin ich an der Reihe", meinte er. Ein schelmisches Lächeln zierte seine Lippen.
Aveline blickte verwundert zu ihm hoch. „Womit?"
Er benetzte sich die Lippen. Das Grinsen wollte nicht von seinem Mund weichen. „Du hast mich lange genug in Augenschein genommen", erklärte er. „Ich will das Gleiche mit dir tun, damit ich mir vor meiner Abreise alles merken kann. Ich will ja nicht vergessen, wie du aussiehst."
Er griff nach ihrer Hand und küsste den Handrücken, als wäre sie eine Hofdame. Seine Lippen fühlten sich heiss an.
„Erlaubst du mir, deine Schönheit zu betrachten?", fragte er. „Es wäre doch ungerecht, dass du mich untersuchen durftest und mir das Gleiche verwehrt bliebe."
Aveline biss sich auf die Unterlippe. In ihrem Kopf herrschte Verwirrung, in ihrem Magen ein Gefühlschaos. Wortlos öffnete sie den Mund, überlegte einen Moment und schloss ihn aber sogleich wieder. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Da sie stumm blieb, liess er schwer seufzend ihre Hand wieder los und wandte sich dem Wascheimer zu. Mit kräftigen Zügen fuhr er damit fort, sich die Arme und die Brust zu schrubben.
Aveline kaute an ihrer Lippe. Sie wollte nicht, dass er von ihr abliess, dass er sie losliess, aber sie hatte ihm nicht schnell genug antworten können. Jetzt war der Moment verflogen und er hatte sich von ihr abgewendet. Sie wollte jedoch seine Nähe und Zuneigung spüren. Heute und jeden Tag danach.
Wie sollte sie ihm das bloss sagen?
Er war ein erfahrener Mann, der sich nahm, was er wollte. Den Kuss damals an Jule hatte er gewollt und er hatte ihn für sich beansprucht. Sie, allerdings, hatte erst vor Kurzem wirklich realisiert, was ihr Herz wollte. Sie traute sich nicht, danach zu greifen. Sie war nicht so mutig wie er.
Er strich sich mit einer Hand die nassen Haare nach hinten.
„Übrigens. Wie befürchtet muss ich den Skagener unter meine Fittiche nehmen", meinte er.
„Wer?" Aveline war mit ihren Gedanken anderswo.
„Rollo, der Sohn von Björn Graubart", antwortete Rurik.
Nun erinnerte sie sich. Der schmale Bursche von der Schenke, der sie stets so freundlich angelächelt hatte.
„Er ist auf Brautschau", fuhr Rurik fort. „Ragnar hat ihm eine Frau versprochen. Noch vor der Abreise soll er vermählt werden." Er wrang den Lappen über dem Eimer aus und hängte ihn an den Rand. Dann wandte er sich wieder ihr zu. „Versteck dich besser in deiner kleinen Kammer, nicht, dass er dich nochmals sieht."
Seine Augen leuchteten vom Witz, doch an seiner Körperhaltung konnte Aveline ablesen, dass er es ernst meinte.
„Der soll erstmal zu einem Mann werden", sagte sie. „Und sowieso: Ich bin nicht zu haben!" Sie zuckte mit den Schultern.
Ruriks Augen funkelten vergnügt. „Ist das so?", raunte er. „Du bist nicht zu haben?"
Aveline senkte den Blick. „Zumindest nicht für Rollo", murmelte sie dann schnell hinterher. Nicht, dass er die falschen Schlüsse zog.
Rurik hob die Augenbrauen. Ein Arm schnellte hervor und prompt zog er sie an der Taille an sich heran. Er erstach sie fast mit seinem intensiven Blick.
„Aber für mich?", hauchte er, sein Gesicht so unfassbar nahe an ihrem, dass sie beinahe vergass zu atmen.
Sie konnte sich in diesen Augen verlieren. Sie hatte seinem Blick früher nicht standhalten können, weil sie sich vor ihm gefürchtet hatte. Aber sie hatte sich in den Träger dieser Augen verliebt. In diesen Augen brannte eine Sehnsucht, eine Leidenschaft, so heiss, dass sie erschauderte.
Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie nickte, die Wangen gerötet. Ja, für ihn war sie zu haben. Rurik war der Mann, den sie wollte.
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