34 - Winter
Aveline wehrte sich nicht gegen seine Küsse. Sie konnte nicht. Ihr Körper gehorchte ihrem Kopf nicht mehr.
Seine Hände strichen ihr durch die Haare, übers Gesicht, wanderten ihren Hals hinunter, über ihr Schlüsselbein und dann ihre Taille entlang. Ihre Hände lagen auf seiner Brust und klammerten sich an seine Tunika. Sie zog ihn an sich heran. Es war, als ob ihr Körper sich nach seiner Nähe, nach seinem Schutz gesehnt hatte. Es fühlte sich so unglaublich richtig an und gleichzeitig so falsch.
Rurik löste seine Lippen von ihren. Sie standen Stirn an Stirn in der Ecke des Raumes und keuchten. Seine blauen Augen blickten sie gierig an.
„Bitte geh nicht", flüsterte er. „Bleib hier."
Avelines Herz pochte schnell.
„Rurik, ich—", wollte sie sagen, aber er unterbrach sie mit einem zweiten heissen Kuss.
Sie wollte ihn von sich stossen, aber sein grosser Körper drückte sie an die Wand. Sie spürte sein Verlangen, seine stürmischen Lippen, seine verführerischen Berührungen. Es war einfach zu schön, als dass sie hätte aufhören können. Sie stöhnte leise auf, als er ihren Hals küsste und sie von der Wand löste.
Sie taumelten zum leeren Tisch, auf welchen er sie hob. Er zwängte sich mit sanftem Druck zwischen ihre Beine und krallte seine Finger in ihren Hintern. Ihr Kleid schob es über ihre Knie und entblösste die zarte Innenseite ihrer Schenkel.
„Du bist unwiderstehlich schön", flüsterte er an ihre Lippen.
Aveline seufzte und löste sich von seinem gierigen Mund. Sie hielt seinen Kopf in ihren Händen und blickte ihm in die Augen. Ihr Gesicht glühte.
„Hast du Angst vor mir?", fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und schob ihn vorsichtig von sich. „Nein."
„Du zitterst aber."
Er trat von ihr weg und strich sich durch die Haare, die von dem Gefummel durcheinander geraten waren. Sie blickten sich wortlos an. Aveline geschockt über das, was soeben geschehen war und Rurik beflügelt. Er atmete schwer, als hätte ihm das kleine Techtelmechtel gerade die ganze Kraft aus seinem Leib gesogen. Seine Augen wirkten dunkler, sein Ausdruck vor Lust getränkt.
„Überlege es dir", sagte er. „Vielleicht gibt es hier etwas, weswegen es sich lohnt, zu bleiben."
Mit der Hand fuhr er sich über die Stoppeln am Kinn, ein triumphierendes Lächeln zuckte an seinen Mundwinkeln. Dann drehte er sich um und ging in die feiernde Menschenmenge zurück.
Aveline blieb perplex auf dem Tisch sitzen und zog sich ihr Kleid wieder über die Knie. Ihr Herz pochte stark gegen ihre Rippen. Sie berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen.
Was war soeben geschehen?
Sie sprang vom Tischrand und strich sich die Haare zurecht. Das musste das viele Bier sein, redete sie sich ein. Noch nie hatte sie dermassen ihre Hemmungen verloren! Sie blickte um sich. Niemand in der Halle schien etwas gesehen zu haben, nicht einmal der betrunkene Kerl, der noch immer auf der Bank schnarchte.
Mit wackligen Beinen ging sie zurück an den Festtisch, an welchem die anderen heiter feierten. Keiner am Tisch hatte irgendwas gemerkt. Rurik sass bereits wieder neben Loki und grinste sie an, als sie sich setzte. Seine Augen glänzten vergnügt.
„Warst du nochmal tanzen?", fragte Salka, die den mittlerweile schlafenden Sveín auf ihrem Schoss trug.
„Nein. Warum?"
„Du hast ganz rote Bäckchen. Muss wohl die Hitze hier drin sein."
Aveline spürte, wie die Wärme in ihren Kopf stieg. Loki erklärte ihr, dass es einen Aussenbereich neben der Halle gäbe, den sie aufsuchen könne, wenn ihr hier drin zu heiss werde. Draussen werde auch gefeiert und Spiele würden gespielt. Das liess sich Aveline nicht ein zweites Mal sagen. Sie hielt es unter dem hungrigen Blick Ruriks nicht mehr aus. Sie brauchte eine Abkühlung und zwar schleunigst.
„Ich gehe an die frische Luft", verkündete sie ihrer Tischgesellschaft und machte sich aus der Halle.
・・・
Die kühle Abendluft stiess ihr entgegen, als sie sich durch den seitlichen Ausgang presste. Auf dem Vorplatz tummelten sich junge Leute. Fackeln flackerten im Wind. Neben dem Eingang schmuste ein Pärchen. Aveline blickte verlegen weg.
Ihre Lippen kribbelten noch immer von dem stürmischen Kuss. Sie hielt sich die Hand an die Stelle, wo Ruriks Lippen an ihren gehangen hatten.
Was in aller Welt war bloss in sie gefahren, dass sie das zugelassen hatte?
„Aveline, ist alles in Ordnung? Hat er dir was angetan?", hörte sie Luca auf Fränkisch sagen.
Er stand in seinem dünnen Dienerhemd in der Kälte und hielt frierend einen neuen Krug in der Hand. Offenbar bediente er die Feiernden draussen mit Bier. Seine braunen, ungekämmten Strähnen wehten in der Brise.
Aveline schüttelte den Kopf. „Nein, er hat mir nichts getan."
Das war gelogen. Rurik hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. Dieser Kuss hatte ihr den Boden unter den Füssen weggerissen und jetzt hatte sie Mühe, gerade auf ihren Beinen zu stehen.
Luca kam näher.
„Es ist schön, dich zu sehen, Aveline. Ich hatte gehört, dass die Jarsons bei dem Angriff einen Gehilfen verloren hatten. Ich glaubte, das seist du. Es hat mich verrückt gemacht ... Ich war so traurig."
Aveline schluckte leer. „Es war Richard, den sie erwischt haben. Mir ... Mir ist nichts passiert", schwindelte sie.
Luca kam noch einen Schritt näher, den Krug in beiden Händen haltend. Er musterte sie mit einem erleichterten Lächeln.
„Ich bin froh, dass es dir gut geht. Wirklich. Du siehst heute bezaubernd aus."
Sein Blick wanderte von der Feder in ihren geflochtenen Haaren zum Sigurdson-Ring an ihrem Arm. Sein Atem stockte, als er das Schmuckstück und dessen Bedeutung erkannte.
„Du gehörst jetzt zu denen?" In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit, den Aveline nicht einordnen konnte.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Sie haben mich freigesetzt! Salka hat mir die Freiheit geschenkt. Sie wollte, dass ich in die Gemeinschaft aufgenommen werde. Ich bin frei, aber ich gehöre nicht zu denen!"
„Das ist wirklich schön für dich", erwiderte er.
„Ich kann zurück, Luca."
„Wohin willst du denn gehen?"
Sein Stirnrunzeln liess Aveline stutzen. „Nach Hause, natürlich. Zurück nach Fécamp." Wohin sollte sie denn sonst gehen wollen?
Luca blickte sie bemitleidend an. Er löste eine Hand von seinem Krug und drückte ihren Arm, als wolle er sie trösten.
„Aveline ...", murmelte er mit sanfter Stimme. „Unser Zuhause wurde in Grund und Boden geschlagen, die ganze Stadt zerstört, unsere Familien getötet. Da gibt es nichts und niemanden mehr, das auf unsere Rückkehr wartet."
„Nein!", stiess Aveline aus und entzog sich von Lucas Umklammerung. „Da muss was sein! Vielleicht gibt es Überlebende, die noch geblieben sind."
Luca senkte den Kopf und seufzte. „Wohl kaum. Hast du nicht gesehen, wie alles gebrannt hat? Kein Haus stand mehr. Da gibt es nichts mehr. Wirklich. Unser Leben ist jetzt hier."
Aveline schüttelte abermals ihren Kopf. Selbst wenn sie nie das Ausmass des Überfalles mit eigenen Augen gesehen hatte, wollte sie die Hoffnung nicht verlieren. Das konnte sie einfach nicht.
„Nein, Luca", flüsterte sie. „Hier gehören wir nicht hin."
„Du jetzt schon", sagte er und berührte mit den Fingerspitzen das Amulett an ihrem Arm. „Du trägst warme und schöne Kleidung, du hast ein Dach über dem Kopf, Angehörige, die dich mögen und respektieren. Schau dich an!" Er musterte sie von oben bis unten. „Du bist zu einer Normannin geworden. Dir steht eine neue Welt offen. Nutze das! Wirf das nicht einfach weg. Ich wünschte, mir ginge es so gut wie dir."
Der Neid triefte aus jedem Wort, das er ausspuckte. Meinte Luca wirklich, dass sie für all das dankbar sein sollte?
„Ich kann nicht", murmelte sie.
Luca blickte sie lange an. In seinen Augen spiegelte sich die Missgunst. So sehr sie wollte, dass er ihr Freund und Verbündeter blieb, merkte sie in diesem Moment, dass er es nicht mehr war. Luca hatte sich ergeben. Er hatte aufgegeben. Aveline konnte nicht dasselbe tun, nicht, wenn sie kurz davor stand, wieder alles zu haben, was man ihr genommen hatte.
Nach einem Moment der betretenen Stille drehte Luca ihr den Rücken zu. „Ich muss arbeiten", sagte er. „Deine Leute sind durstig."
Er verschwand in der Menge. Aveline schaute ihrem Freund bedrückt nach. Das überwältigende Glück, das sie gefühlt hatte, als sie endlich eine freie Frau geworden war, war verschwunden. Es war in einem Loch an Schuldgefühlen und Scham versunken. Luca hatte ihr die Freude genommen und nun plagte sie ein merkwürdig schlechtes Gewissen.
Sollte sie tatsächlich nicht zurück nach Hause wollen? War es falsch, sich nach ihrem alten Leben zu verzehren? Sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Füsse. Fécamp war zerstört worden und sie wusste nicht, was mit ihrer Familie geschehen war. Vielleicht lebten sie alle noch. Vielleicht hatten sie flüchten können.
Unser Zuhause wurde in Grund und Boden geschlagen. Lucas Worte hallten in ihrem Kopf.
Was, wenn da wirklich niemand mehr war? Ausser ihrer Eltern und ihres Bruders war da niemand, zu dem sie zurück konnte. Kein Onkel, keine Tante, niemand.
Sie spürte, wie die Zweifel plötzlich aus ihrer Ecke herausgekrochen kamen und ihr die Kehle zuschnürten. Was, wenn Luca recht hatte und sie hier bessere Chancen hatte als in ihrer alten Heimat?
Aufgewühlt schüttelte sie den Kopf und schob den Gedanken zur Seite.
Eine kühle Luft zog um ihre Beine und strich ihr durch die Haare. Sie schloss die Augen und horchte dem sanften Meeresrauschen in der Ferne, das man trotz des Lärms des Festes dennoch vernehmen konnte. Ihr Kopf klärte sich und ihr Herz fand Ruhe. Das Meer atmete hier anders als in ihrer Heimat. Das Rauschen war milder und zurückhaltender, nicht so kräftig und schäumend wie im Frankenreich.
Aveline seufzte und legte den Kopf in den Nacken. Der Sternenhimmel glitzerte über ihr. In Gedanken sprach sie zu ihrer Familie.
Leise flüsterte sie ihrem Vater zu, wie froh sie war, dass er ihr vorgezeigt hatte, dass das Leben tollkühn und tapfer zu leben sei. Dann widmete sie einige Worte ihrer Mutter und bedankte sich für die Gabe, die sie ihr geschenkt hatte. Die Heilkunde hatte ihr in dieser schrecklichen Welt so viele Vorteile gebracht. Zuletzt hauchte sie ihrem kleinen Bruder zu, wie sehr sie ihn vermisste und dass sie sich wünschte, mit ihm wieder barfuss über den Kiesstrand springen zu können.
Aveline war dankbar, aber nicht den Wikingern, die ihre Welt zerstört hatten. Sie war ihren Eltern dankbar, für das, was sie ihr fürs Leben mitgegeben hatten.
・・・
Rurik sass zufrieden am Festtisch und hörte Lokis Geschwätz nur mit halbem Ohr zu. Er fühlte sich grossartig, lebendig, als hätte ihn die stürmische Begegnung mit der Fränkin wachgerüttelt.
Ein Lächeln formte sich ganz unwillkürlich auf seinem Mund, während er an das Gefühl ihres zarten Körpers zwischen seinen Fingern zurückdachte. Und diese Lippen. Diese wundervollen, rosafarbenen Lippen, die so verführerisch weich gewesen waren. Sie hatte einzigartig geschmeckt. Nach Honig, süss wie eine Frucht. Er konnte sie noch immer auf seiner Zunge schmecken.
Neben ihm gestikulierte Loki wild mit seinen Armen, während er ihm eine Geschichte erzählte. Rurik wusste nicht, worum es ging, doch nickte er ab und an.
Avelines bezauberndes Wesen hatte ihn von Anfang an gereizt und diese Sehnsucht, der er heute nachgegeben hatte, hatte lange und tief in ihm gebrannt.
Eigentlich hatte er sie wirklich bloss zur Rede stellen wollen, weil er zuhause nie dazu gekommen war. Er hatte sie in die Ecke treiben und die Wahrheit aus ihr herauspressen wollen. Nie hätte er damit gerechnet, dass ihn ihre Worte so hart treffen würden.
Er hatte ihren Schmerz gespürt, als sie ihm von ihren Gefühlen und den schrecklichen Dingen erzählt hatte, welche diese Schurken ihr angetan hatten. Es hatte ihm leid getan, dass er sie nicht hatte beschützen können.
Am härtesten traf ihn ihr Geständnis, dass sie wirklich gehen wollte. Er wusste selbst nicht, weshalb es so an ihm gerüttelt hatte. Natürlich wollte sie gehen — er hatte sie schliesslich unfreiwillig hierher gebracht.
Doch Rurik konnte sie nicht gehen lassen. Ihm fehlten die Worte, um es ihr zu sagen, denn er wusste selbst nicht genau, warum. Er wusste nur, was der Gedanke, sie würde nicht mehr bei ihnen sein und er könne ihr Gesicht nicht mehr jeden Tag sehen, in ihm auslöste: Pure Verzweiflung.
Er hatte nicht anders gekonnt, als sie zu küssen.
„Was grinst du so?", fragte Loki mit gekräuselter Stirn. „Meine Geschichte ist gar nicht lustig!"
Rurik schüttelte den Kopf, um sich vom Bann der Fränkin zu lösen und zuckte bloss mit den Schultern.
„Nur so", murmelte er.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches sass seine Schwester. Sie reckte den Nacken und suchte in der feiernden Menge nach jemandem.
„Ist sie immer noch draussen?", fragte sie niemand Spezifisches.
Hjalmar grunzte amüsiert. „Bei dem Männerandrang wurde sie wohl irgendwo draussen aufgehalten", antwortete er.
Rurik spürte, wie diese Worte ihm missfielen. Aveline hatte nicht nur ihn mit ihrer makellosen Schönheit niedergeschmettert. All die anderen Kerle, die sich um sie geschart hatten, um sie zum Tanz aufzufordern, waren ihrem Zauber genauso zum Opfer gefallen und am liebsten hätte er ihnen allesamt die Kehlen aufgeschnitten — für die schmutzigen Gedanken, die er hinter ihren glänzenden, verträumten Augen gesehen hatte.
Elende Mistkerle.
Hjalmar schwankte auf der Bank, als befände er sich auf einem Schiff in stürmischer See. Er war betrunken, denn er hatte bei einem der fatalen Trinkspiele von Loki und Audgisil mitgemacht, bei welchem man jedes Mal einen grossen Schluck Bier trinken musste, wenn man jemanden Skål in der Halle rufen hörte. Das war ein besonders gefährliches Spiel an diesem Abend, denn es wurde ständig irgendwo an einem Tisch angestossen und Skål gerufen. Rurik hatte absichtlich nicht mitgemacht. Er wollte bei klarem Verstand bleiben — ausnahmsweise.
Salka liess die Schultern hängen. „Bald wird das Feuer angezündet", sagte sie. „Ich will Aveline doch noch meinen Tannenzweig schenken."
„Was?", meckerte Hjalmar. „Den bekomme nicht ich?"
Salka lachte auf. „Unsere Liebe ist schon innig genug, mein Liebster", erwiderte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Mehr braucht's da nicht."
Dann kam Aveline an den Tisch zurück. Rurik musterte sie, denn ein ernster Ausdruck lag auf ihrem Gesicht wie ein dunkler Schatten. Die kleine Flamme, die er in ihren goldenen Augen gesehen hatte, als sie sich geküsst hatten, war erloschen.
Sie setzte sich wortlos und starrte auf die klebrige Tischplatte.
„Alles in Ordnung?", fragte Salka. Sie musste ihre betrübte Laune ebenso erkannt haben.
Sie seufzte. „Ach, es ist nichts."
Salka lächelte sie an und schob ihr eine Locke hinters Ohr. Rurik spürte ein Kribbeln an seinen eigenen Fingerspitzen. Wie gerne er ihr nochmals durch diese samtene Haare streichen wollen würde. Er machte die Faust, um das Gefühl zu unterbinden.
„Sag schon, mein Liebes", bohrte Salka nach „Was in aller Welt kann dich am schönsten Abend des Jahres so traurig stimmen?"
Aveline schluckte schwer. Sie kämpfte mit den Tränen und Rurik hätte in dem Moment am liebsten ihre Hand gehalten.
„Ich vermisse meine Familie." Ihre Stimme war leise und brüchig.
Salka presste die Lippen zusammen und begegnete dabei Ruriks Blick. Sie tauschten sich stumm aus und Rurik wusste, dass seine Schwester genauso ein schlechtes Gewissen hatte, wie er, obwohl sie keinerlei Schuld trug. Diesen Kummer konnte ihr keiner nehmen. Durch diesen Schmerz musste sie alleine gehen.
„Wir sind jetzt deine Familie!", johlte Loki von der anderen Tischseite. Er war sturzbetrunken. „So eine grosse, starke und gut aussehende Familie hattest du noch nie!"
Salka und Hjalmar lachten, aber Aveline blieb ernst. Sie fand das offensichtlich nicht lustig.
Rurik hielt ihr seinen Becher Bier hin. „Hier, trink das." Auch wenn er ihr lieber Trost gespendet hätte, kam sein Angebot, den Kummer in Bier zu ertrinken, dem etwa gleich.
Erst zögerte sie und schielte bloss auf den Becher, den er ihr entgegenstreckte, doch dann griff sie danach und kippte sich das Getränk in den Rachen.
Salka legte ihren Arm und Avelines Schultern. „Weisst du, Loki hat recht", sagte sie. „Du hast vielleicht deine Familie verloren, aber dabei hast du eine neue dazugewonnen." Sie drückte Aveline an sich. „Ich weiss, das ist nur ein kleiner Trost. Aber wir sind jetzt für dich da und auf uns kannst du immer zählen."
Sie löste sich von ihrer Gehilfin und drehte sich um. Unter dem Tisch zog sie einen grünen Tannenzweig hervor. Ein Julgeschenk. Sie drückte den Ast in Avelines Hand.
„Diesen Zweig schenke ich dir, weil ich dich als eine Freundin der Familie sehe", sagte Salka und schenkte ihr ein herzerwärmendes Lächeln. Das Lächeln einer grossen Schwester, wie Rurik es selbst kannte. „Ich habe dich lieben gelernt und ich möchte dir ein Stückchen dieser Liebe hier schenken", fuhr sie fort.
Aveline senkte den Blick und betrachtete den Tannenzweig in ihren Fingern.
„Bitte nimm das Geschenk als Zeichen meiner Freundschaft und als Symbol für dein neues Leben."
Aveline biss sich auf die Unterlippe. Ein schüchternes Mienenspiel, das Rurik beinahe in den Wahnsinn trieb. Dann hob sie den Blick und nickte. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie Salka umarmte und ihr Geschenk annahm.
・・・
Das Ende des Abends rückte näher und plötzlich ging eine Bewegung durch die feiernde Menschenmenge. Man verliess die heisse Festhalle und ging zusammen zum Hügel, an dessen Gipfel ein grosser Scheiterhaufen aufgestellt worden war. Das Julfeuer sollte angezündet werden. Die Menschenmenge stieg torkelnd und johlend den Kamm hinauf und stellte sich im Kreis um den grossen Holzhaufen in der Mitte.
Rurik ging mit Loki und Audgisil voraus. Salka schleppte Hjalmar hinter sich mit, den kleinen Sveín auf dem Arm. Aveline folgte ihnen schweigend. Auf halbem Weg kamen sie an Inga vorbei, die stehen geblieben war. Sie ignorierte Rurik, als er an ihr vorbeiging.
„Du? Eine Jütländerin? Was für eine Schande!", hörte Rurik Inga blaffen. „Du bist eine feige Ziege. Du warst nicht mal mutig genug, um dir die Pilze in den Mund zu schieben!"
Er drehte sich um und sah, wie sich Inga mit verschränkten Armen vor Aveline gestellt hatte und ihr den Weg versperrte.
„Inga ...", begann Aveline.
Rurik machte kehrt und kam den beiden Frauen entgegen. „Probleme, Inga?", rief er.
Sie formte ihre Augen zu Schlitzen, als er neben Aveline zum Stehen kam. „Was juckt es dich?", zischte sie. „Das ist eine Sache zwischen uns beiden. Ich habe ihr einen Gefallen getan, für den sie mir noch was schuldig ist. Lass uns das alleine klären."
„Welchen Gefallen?" Rurik legte den Kopf schief und musterte Aveline von der Seite. Diese schwieg eisern.
Inga grinste und starrte Aveline erwartungsvoll an. Diese senkte den Blick.
„Sie hat mir die Pilze aus dem Wald besorgt", murmelte sie.
Etwas verkrampfte sich in Ruriks Magen beim Gedanken daran, dass Aveline so nah dran gewesen war, ihr Leben zu beenden. Er hätte nichts machen können, um es zu verhindern und wollte sich gar nicht ausmalen, was das mit seiner Schwester getan hätte, wenn man Aveline tot aufgefunden hätte. Dass Inga ihr dabei geholfen hatte, machte ihn wütend. Er straffte die Schultern und trat einen Schritt auf Inga zu.
„Und was bitte ist sie dir dafür schuldig?", fragte er.
„Krepieren soll sie!", rief Inga. „Das hat sie doch gewollt! Sie soll ihr Versprechen halten."
Rurik knirschte mit den Zähnen, schwer darum bemüht, seine wachsende Wut nicht in Gewalt umwandeln zu lassen. Inga war betrunken — wie so manch andere an diesem Abend — und hatte ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Es wäre schlauer, wenn sie sich einfach von ihr fern hielten.
Er schüttelte den Kopf. „Lass es doch einfach sein, Inga."
„Nein", kreischte diese. Ihre Stimme war unangenehm schrill. „Die Sklavin ist es mir verdammt nochmal schuldig!"
Die Normannin bewegte sich auf Aveline zu, doch Rurik trat dazwischen. Sie funkelte ihn an.
„Nenn sie nicht so", versuchte Rurik mit möglichst ruhiger Stimme zu sagen. „Sie ist jetzt eine von uns."
Inga spuckte zu Boden.
„Einen Dreck ist sie!", brüllte sie. „Es ist eine Abwertung unserer Sippe! Eine Schande, dass man sie freigelassen hat!"
Manche Feiernden warfen der Gruppe schiefe Blicke zu. Inga erregte mit ihrem Geschrei die Aufmerksamkeit des halben Dorfes. Rurik hatte die Schnauze voll und ballte die Faust. Er bäumte sich vor Inga auf und trieb sie zurück — weg von Aveline.
„Lass sie in Ruhe", knurrte er. „Du hast Ragnar gehört. Wer dem widersprechen möchte, soll jetzt die Hand heben oder für immer schweigen. Es ist zu spät, dich jetzt darüber zu beklagen. Also: Schweig!"
Inga atmete schwer. Sie zitterte am ganzen Leib vor Wut, doch erwiderte sie nichts mehr auf Ruriks Worte. Er wandte sich Aveline zu, die etwas beschämt daneben stand und nahm ihre Hand in seine.
„Lass uns gehen", flüsterte er, woraufhin sie stumm nickte.
Diese kleine Berührung liess Inga allerdings komplett an die Decke gehen. „Läuft da was, zwischen euch beiden?", kreischte sie entrüstet. „Kaum bist du mit mir fertig, gabelst du dir schon die Nächste? Und dann noch eine Fremde? Sag mal, geht's noch?"
Rurik ignorierte sie und zog Aveline mit sich, den Hügel hinauf. Sie hinkte und hatte Mühe, schnellen Schrittes den steilen Hang zu erklimmen. Er hielt sie am Arm und half ihr über die rutschigen Stellen.
Der Scheiterhaufen ragte am Hügelkamm in die Höhe. Gefällte Baumstämme, die man im Kreis um das Feuer gestellt hatte, boten genügen Sitzplätze für die Schaulustigen.
Oben angekommen, setzten sich Rurik und Aveline etwas abseits auf einen Stamm.
Ragnar war den Feiernden mit einer Fackel gefolgt und zündete die Strohballen an. Die Flammen kletterten in rasender Geschwindigkeit in die Höhe und verschlangen den ganzen Holzhaufen in rotgelb peitschende Zungen. Man begann ein Lied zu singen, welches zur Huldigung des grossen Feuers und zur Begrüssung des Frühlings angestimmt wurde.
Rurik sang nicht mit. Er hatte nur Augen für die Frau neben ihm. Aveline starrte in die Flammen, einen trüben Schimmer in den Augen. Sie sassen stumm da und liessen das Feuer ihre Gesichter wärmen.
„Fühlt sich deine Freiheit nicht so gut an, wie du es dir erhofft hast?", fragte er nach einer Weile.
Die Menschenmenge hörte auf zu singen. Ragnar adressierte seine Sippe mit einer weiteren Rede und einem Appell an die Götter. Aveline fixierte weiterhin die flackernden Flammen, als befände sie sich irgendwo fern von hier.
„Du hättest mir nicht helfen müssen", murmelte sie. „Mit Inga. Ich kann das ganz gut alleine."
„Das glaube ich dir", antwortete er und starrte ebenfalls ins Feuer. „Aber Inga ist nicht der Grund für deine miese Laune. Habe ich recht?"
Aveline schwieg wieder. Er musterte sie von der Seite und verfolgte die Gefühlsregungen in ihrem Gesicht. Da ging so einiges vor sich, aber er hakte nicht weiter nach. Wenn sie reden wollte, dann würde sie das von alleine tun. Er würde sie nicht dazu nötigen, auch wenn er wirklich wissen wollte, was in ihrem schönen Kopf gerade vor sich ging.
Sein Blick wanderte zum Feuer und über die feiernde Menschenmenge. In der Ferne sah er Loki und Audgisil, wie sie sich einer Gruppe von jungen Frauen näherten und Audgisil — wie es schien — den Mädchen Loki schmackhaft machen wollte, als sei er ein süsser Apfel. Er scheiterte kläglich, denn kein Mädchen in Vestervig, welches bei gesundem Menschenverstand war, würde je was mit Loki — dem Durchgeknallten — anfangen wollen. Der Bär ging vor den Mädchen auf die Knie und flehte sie an, Loki zu nehmen. Sie schüttelten lachend ihre Köpfe. Loki zuckte nur mit den Schultern. Er war diese Art von Ablehnung gewohnt und Rurik wusste, dass sein Freund dies nicht persönlich nahm. Loki war ein kleiner verrückter Einzelgänger. Das würde er auch ein Leben lang bleiben. Rurik schmunzelte.
Sein Blick wanderte weiter über die Menschenmenge und blieb auf seiner Schwester hängen, die unweit von ihnen auf einem Baumstamm sass. Hjalmar hatte sich hingelegt und selbst aus dieser Distanz konnte Rurik das Schnarchen hören.
Ragnar beendete seine Rede. Wer wollte, konnte beim Feuer bleiben und in die Flammen starren, oder wieder zurück ins Sippenhaus kehren, um das ausufernde Fest fortzuführen. Die Jugend verweilte meist länger am Feuer, denn das war für turtelnde Pärchen der ideale Zeitpunkt, um sich näher zu kommen. Für die leer ausgegangenen Junggesellen war es der Moment, sich mit seinen Freunden bis zum Morgengrauen in der Festhalle zu besaufen.
„Ich weiss nicht, was ich machen soll, Rurik", sprach Aveline plötzlich.
Rurik hatte ganz vergessen, dass er ihr eine Frage gestellt hatte und wandte sich ihr zu. Es war so schön, wie das Licht des Feuers auf ihrer blassen Haut tanzte und das Bernstein ihrer Augen zum Leuchten brachte. In dem waldgrünen Kleid sah sie aus wie eine Göttin. So verflucht verführerisch.
„Weisst du", flüsterte sie. „Ich habe so lange auf diesen Moment hingefiebert. Freiheit, das war mein oberstes Ziel, seit dem Moment, als ich normannischen Boden unter meinen Füssen berührt hatte. Ich wollte das so sehr und hätte alles dafür getan. Wirklich alles."
Rurik nickte. „Das würden wir alle tun."
Sie seufzte. „Jetzt habe ich diese Freiheit einfach so bekommen und ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, was ich damit tun soll."
Sie senkte den Kopf und wirkte so verzweifelt, dass Rurik den Drang unterbinden musste, seinen Arm um sie zu legen und sie näher zu sich heranzuziehen. Das war nicht der Moment, um ihr nochmal auf die Pelle zu rücken.
„Und warum bist du dir nicht sicher?", fragte er stattdessen vorsichtig.
Sie begegnete wieder seinem Blick und zuckte die Achseln. „Ich weiss es nicht", gab sie zu. „Mir stehen eigentlich alle Wege offen. Ich könnte in meine Heimat zurückkehren und mein altes Leben wieder aufnehmen." Sie zögerte und biss sich auf diese verdammt weichen Lippen. „Aber da ist nichts mehr. Mein Zuhause, mein altes Leben gibt es nicht mehr. Es wäre falsch zu denken, dass alles so sein würde, wie davor, wenn ich zurückkehrte."
Rurik schwieg. Er und seine Männer hatten ihre Heimat in Schutt und Asche gelegt. Sie waren für ihre schreckliche Lage verantwortlich — er war dafür verantwortlich.
„Ich habe gemerkt, dass ich Angst davor habe, zu sehen, was übrig geblieben ist."
Tod und Verderben. Das hatten sie hinterlassen.
„Du hattest recht", sprach Aveline weiter und riss Rurik aus seinen Gedanken.
„Worin?"
„Ich muss es mir gut überlegen." Sie schluckte schwer. „Mein Weg gabelt sich. So lange dachte ich zu wissen, in welche Richtung ich gehen wollte. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, welchen Pfad ich nehmen soll."
„Du bist unentschlossen", antwortete Rurik. „Das macht doch nichts."
Sie hob den Blick, ihre Lider flatterten. „Ja, aber sollte es eigentlich nicht ganz klar sein? Sollte ich eigentlich nicht wissen, wohin ich gehöre?"
Er schüttelte den Kopf. „Nein, finde ich nicht."
In ihren Augen schimmerte die Verzweiflung, als ob sie hoffte, von ihm eine Antwort zu erhalten, die ihr helfen würde. Rurik breitete die Hände aus, Handflächen nach oben.
„Schau, wir Jütländer machen das so", sagte er. „Wenn du auf See nicht mehr weisst, in welche Richtung du segeln möchtest, weil der Wind plötzlich nicht weht oder der Nebel dir die Sicht trübt, dann lass dich treiben. Das Meer wird dich in die richtige Richtung spülen." Er lehnte sich zurück und stützte die Arme hinter sich auf dem Baumstamm ab. „Manchmal muss man es selbst nicht wissen und die Entscheidung den Göttern in die Hände legen. Sie werden dir den Weg zeigen."
Aveline liess die Worte auf sich wirken, den Blick wieder fest auf die Flammen vor ihnen gerichtet. Seine Antwort löste etwas in ihr aus, das konnte er so klar sehen. Eine merkwürdige Ruhe zog über ihre Gesichtszüge, als wäre die Aussicht, ihr Leben in die Hände der göttlichen Willkür zu legen, nicht mehr beängstigend.
„Vielleicht sollte ich mir mal eure Wikinger-Weisheiten zu Herzen nehmen", erwiderte sie. „Ausnahmsweise."
„Das wäre ausnahmsweise eine gute Entscheidung", antwortete Rurik und wurde Zeuge davon, wie sie ihn anlächelte. Sein Herz ging auf und eine unbeschreibliche Wärme floss hinein.
„Ich bin froh, dass ich dir doch noch ein Lächeln auf die Lippen zaubern konnte und du mich für den Julekuss nicht ins Feuer schubsen wolltest!", fügte er hinzu und stupste sie mit seiner Schulter an.
Sie errötete und Rurik lachte auf. Es gefiel ihm, dass er sie in Verlegenheit bringen konnte. Sie war wunderschön, wie sie so dasass und ihn anstrahlte. Diese faszinierende Frau, die mit ihm in der Nacht der Nächte auf der Bank sass und ihm gerade ihr scheues Lächeln schenkte.
In diesem Augenblick verlor er endgültig sein Herz an sie.
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