32 - Winter
Es war soweit. Nach eisigen Nächten und wolkenbehangenen, grauen Wintertagen stand nun endlich das grosse Julfest an.
Mit der Zusammenkunft sollte die Wiedergeburt der Sonne und das damit einhergehende Erwachen der Natur gefeiert werden. Jule war Sonnen-, Fruchtbarkeits- und Ahnenfest zugleich und darum besonders wichtig für die Normannen. Es war die Nacht aller Nächte — die längste Nacht, wie sie auch von einheimischen Zungen genannt wurde. Bis in die frühen Morgenstunden würde wild gefeiert werden.
Es war der Abend, an dem man sich vom alten Jahr verabschiedete und ein neues, aussichtsreiches Jahr empfing.
Aveline sass geduldig auf dem Hocker in der Wohnstube, während Salka ihre Haare in ein kunstvolles Geflecht verwandelte. Seit sie in Vestervig angekommen war, hatte sie ihre Haarpracht immer offen oder nach hinten zusammengebunden getragen. So ein Zopf, der ihr geflochten wurde, hatte ihren Schopf noch nie geziert.
Salka betrachtete ihr Kunstwerk mit einem zufriedenen Lächeln und machte sich daran, Avelines blasses Gesicht mit Kohle zu schminken.
„Muss das sein?", meckerte Aveline.
Sie war sich nicht gewohnt, dass man ihr Farbe in die Augen schmierte und musste ständig blinzeln. Schminke im Gesicht war ein neues Gefühl. Die Farbe strichen sich im Frankenreich eigentlich nur Prostituierte in die müden Gesichtszüge, um ihr Elend zu verstecken. In Vestervig war das natürlich nicht so. Sowohl Männer als auch Frauen trugen ab und an Farbe im Gesicht, für rituelle Zeremonien, Hochzeiten, Feste oder auch einfach nur, um gut auszusehen.
„Hör auf zu zucken! Ich muss hier eine gerade Linie hinbekommen", mäkelte Salka. Hoch konzentriert malte sie einen Kohlstrich um Avelines Augen. „Das betont deine atemberaubende Augenfarbe, mein Liebes. Jetzt sind sie dunkel umrandet. Einfach herrlich siehst du aus."
„Kann ich mal sehen?", bat Aveline und hielt sich eine Silberplatte vors Gesicht. Wahrlich. Ihre Augen schienen wie zwei goldene Sonnen hervor, ihr Antlitz wurde von ihren sanften, rostbraunen Locken umrandet. Ihr ganzes Gesicht, ihre Ausstrahlung wirkte sinnlicher und das nur wegen zwei dunklen Lidstrichen.
„Gefällt es dir?", wollte Salka wissen.
Aveline nickte. „Ja, nicht schlecht."
Ihr Spiegelbild gefiel ihr tatsächlich. Lange war es her, seit sie das letzte Mal das von sich selbst gedacht hatte. Lange war es überhaupt her gewesen, seit sie sich selbst in einem Spiegelbild so richtig betrachtet hatte. Was sie sah, gefiel ihr — sehr sogar. Am Tag ihrer Freiheit, da konnte sie ruhig so bezaubernd aussehen. Der Tag ihrer eigenen Wiedergeburt. Aveline würde in wenigen Stunden eine freie Frau sein. Der Gedanke zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Sie grinste ihr Spiegelbild an.
„Du darfst weitermachen."
Salkas glockenhelles Lachen hallte durch die Wohnstube. „Oh, da bin ich aber froh!", sagte sie und steckte Aveline die Ohrringe an.
Vor einer Woche waren Aveline die Ohrlöcher gestochen worden. Bis zu diesem Tag hatte sie noch nie Ohrringe getragen. Es hatte höllisch geschmerzt, als die kleine heisse Nadel ihr durch die Ohrläppchen gestossen wurde. Rurik hatte nur gelacht, woraufhin ihn Hjalmar aufgefordert hatte, sich selbst ein Loch stechen zu lassen. Schlussendlich hatte Rurik aber doch mehr Respekt vor dieser kleinen Nadel gehabt und die Herausforderung Hjalmars dankend abgelehnt.
Die zarten Löcher waren mit einem geschliffenen Holzsplitter offen gehalten geworden, damit sie nicht wieder verwuchsen. Salka entfernte die Platzhalter und setzte die Ohrringe ein, die sie für Aveline ausgewählt hatte.
Die kupfernen Ohrringe wiesen filigran geschwungene Linien auf, die sich kunstvoll ineinander wanden. In der Mitte sass ein winziger Vogel, die Flügel geöffnet, zum Abheben bereit. Ein Vogel, der seiner Freiheit entgegensah. Das hatte Aveline gedacht, als sie die Ohrringe das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte die Schmuckstücke sofort gemocht und sich mit einer dicken Umarmung bei Salka bedankt. Die Ohrringe hingen nun sanft von ihren Ohrläppchen und streichelten ihren Hals.
Salka nickte zufrieden und liess Aveline alleine, damit sie in ihr tannengrünes Kleid schlüpfen konnte. Der weiche Stoff schmiegte sich an ihre Rundungen und betonte ihre zarte Weiblichkeit. Es war ein edler Stoff, den Salka für sie ausgewählt hatte. Ihr musste diese Weihung wirklich sehr wichtig sein, denn dieser Stoff fühlte sich kostbar an. Aveline bat ihre Herrin, ihr die samtenen Bänder am Rücken zuzuschnüren.
Nun war sie bereit für die Weihung. Für ihre Freiheit. Für ihr neues Leben.
・・・
Gemeinsam mit Hjalmar und Sveín gingen sie zu Fuss in die Stadt. Es dunkelte bereits. Der kleine Weg, der nach Vestervig führte, war nass und matschig. Die Vorboten des Frühlings waren schon zu spüren. Die Luft war feucht und der Schnee lag schwer auf den Wiesen. Bald würde die Sonne die alten Geister vertrieben haben.
„Wo ist eigentlich Rurik?", fragte Hjalmar, als sie an den Häusern am Stadtrand vorbeigingen.
„Er ist mit Loki schon vorgegangen", erwiderte Salka. „Er will sich das Bier ja nicht entgehen lassen."
Bevor sie ins grosse Sippenhaus eintraten, blieb Aveline vor der Tür stehen. Ihr Herz pochte hart in ihrer Brust. Diese Halle weckte keine guten Erinnerungen. Das letzte Mal, als sie in dieses Haus getreten war, war sie eine Gefangene gewesen. Sie linste nervös zu ihrer Herrin.
„Was, wenn sie mich nicht aufnehmen wollen?"
Salka tätschelte ihre Hand. „Das werden sie nicht. Hab Vertrauen", flüsterte sie.
Gemeinsam traten sie in die grosse Festhalle.
Köpfe drehten sich und Nacken reckten sich, um das schöne, unbekannte Wesen, das soeben in die Halle eingetreten war, zu begutachten. Aveline blickte beschämt zu Boden und spürte, wie sich Salkas Griff an ihrem Arm verstärkte. Sie drückten sich durch die Massen.
Die Halle war voll. Ganz Vestervig war gekommen, um das Ende des Winters zu feiern. Ein Gewühl von Menschen in bunten, eleganten Kleidern tummelte sich um den Tisch, auf dem Esswaren zur freien Verkostung serviert worden waren. Das Feuer in der Mitte loderte weit bis zur Decke hoch. Es war heiss und üppig und es roch nach Bier, Rauch und geschmortem Fleisch. Die Tische und Bänke waren so aufgestellt worden, dass man sich in kleinen Gruppen an einen Tisch setzen und feiern konnte.
„Dort hinten sitzt Rurik", rief Hjalmar seiner Frau zu. „Mal schauen, ob er uns ein Plätzchen freigehalten hat."
Es war laut in der Halle. Man musste sein Gegenüber fast anschreien, um gehört zu werden. Als sie am Tisch ankamen, ging Rurik beim Anblick von Aveline die Kinnlade runter, Loki liess seinen Becher zu Boden fallen und Audgisil grinste breit.
„Aveline, bist du das?" Loki konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
Sie nickte und lächelte ihn an.
„Warum in Odins Namen, ist sie heute hier?", wollte Audgisil von Hjalmar wissen. „Ich wusste nicht, dass Sklaven an Jule erlaubt sind."
Hjalmar zuckte mit den Schultern. „Sie nimmt heute an der Weihung teil."
„IST NICHT WAHR?", schrie Loki entzückt. „Ihr setzt Aveline frei. FREI?" Er packte die Schultern seines besten Freundes und rüttelte daran. „Rurik, du Molch! Warum hast du uns das nicht verraten? Du wusstest sicherlich davon!"
Dieser winkte schweigend ab und trank einen Schluck von seinem Bier. Er schien nicht in besonders guter Stimmung zu sein.
Loki kümmerte das nicht. Er strahlte bis über beide Ohren. „Na dann, Aveline: Herzlich Willkommen bei den verrückten Normannen!", kreischte er. „Glaub's mir, dich hole ich mir nachher zum Tanz! Ich werde der Erste sein. Der Rest kann hinten anstehen!"
Aveline war sich nicht sicher, ob das eine Drohung, oder ein gut gemeintes Angebot war. Sie lachte etwas verlegen und setzte sich an den Tisch.
Audgisil winkte einen Diener herbei und befahl ihm, ihnen mehr Bier und Met zu bringen. Aveline wurde einen grossen Hornbecher vor die Nase gehalten. Sie sass etwas angespannt am Tisch. Noch fühlte sie sich unter all der Blicke und dem Getuschel, das hinter ihr geschah, nicht wohl. Die Leute redeten und starrten in ihre Richtung.
Keiner ihrer Tischgenossen schien das jedoch zu stören. Ausser Rurik vielleicht, der etwas verkrampft ihr gegenüber sass.
Aveline nahm einen vorsichtigen Schluck von ihrem Becher. Es war Met, das man ihr eingeschenkt hatte. Eine herbsüsse Mischung, die ihr überraschend gut schmeckte. Nach dem ersten leeren Becher lockerte sich ihre Anspannung und sie lachte mit ihren Begleitern mit. Es wurde über das Leben, vergangene Lieben, überstandene Krisen und Zukunftspläne gesprochen. Der Alkohol floss in Strömen und allmählich legten die Feiernden ihre Hemmungen ab. Heitere Musik ertönte und liess die Leute bereits auf den Tischen tanzen. Aveline fühlte den Trunk in ihrem Kopf. Die Welt schwankte sanft vor ihren Augen.
Beim hellen Ton einer Horntrompete zuckte sie allerdings zusammen. Dieses abscheuliche Geräusch brachte sie jedes Mal innerlich zum Erstarren.
Sie blickte durch den Saal. Die Tore zur Halle standen offen und vier Personen in weissen Gewändern traten herein. Auf ihren Schultern trugen sie einen grossen Ziegenbock aus Stroh, welcher mit roten Bändern zusammengebunden worden war. Die Menge begann zu klatschen, während sich die weiss gekleideten Gestalten durch das Gewühl drückten.
„Na endlich!", rief Loki. „Bringt ihn herein, den Bock!"
Salka lehnte sich zu Aveline, den kleinen quietschenden Sveín auf ihrem Schoss. „Das ist der Julbock, von dem ich dir erzählt habe", erklärte sie. „Er steht für die Rückkehr der fruchtbaren Erde. Jedes Jahr kommt der Getreidebock zurück zu uns. Darauf ist Verlass."
Aveline nahm diese Information nickend zur Kenntnis und beobachtete, wie der grosse Strohbock auf einen Tisch gehievt wurde. Die Feiernden johlten und trommelten mit ihren Bechern auf die Bretter der Festbänke.
Auf einmal stiegen drei Männer auf die Tische. Einer davon war Loki, der dabei Teller und Karaffen umwarf und dafür ein paar scherzhafte Beleidigungen von Audgisil einsteckte.
Ein etwas älterer Mann, der sich auf eine Tafel am anderen Ende der Halle gestellt hatte, begann laut zu sprechen: „Leeret mit Andacht das Horn, den Saft, der aus Asgard entstammt. Wer redet vorschnell im Zorn, der trinke bis Weisheit entflammt!"*
Die Menge johlte und man schrie: „Skål!"
Die ganze Halle stiess auf den Trinkspruch an und spülte das Bier und Met den Hals hinunter. Aveline blickte um sich. Alle tranken gierig aus ihren Bechern, also tat sie es nach. Vom bitteren Getränk tränten ihre Augen. Sie hustete, als sie ihren leeren Becher auf den Tisch knallte. Dabei kreuzte sich ihr Blick mit dem von Rurik. Er grinste sie an. Der griesgrämige Ausdruck war aus seinen Gesichtszügen verschwunden.
„Nicht gewohnt, so viel auf einmal zu trinken?", fragte er und füllte alle leeren Becher wieder nach. „Dann kannst du hier noch was lernen."
„Was meint er?", richtete sich Aveline an Salka.
Diese wischte sich den Mund ab und deutete wortlos auf den anderen Mann, der in der Nähe des Feuers auf einen Tisch gestanden war. Aveline blinzelte ihre Herrin ungläubig an.
„Noch einmal?"
Salka nickte grinsend. Rurik prustete.
„Aus Bier und Met sollst du heute Nacht geboren werden!", röhrte Audgisil vom anderen Ende ihrer Tafel.
Der Mann auf dem Tisch beim Feuer begann seinen Spruch aufzusagen, seinen Hornbecher in die Luft gestreckt: „Wir weihen diesen Trank der wiedergeborenen Erde und den Müttern unseres Stammes. Skål!"
Auf den Spruch folgte ein zweites gemeinsames Skål. Die Menge klatschte und grölte und schon wieder leerten alle ihre Becher in einem Atemzug. Aveline konnte ihren nur halbwegs austrinken. Sie kam dieser Geschwindigkeit nicht nach und sie wollte sich nicht in Ohnmacht saufen. Kaum waren die leeren Becher wieder aufgefüllt, war nun endlich der letzte Trinkredner an der Reihe: Loki.
Er stand schwankend auf dem Tisch und wartete, bis ihn alle gespannt anschauten. Dann begann er: „Auf das Betrügen, das Stehlen, das Kämpfen und das Saufen ..."
Einige blinzelten verdutzt, andere murmelten konfus. Worauf wollte der verrückte Loki jetzt schon wieder hinaus? Anscheinend hatte er an manch Abenden schon für rote Köpfe gesorgt, hatte Salka Aveline verraten. Man befürchtete, dass er es heute vielleicht einmal mehr schaffen könnte, in hohem Bogen aus der Halle geworfen zu werden, weil er mit seinen Witzen dem Jarl oder sonst einem wichtigen Bewohner Vestervigs ordentlich ans Bein gepisst hatte. Die Gesellschaft wartete gespannt auf das, was folgen sollte.
„Wenn ihr betrügt, dann mögt ihr den Tod betrügen. Wenn ihr stehlt, dann mögt ihr einer Frau das Herz stehlen. Wenn ihr kämpft, dann mögt ihr für einen Bruder kämpfen. Und wenn ihr sauft, dann mögt ihr alle zusammen saufen!"*
Ein ohrenbetäubendes Brüllen brach aus. Das war mit Abstand der beste Spruch des Abends. Zum dritten Mal wurde laut Skål gerufen und der Alkohol in viele durstigen Kehlen geschüttet. Loki sprang vom Tisch und setzte sich neben Rurik, der ihm begeistert auf die Schultern klopfte.
Aveline spürte, wie sich die Welt bedrohlich um sie zu drehen begann. Das Essen wurde an den Tisch gebracht und sie biss dankbar in ein saftiges Stück Fleisch. Sie musste unbedingt ihren Magen mit festem Inhalt füllen, sonst würde sie diesen Abend nicht überleben. Diese Wikinger waren ein Fass ohne Boden. Die Unmengen, die getrunken wurden, waren unvorstellbar und der Abend hatte gerade erst begonnen.
・・・
Jemand tippte Aveline auf die Schulter. Sie war von allen jungen Frauen, die heute geweiht werden sollten, als erstes an der Reihe, sich in die Kammer zu begeben, um Ragnars Segen zu empfangen. Der Diener im rot bestickten, weissen Hemd bat sie höflich, ihm zu folgen. Aveline stand auf.
Plötzlich spürte sie die Nervosität in den Beinen, als befehle ihr Körper, davonzurennen. Ihr Kopf summte von der lautstarken Musik in ihren Ohren und dem Alkohol in ihrem Blut. Sie schwankte, als sie dem Diener durch die Menge folgte.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Rurik jeden ihrer Schritte mit seinen Augen verfolgte, bis sie hinter einem schwarzen Tuch in der Nebenkammer der Versammlungshalle verschwunden war. Mit zittrigen Knien trat sie in die Kammer und wartete. Die Angst umgriff ihr Herz.
„Ragnar ist gleich bei dir", meinte der Diener und verschwand wieder in die grosse Halle.
Der enge Raum wurde durch den Schein des Feuers aus der Festhalle nur spärlich beleuchtet. An den Wänden hingen Disteln. Ein Luftstoss verriet ihr, dass Ragnar soeben in die Kammer getreten war. Ihr Körper spannte sich instinktiv an. Ragnar schlenderte um sie herum, in trägen, dumpfen Schritten. Sie hörte seinen lauten Atem und das Gelächter aus der Festhalle.
„Durup, wir brauchen mehr Licht hier drin", grummelte der Jarl.
Der Diener kam hastig herein und stellte ein paar Kerzen in den Raum, sodass sich die zwei Gestalten besser sehen konnten.
„Das reicht. Raus hier!"
Das Tuch flatterte, als der Diener wieder hinauslief. Ragnar blieb vor Aveline stehen. Seine Augen glänzten vom Trunk. In einer Hand hielt er neun Falkenfedern. Er blickte sie mit seinen blaugrünen Augen an. Sein Ausdruck war ernst und durchdringend. Sie bemühte sich, seinem Blick standzuhalten und nicht zu blinzeln, doch ihre Beine bebten so sehr. Sie hoffte, dass er ihre Furcht nicht erkannte. Seine Augen huschten über ihren Körper. Nur kurz, aber lange genug, dass es ihr unangenehm war. Dann starrte er ihr direkt in die Seele.
Sie schluckte leer.
„Freya trägt ein Falkenkleid, so sagt man", begann er zu sprechen. Seine Stimme war rau, als hätte er bereits zu viel gesungen und getrunken. „Mit diesem Kleid fliegt sie frei durch die Lüfte von Asgard. Die jungen Frauen, die heute meinen Segen bekommen, tragen Freyas Bestimmung in die Sippe. Freya ist die Jugendliche, die Liebliche und die Fruchtbare. Diese Tugenden werden auf euch übertragen. Dir, hübsche Aveline aus dem Frankenreich, gebührt heute eine grosse Ehre. Unsere Göttin schenkt dir ihre Liebe."
Avelines Atem flatterte. Ragnar grinste, seine wulstige Narbe thronte hässlich in der Mitte seines Gesichtes.
„Es ist gut, dass es dich mit Ehrfurcht erfüllt. Das sollte es auch", raunte er und kam einen Schritt näher, um ihr die Feder zu reichen. „Empfange hiermit meinen Segen, Aveline ..." Er zögerte, als hätte er die Zeilen seines Spruches vergessen, doch dann räusperte er sich. „Aveline Jarson. Nimm diese Falkenfeder als Zeichen deiner Zugehörigkeit zu Freya. Hüte sie, verehre sie und beschütze sie bis an dein weltliches Lebensende."
Er reichte ihr eine weisse Feder mit brauner Spitze. Sie drehte die Feder in ihren Händen.
„Hab Dank", hauchte sie fast unhörbar.
„Flattere davon, schöne Walküre", flötete der Jarl und bat sie aus der Kammer.
Aveline stolperte zurück an ihren Tisch und setzte sich. Ihr Herz schlug noch immer schnell und hart gegen ihren Brustkorb. Sie hatte erwartet, dass Ragnar ihr drohen würde, oder sie wieder berühren würde. Aber nichts davon war geschehen. Das Einweihungsritual war dem Jarl scheinbar wichtiger gewesen, als sein kaltblütiger, grausamer Trieb. Aveline seufzte erleichtert und blickte in die Runde.
Loki, Audgisil und Rurik waren in eine heftige Diskussion verwickelt. Hjalmar kümmerte sich um Sveín und Salka grinste sie erwartungsvoll an.
„Und? Hast du seinen Segen empfangen?", fragte sie.
Aveline nickte mit einem schiefen Lächeln und streckte ihr die Feder hin. „Ich denke schon."
Salka liess ein Jauchzen hören. „Wunderbar!", rief sie und riss Aveline die Feder aus den Fingern. „Los, ich stecke sie dir in deine Haare. Dann sehen es alle!"
Rurik löste sich von der Diskussion mit seinen Freunden und richtete seinen Blick auf Aveline. Er musterte sie von der anderen Seite des Tisches. Etwas Warmes lag in seinen Augen, das Aveline nicht genau einordnen konnte.
„Jagt der dir immer noch solche Angst ein?", wollte er wissen. Ihm war ihre Unsicherheit wohl nicht entgangen. Spätestens seit ihrer Begegnung mit dem Jarl auf dem Hofplatz, als Rurik dazwischen kam, wusste er von ihrer Abneigung Ragnar gegenüber.
„Ja, ich finde ihn unberechenbar", murmelte sie.
Hjalmar, der gehorcht hatte, grunzte zustimmend. Dann schenkte er allen am Tisch die Getränke nach und das Trinken ging weiter.
Im Verlaufe des Abends erhielten nebst Aveline acht weitere Mädchen eine Feder, die sie sich alle entweder in die Haare oder ans Kleid steckten.
Als das neunte Mädchen aus der Kammer trat, konnte der letzte Akt des Einweihungsrituals beginnen.
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* Notiz der Autorin:
Da es so tolle Trinksprüche bereits gibt auf unserer Welt, wollte ich mir nicht kläglich die Mühe machen, selber welche zu erfinden. Diese Sprüche (mit * markiert) wurden von anderen, heute leider unbekannten Genies irgendwann in der Vergangenheit erfunden. Ich habe sie für meine Geschichte leicht abgeändert / umformuliert. Wer sich für Trinksprüche interessiert, dem empfehle ich folgendes Buch: Skål!: Alte Trinksprüche und Sauflieder (Deutsch) - 2011 - Regionalia Verlag
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