30 - Winter
Inga stand vor dem Tempel am Ørumsee, die Opfergaben, die sie für Njödr mitgebracht hatte in der Hand: Fischöl und getrocknete Makrelen. Ihr Vater, der Schiffsbauer, war in die wilden nördlichen Gewässer des Skagerak gefahren, um sein neustes Schiffsmodell einem Belastungstest zu unterziehen. Ein durchaus gefährliches Unterfangen in der kalten Jahreszeit und darum wollte Inga den launischen Meeresgott um seine Gunst bitten.
Sie trug ihr weinrotes Lieblingskleid unter einem langen Umhang und hatte ihre blonden Haare kunstvoll zu einem langen Zopf geflochten. Die grosse Halle des Tempels, war bis auf einen Tempeldiener, welcher den Boden wischte, leer. Inga trat hinein. Schnee bedeckte die runde Spitze des Hörgr-Steins und zarte Flocken bahnten sich ihren Weg ins kühle Innere des Tempels durch die Öffnung im Dach. Es roch nach verbrannten Tannenzweigen.
Inga hielt sich die Hand vor die Nase. Der Geruch war unangenehm und verursachte ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengrube. Sie schluckte mehrmals leer, während sie sich vor den Hörgr kniete und ihre erste Gabe mit beiden Händen in die Luft hob.
„Njörd, du mächtiger Ozean. Ich flehe um deine Gunst. Bitte schenke meinem Vater deinen Segen und zügle deine starken Strömungen", bat sie und goss das Fischöl in eine leere Schale. „Führe ihn durch sanfte Wogen, nimm seine Segel und leite ihn sicher in den Heimathafen zurück. Ich ersuche um deine Gnade. Lass die Biester des Skagerak ruhen."
Sie legte die getrockneten Makrelen ins Fischöl. Der Tempeldiener, der die Holzdielen gewischt hatte, brachte ihr eine Fackel, mit welcher sie ihre Gaben weihen konnte. Während das Fischöl aufflammte, die Markelen verkohlten und ein leichter grauer Rauch der Schale entstieg, schloss Inga die Augen und sprach zu den Göttern, in sich gekehrt. Auch dieser Geruch verursachte ihr Übelkeit. Sie schluckte leer.
Nachdem ihr Opferritus vollendet war, wollte sie den Hohepriester aufsuchen, um ihm eine Prophezeiung über ihre Zukunft zu entlocken. Ungeduldig blieb sie in der Säulenhalle stehen und wartete. Radvaldur trat aus der verbotenen Kammer, dicht gefolgt von zwei Tempeldienern, die Kräuter anzündeten und den grossen Saal in einen milchigen Rauch tauchten. Es roch süsslich. Dieser Duft biss Inga nicht in der Nase. Sie senkte ihren Kopf und liess den grossen Priester seine Hand auf ihren Scheitel legen. Er stand mit seinem weissen langen Gewand dicht vor ihr. Die Tempeldiener summten eine berückende Melodie, die Inga in eine leichte Trance versetzte. Die Zeit schien stillzustehen.
Radvaldur summte mit der traurigen Melodie mit und schloss die Lider. Inga stellte sich vor, wie er vor seinem inneren Auge s die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sehen musste. Sein Oberkörper wippte im Takt der Klänge vor und zurück. Die Weisheiten der Ahnen und der Geister offenbarten sich ihm, Inga konnte es beinahe spüren, wie die Erkenntnis durch ihn fuhr. Nach einer Weile ertönte seine tiefe, erdige Stimme.
„Inga Holrikson, Tochter, Schwester und Geliebte zugleich. Empfange die Botschaft unserer Götter aus meinem Munde:
Ein Herz bricht.
Ein Samen liegt auf brachem Boden.
In der langen Nacht verschmelzen die Welten.
Der Vogel lockt den Narr und tränkt ihn in Blut.
Grosses Unheil bricht herab.
Ein Kind ohne Vater.
Dies ist dein Orakel, mein Kind. Nimm es als ein Zeichen für deine Handlungen."
Inga blinzelte, als sie die Hände des Priesters nicht mehr auf ihrem Kopf spürte und das Gesumme der Diener verstummt war. Das war alles, was er in ihrem Schicksal gesehen hatte. Radvaldur hielt ihr wortlos und mit ernstem Blick die offene Handfläche hin. Sie küsste sie und drückte ihm eine Kupfermünze in die Hand.
Beim Herausgehen murmelte sie leise die Worte ihrer Prophezeiung. Auch wenn sie nicht ganz verstand, welche Bedeutung sie trugen, wollte sie die Einzelheiten nicht vergessen. Die Worte wurden immer nur einmal ausgesprochen, man musste gut zuhören.
Ein gebrochenes Herz, ein Samen auf unfruchtbarer Erde, Welten, die zusammentreffen, ein Vogel und ein Narr, in Blut getränkt, grosses Unheil, ein vaterloses Kind. Das waren die Worte, an die sie sich erinnerte. Krampfhaft wiederholte sie diese, damit sie sich in ihr Gedächtnis einbrannten.
Sie hasste es, dass diese Weissagungen immer so kryptisch waren. Die Bedeutung und Tragweite fürs eigene Leben musste man sich förmlich aus den Fingern saugen. Es war nie ganz klar, was die Priester den Menschen prophezeiten. Wirre Bilder waren das meist, aber manchmal fand man darin sogar eine Spur Wahrheit.
・・・
Auf ihrem Weg zurück zum Hafen traf Inga ihre Freundinnen. Es hatte aufgehört zu schneien und ein kalter Wind blies vom Meer durch die Stadt. Die Frauen standen eng im Kreis vor dem Eingang eines Hauses und plauderten über das anstehende Julfest und welches Kleid sie an dem Abend tragen wollten.
Jule war ein besonderes Fest in Vestervig. Jarl Ragnar lud die ganze Stadt in die grosse Versammlungshalle zum Feiern ein. Es konnte kommen, speisen und saufen, wer wollte - egal ob arm oder wohlhabend. Nebst dem grossen Julfeuer, welches am Ende des Festes auf dem Hügel draussen entfacht werden würde und als Höhepunkt des Abends galt, wurden auch die jungen Mädchen, die ihre Volljährigkeit erreicht hatten, in die Gemeinschaft geweiht. Das war insbesondere für die Junggesellen Vestervigs ein spannender Augenblick, da man dort die neuen heiratsfähigen Frauen genauer in Augenschein nehmen konnte und — wer mutig genug war — mit ihnen tanzen konnte. Generell war das Julfest das Fest der Verkupplungen und erotischen Eskapaden für die Jugend von Vestervig. Darum war es für die drei Frauen wichtig, am Abend aller Abende mit ihrem Aussehen zu überzeugen.
Für Inga war es wieder einmal die Gelegenheit ihren Schwarm, Rurik, zu verführen. Wenn der Alkohol in Strömen floss, wurde er nachgiebiger und hörte auf, sich ihrem Willen zu widersetzen. An Jule würde er ihr nicht widerstehen können, dafür wollte sie schon sorgen.
„Flichst du mir bitte die Haare wieder wie letztes Jahr?", fragte Torvi und strich sich durch ihre braunen Strähnen.
Inga hörte nicht richtig hin. Sie war abgelenkt, denn sie hatte soeben Rurik von Weitem entdeckt. Er stand vor der Gerberei seines Freundes und war in ein Gespräch vertieft.
„Ja, mache ich", sagte sie gedankenverloren und beobachtete weiterhin die Männer. Rurik sah wie immer einfach toll aus.
„Werdet ihr jemandem einen Tannenzweig schenken?", wollte Helga wissen. Ihre blonde locken hingen vom Schneefall durchnässt schwer von ihrem Kopf.
Torvi zuckte mit den Schultern. „Habe mich noch nicht entschieden, ob ich Björn oder Horvald was schenken möchte. Björn hat ein wirklich gutes Herz, aber Horvald ist der bessere Liebhaber."
Helga schnaubte amüsiert durch die Nase. „Und du, Inga?", richtete sie sich an ihre Freundin, die ihre Aufmerksamkeit von den Kerlen in der Ferne gelöst hatte. „Wirst du den guten alten Rurik beglücken?"
„Ich habe es vor, ja." Inga nickte.
Torvi stupste ihre Freundin an. „Ich bin ja schon etwas neidisch auf dich", sagte sie und grinste dabei, „dass du so einen tollen Liebhaber gefunden hast." Sie wackelte mit den Augenbrauen, doch Inga fand das nicht lustig.
„Er ist nicht mein Liebhaber", entgegnete sie. „Er ist mein Freund. Mein Partner. Mein Zukünftiger."
Ein kurzes, spitzes Lachen entkam Helga von der Kehle. „Das muss er nur noch selbst denken", murrte sie und rieb sich die kalt gewordenen Hände.
Inga warf ihr einen bösen Blick zu. Helga tat das ständig. Über ihre Beziehung mit Rurik zu spotten.
„Willst du mich schon wieder erzürnen?", fauchte sie ihre Freundin an. „Rurik liebt mich genauso, wie ich ihn! Nicht mehr lange und er wird meinen Vater um Erlaubnis bitten und um meine Hand anhalten."
Torvi quietschte vor Freude auf. „Wirklich? Och, das ist so toll! Ich freue mich sehr für dich!"
Helga schüttelte allerdings bloss den Kopf. „Nimm es mir nicht übel, Inga, aber ich glaube dir das erst, wenn ich es mit meinen eigenen Augen sehe. Rurik ist ein Lurch. Du bist nicht die Einzige, die er diesen Sommer im Schlafgemach besucht hat ..."
Sie liess den letzten Satz in der Luft hängen. Mit voller Absicht. Es dauerte zwei Herzschläge, bis Inga verstand, worauf Helga anspielte.
„Was meinst du damit? Wovon redest du?"
„Bei mir war er kurz vor Herbsteinbruch", sagte Helga geflissentlich und grinste dabei. „Ich muss schon sagen, er ist ein wahrer Liebeskünstler."
Der Hieb ins Herz stach fürchterlich. Ingas Augen funkelten von den Tränen, die sich darin ansammelten. Wie konnte es ihre Freundin bloss wagen ...? Torvi hielt vor Überraschung die Luft an.
„Du lügst!", platzte es aus Inga heraus.
Helga wich vor der Wut ihrer Freundin nicht zurück. Sie wirkte ruhig und gleichgültig. „Nein", erwiderte sie. „Ich spreche die Wahrheit."
Diese Worte bohrten sich noch tiefer in Ingas Herz, doch ihr Verstand wollte es nicht wahrhaben. Ihr Rurik war nicht so.
„Beweis es!", zischte sie, doch Helga runzelte ab dieser Forderung bloss die Stirn.
„Wie soll ich dir das denn beweisen?" Ihr Blick wanderte zu den Männern bei der Gerberei. „Frag ihn doch einfach selber", meinte Helga und machte eine wischende Bewegung in die Richtung.
Inga bebte. „Nein, das geht so nicht. Du sollst es beweisen!". Die Verzweiflung kroch in ihr hoch. Die Verzweiflung und die Angst, das es wahr sein könnte.
„Na gut", seufzte Helga. „Lass mich überlegen." Sie biss sich auf die Unterlippe und grübelte. Dann erhellte sich ihr Gesichtsausdruck. „Oh ja!", stiess sie aus. „Da fällt mir ein. Er hat an seinem Oberschenkel eine grosse Narbe."
Torvi verschränkte die Arme vor der Brust. „Jeder Krieger kann eine Narbe auf dem Oberschenkel haben", meinte sie . Sie stand offensichtlich auf Ingas Seite und wollte ihre Freundin verteidigen.
„Nicht diese Narbe", entgegnete Helga mit einem verschmitzten Lächeln. „Die ist einzigartig. Die Linien überkreuzen sich. Man kann nur von dieser Narbe wissen, wenn man ihn nackt gesehen hat."
Inga wurde kalt, als hätte eine tote Hand sich in ihr Herz gekrallt. Das stimmte. Rurik hatte auf seinem rechten Oberschenkel tatsächlich eine grosse Narbe von zwei sich überkreuzenden Schwertstössen. Die hatte er eingesteckt, als er noch ein unerfahrener junger Krieger gewesen war. Man sah sie nur, wenn er seine Hose abstreifte ...
Die Übelkeit, welche sie vorhin noch im Tempel verspürt hatte, wand sich in ihrem Magen. Das war doch einfach nicht möglich!
„Du dreckiges Flittchen!", fluchte sie und schubste Helga in den schmutzigen Schnee. „Du dumme Kuh hast ihn verführt. Du hast ihm einen Zaubertrank gegeben, dass er seinen Willen verliert und mit dir vögelt. Sonst würde er das nie tun! Wie konntest du nur! Du weisst doch, wie viel er mir bedeutet!"
Ihre Stimme war schrill und wurde von den schneebedeckten Häusern verschluckt. Helga raffte sich wieder auf und wischte sich den Dreck von der Kleidung. Ihre Mundwinkel zog sie weit nach unten. So sah sie immer aus, wenn sie besonders wütend wurde.
„Mach die Augen auf, Inga", gab sie zurück. „Er liebt dich nicht. Er nimmt jede, die ihre Beine für ihn breit macht, sonst nichts. Das mit mir war eine einmalige Sache. Nur vögeln. Ich wollte bloss ehrlich zu dir sein."
„Nein!", kreischte Inga. Weisse Lichter flackerten vor ihren Augen.
Sie spürte, wie Torvi ihr eine Hand auf die Schulter legte, im Versuch, sie damit zu trösten.
„Inga", sagte Torvi. „Beruhig dich wieder. Du findest sicher einen anderen ... Es gibt noch ganz viele nette Junggesellen hier in Vestervig."
Doch Inga wollte nicht hinhören. Sie entriss sich aus Torvis Hand. „Ich will keinen anderen", zischte sie. „Ich will Rurik! Versteht ihr das denn nicht? Wir sind füreinander bestimmt. Die Götter wollen es so!"
Helga schüttelte den Kopf. „Rurik will wohl was anderes."
Inga konnte es nicht mehr zurückhalten. Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter, nässten ihr Gesicht und fingen die Kälte des Winters ein.
„Dieser Mistkerl!"
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