22 - Herbst
Ragnars Männer ritten gen Norden.
Zeugen hatten berichtet, dass sie die Schweden in diese Richtung hatten flüchten sehen. Die Pferde der Männer galoppierten durch die nasse Landschaft. Es war bitterkalt und der Regen versetzte die Truppe in schlechte Laune. Die Nässe drang ihnen bis in die Knochen und die Brise trug dazu bei, dass die gestandenen Männer vor Kälte schlotterten.
Seit drei Tagen suchten sie schon und hatten noch keinen einzigen Schweden aufgespürt.
Rurik ritt der Gruppe voran, neben ihm Audgisil, der sein Bärenfell über den Kopf gezogen hatte. Rurik war derjenige gewesen, der die Spuren im Matsch entdeckt und gelesen hatte und die Gruppe nun in nordöstliche Richtung führte. Er war überzeugt, dass sie sich auf der richtigen Fährte befanden. Sie mussten die Flüchtigen bald eingeholt haben, denn weit konnten sie bei den Wetterverhältnissen nicht mehr sein.
Die Nacht brach ein und die Männer beschlossen, die Suche für den Tag zu beenden. Bei einem einsamen Bauernhaus machte die zehnköpfige Truppe halt. Der Bauer liess die Männer in seinen Schuppen und schlachtete ein Schwein. Er erlaubte ihnen, im Inneren des Schuppens ein kleines Feuer anzumachen und das Ferkel am Spiess zu braten.
Rurik zog seine Stiefel aus. Seine Füsse waren klitschnass und die Haut aufgeweicht. Er band sich etwas Heu zusammen, stopfte es in seine Stiefel und schob sie in die Nähe des Feuers. Seit drei Tagen hatte er schon feuchte Füsse. Das war die erste Nacht, die sie im Trockenen verbringen konnten und er wollte unbedingt die Gelegenheit nutzen, seine Kleidung zum Trocknen aufzuhängen. Er zog sich fast vollständig aus. Nur sein Unterhemd liess er an. Das war so dünn, dass es in der Hitze des Feuers trocknen würde.
Seine Kameraden taten es ihm gleich und so sassen zehn erwachsene Männer beinahe nackt im Heuschuppen und brieten ein Ferkel.
Als die junge Tochter des Bauern vorbeikam, um den Männern Getränke einzuschenken, errötete sie beim Anblick der behaarten Männerbeine. Die Stimmung lockerte sich mit dem Bier und der Wärme des Feuers. Sie alle wollten wieder nach Hause, aber sie wussten, dass sie nicht mit leeren Händen zurückkehren konnten.
Das würde ihr Jarl nicht akzeptieren.
„Morgen schnappen wir sie!", meinte einer der Kerle. Sein Bart war so lang, dass er ihm bis zur Brust reichte.
„Das dachten wir vorgestern auch schon", sagte ein anderer.
Rurik spürte den Überdruss, der in den Männern anwuchs. Sie hatten die Flüchtigen nach dem ersten Tagesritt schon unter einer Brücke vermutet, jedoch bloss ein leeres Lagerfeuer vorgefunden. Die weiteren zwei Tage im Sturm und Regen hatten an der Moral gekratzt.
„Das letzte Lagerfeuer qualmte trotz des Regens noch. Wir sind wirklich bald am Ziel", sprach Rurik ihnen gut zu. „Durchhalten, Männer!"
Ein Kerl mit roten, kurzen Haaren lachte humorlos auf. „Bei dem scheiss Wetter ist das wirklich nicht so einfach!", entgegnete er.
Audgisil liess ein tiefes Knurren hören. „Heute haben wir ein Dach über dem Kopf und trockenes Heu, in dem wir schlafen dürfen", sagte er. Er klang alles andere als entspannt. Rurik wusste, wie sehr das ständige Meckern der Männer seinem Freund an den Nerven kratzte. „Es hätte schlimmer kommen können und wir hätten zum dritten Mal in Folge in diesem eisigen Regen draussen schlafen müssen." Audgisil verwarf die Arme. „Seid nicht so jämmerlich!"
Einige blickten betreten auf ihre Füsse.
„Wenn man etwas Wasser vom Himmel nicht vertragen kann", fuhr Audgisil fort und warf dem rothaarigen Kerl einen vorwurfsvollen Blick zu „sollte man sich auch nicht freiwillig für so einen Einsatz melden!"
Die Männer blieben stumm, da wurde die Tür zur Scheune geöffnet und die Bauerntochter lugte hinein. „Ich habe den werten Herren ein paar unserer Decken und Felle mitgebracht", murmelte sie.
Sie traute sich kaum, die Männer, die in ihren Unterhemden ums Feuer sassen, anzuschauen. Rurik erhob sich und nahm ihr die Decken ab. Sie errötete, als sich ihre Hände für einen flüchtigen Moment berührten.
„Hab vielen Dank", sagte er und lächelte dabei freundlich.
Das Mädchen wich seinem Blick aus und zog ihre Hand schnell wieder an sich. Mit bebenden Fingern strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Stimme war nur ein Hauchen, als sie Rurik zuflüsterte, dass es doch selbstverständlich sei, dass ihre Familie den Kriegern Ragnars helfe. Rurik zwinkerte ihr zu, was sie noch roter anlaufen liess.
Kichernd rannte sie zu ihrem Haus zurück und liess die Männer in der Scheune zurück. Rurik schloss das Tor und warf seiner Truppe die Decken zu. Er wurde von grinsenden Gesichtern begrüsst.
„Rurik", sagte ein dunkelhaariger Junge, der seinen Rücken an einem Heuballen lehnte, „ich glaube, du könntest dir heute Abend nicht nur ein Stück Ferkel ergattern."
Die Männer lachten in Zustimmung.
Rurik winkte ab. „Ach Quatsch!", erwiderte er. „Es ist von Vorteil, wenn man zu der lokalen Bevölkerung überaus höflich ist. Wir wollen ja nicht, dass Ragnars Ansehen wegen unserem Verhalten in Verruf gerät." Seine Freundlichkeit dem Mädchen gegenüber hatte nichts mit seinen männlichen Bedürfnissen zu tun.
„Immer so anständig", brummte der Rothaarige.
Audgisil schmunzelte. „Rurik wusste schon immer, wie er jungen Frauen weiche Knie verpassen kann", fiel er seinem Freund in den Rücken, wofür er einen warnenden Blick einsteckte, den Audgisil jedoch bloss mit einem Schulterzucken abschüttelte.
„Du Schurke", grummelte ein junger blonder Krieger, der etwas weiter hinten sass. „Du hast mir auch schon mal die kleine Brùn vor meinen Augen weggeschnappt. Du musstest nur lächeln und die Kleine hat ihre Beine breit gemacht."
Rurik blinzelte verwirrt. Er konnte sich beim besten Willen nicht an eine Brùn erinnern, die er beglückt haben soll.
„Wann war da—?", wollte er sich erkundigen, da unterbrach ihn Audgisil schallendes Lachen.
„Er erinnert sich nicht mal mehr daran!", grölte dieser.
Die Männer stimmten mit ein. Rurik liess die Neckerei stoisch über sich ergehen
„Bei Odin!", stiess der Kerl mit dem langen Bart aus. „Wie viele Ringe hat man dir eigentlich schon geschenkt? Reichen dir beide Hände gar nicht mehr aus dafür?" Als er das sagte, wackelte er mit seinen Fingern vor seinem Gesicht herum.
Rurik begann zu grinsen. Ihm war bewusst, dass man ihn um seine Fähigkeiten, Frauen zu verführen, bewunderte — ja fast beneidete. Da die Kerle jedoch mit dem Ärgern angefangen hatten, wollte er mitspielen. Sollten sie ruhig in ihrem Neid ertrinken.
Er hielt acht Finger hoch.
Die Augen des rothaarigen Burschen wurden gross.
„Ein Wunder, dass die Walküren dich in den Schlachten nicht schon längst gefunden und nach Walhalla geholt haben!", rief der Blonde.
„Die holen mich, wenn es Zeit dafür ist", erwiderte Rurik bloss und setzte sich wieder zu seinen Männern. Audgisil klopfte ihm brüderlich auf die Schulter.
Bis in die tiefe Nacht lachten und speisten sie. Als sich die ersten Männer schlafen legten, glimmte die Glut nur noch. Rurik und Audgisil lagen wach im Heu und sprachen über das weitere Vorgehen für den nächsten Tag. Sie wollten sich in zwei Gruppen aufteilen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, auf die Flüchtigen zu treffen.
Rurik spürte, dass die Schurken nicht mehr weit sein konnten. Es war, als hätte er einen sechsten Sinn dafür. Während sein Freund allmählich in den Schlaf abdriftete, kreisten Ruriks Gedanken eine ganze Weile noch um Aveline und was er mit diesem tätowierten Bastard tun würde, wenn er ihn zwischen die Finger bekäme.
Mit dieser ungestillten Wut im Bauch schlief auch er ein.
・・・
Am frühen Morgen krähte der Hahn und weckte die schlummernden Männer.
Es hatte aufgehört zu regnen. Ein dichter Nebel hüllte die Landschaft in ein milchiges Grau. Die Sonne schien nur schwach durch die Suppe.
Die Männer standen draussen vor der Scheune und packten ihre Sachen zusammen. Zum Frühstück gab es die Überreste des Ferkels und ein paar Karotten, die vom Bauernmädchen in einer Kiste gebracht wurden.
Sie errötete abermals, als sich ihr Blick mit dem von Rurik kreuzte. Sie machte sich nicht gleich wieder vom Acker, wie am Vorabend, als sie vor Scham und Aufregung rot angelaufen war, sondern ging mit zögerlichen Schritten auf Rurik zu.
Dieser zog sich gerade sein Hemd über den Kopf.
„Werter Krieger Ragnars", murmelte das Mädchen. Sie rieb die Hände ineinander. Es war kalt. Ihre Nase rann und leuchtete rot.
„Was gibt's?", fragte Rurik und stopfte sich sein Hemd in die Hose, die am Bund vorne noch aufgeknöpft war. Er merkte, wie ihre Augen auf seine Hände fielen, welche die Schnüre zubanden.
Sie schüttelte den Kopf und hob den Blick. „I-Ich habe gestern ein Feuer gesehen", stotterte sie. Mit dem Handgelenk wischte sie sich die Tropfen von der Nase.
Rurik runzelte die Stirn. Ein Feuer? Natürlich hatte sie das gesehen — die Truppe hatte ja ein Schwein in der Scheune gebraten. Er wollte soeben dazu ansetzen, ihr zu erklären, dass es ihr Vater ihnen ja erlaubt hatte, da fuhr sie fort: „Draussen im Wald." Sie drehte den Kopf etwas zur Seite, als würde sie in den Wald blicken wollen, der sich hinter ihr am Rande des Weges erstreckte. „Ich habe gestern Nacht — nachdem ich die Decken gebracht hatte — durch die Baumstämme und Sträucher ein Feuer gesehen."
Rurik erstarrte. „Tatsächlich?", stiess er aus und richtete sein Blick auf die dunklen Fichten.
Sie nickte. „Ich dachte, es sei schon merkwürdig, dass da Leute im dunklen Wald bei der Kälte draussen schlafen. Das macht hier wirklich niemand aus der Gegend." Sie blickte ihm tief in die Augen. Furcht glänzte darin. „Der Wald ist voller Wölfe. Das weiss hier doch jeder. So kam es dann, dass ich dachte, dass es diese Männer sein müssen, die Sie suchen. Ich wollte es jemandem sagen, bevor es zu spät ist."
Rurik packte die Bauerntochter an den Schultern und umarmte sie kurzerhand. Sie verkrampfte sich unter seiner Berührung und blieb erstarrt stehen, als er sie losliess. Er bedankte sich und sagte ihr, dass sie ihnen wirklich sehr geholfen habe. Dann wandte er sich augenblicklich seiner Gruppe zu.
Leichte Aufregung brach aus, als die Männer über die Neuigkeit informiert wurden. Sie diskutierten, wie sie die Schweden im nahen Waldstück überfallen sollten. Schnell waren sie mit Ruriks Plan einverstanden: Von zwei Seiten wollten sie sich den Schurken nähern.
Die eine Gruppe ritt mit Audgisil an den nördlichen Waldrand, während Rurik mit dem Rest bei der Scheune blieb und zu Fuss an das südliche Ende schlich. Sie wussten nicht, wie tief im Dickicht die Feinde vorgedrungen waren.
Mit einer Handbewegung befahl Rurik seine Gruppe zum Halt. Sie kauerten sich an den Waldrand.
Der dichte Nebel kroch zwischen den Bäumen in den Wald und erschwerte die Sicht. Keine leichten Verhältnisse für eine Attacke. Es war still. Nur ein paar Vögel zwitscherten bereits ihren morgendlichen Gesang.
Rurik suchte den Blickkontakt seiner Kameraden und gab jedem Einzelnen zu verstehen, dass sie kein Wort mehr miteinander sprechen sollten. Sie würden äussert vorsichtig durch den Wald stapfen müssen. Kein Rascheln, kein Murmeln durfte sie verraten.
Er schloss seine Augen, um in den Wald zu horchen. Wenn er schon nichts sah, dann musste er auf seine anderen Sinne zählen. Sein Jagdinstinkt kam ihm hier zugute. Er hörte die Atmung seiner Männer neben ihm, das Flattern der Vögel, das leise Knarzen der Tannen.
Da war ein weiteres Geräusch, welches er in der Ferne wahrnahm. Entweder waren das Audgisil und die anderen Männer, die sich zu früh in den Wald gewagt hatten, oder es waren Rehe, die sich durchs Unterholz bewegten.
Oder es waren die Schweden.
Unsicher darüber, was er vernommen hatte, hörte er nochmal genauer hin. Er kannte den Rhythmus und Klang von Audgisils Schritten. Dumpf und lang.
Dieses Geräusch war allerdings anders.
Er hielt den Atem an, um noch besser hören zu können. Die Männer neben ihm schienen es ihm gleich zu tun. Keiner wagte es, zu atmen. Rurik war ein talentierter Jäger — das wussten alle. Man musste den Mann seine Arbeit machen lassen. Er war schliesslich derjenige gewesen, der sie auf die richtige Fährte gebracht hatte.
Rurik kniff die Augen zusammen. Hoch konzentriert wurde er eins mit dem Summen des Waldes.
Da war es wieder! Ein gedämpftes Geräusch, das vom Nebel verschluckt wurde.
Er öffnete die Augen und grinste.
Seine Finger glitten an die Lippen und dann blies er etwas Luft in den Spalt zwischen seinen Daumen. Ein sanftes Uhu entkam seinen Händen. Er wiederholte den Ton drei Mal.
Das war das Zeichen für Audgisil, dass sie nun in den Wald schreiten würden. Rurik hoffte, dass sein Freund den nördlichen Rand schon erreicht und ihn gehört hatte.
Warten wollte er nicht mehr. Es war höchste Zeit, die Schweden im nebligen Holz ausfindig zu machen. Ein weiteres Mal würde ihm der tätowierte Schurke nicht entkommen.
Er zog seine Axt aus dem Gurt und nickte seinen Männern zu.
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