20 - Herbst
Die Gruppe ritt im Trab den Waldweg entlang. Loki und Audgisil befanden sich wieder einmal in einer hitzigen Diskussion, ob die Streitaxt wirklich die beste Kriegswaffe darstellte, oder ob nicht eher das Langschwert besser fürs Schlachten geeignet wäre. Sie waren munteren Gemütes.
Rurik hockte ermüdet auf seinem Pferd. Er wollte nur noch zurück und in seinem Bett seinen Kater ausschlafen. Er hatte es bitter nötig.
Hjalmar ritt schweigend der Gruppe voran. Rurik vermutete, dass sein Schwager noch immer an die Entscheidung am Thing zurückdachte, dass im nächsten Frühling schon wieder Raubzüge geplant waren. Raubzüge, welche Hjalmar aufs Bitterste verabscheute.
Rurik hingegen war über die Pläne Ragnars sehr erfreut gewesen. Er wollte die Welt entdecken und die Abenteuerlust seines Jarls machte dies nun mal möglich. Allerdings war er deswegen auf dem Heimweg in einen Streit mit seinem Schwager geraten und nun schwiegen sie sich seit einer Weile stur an.
Die Gruppe bog in die letzte Abzweigung. Am Ende des Weges wurde der Waldrand und dahinter der Hof sichtbar. Mit einem Mal blieb Hjalmars Pferd stehen. Rurik riss überrascht seine Zügel zurück und stoppte seinen Hengst. Auch Loki und Audgisil hielten an, blieben aber in ihrer Diskussion vertieft.
Hjalmar starrte zum Hof. Rurik steuerte sein Pferd bis zur Höhe seines Schwagers und blickte ihn fragend an. „Was gibt's?"
„Da vorne", antwortete Hjalmar und deutete mit seinem Kinn zum Hof. „Da vorne liegt was." Rurik folgte seinem Blick.
Tatsächlich!
Da lag jemand auf dem Hofplatz! Rurik wollte sogleich sein Pferd antraben, da hielt Hjalmar seine Hand hoch und signalisierte ihm, zu warten. „Da stimmt was nicht."
Loki und Audgisil stoppten ihre Diskussion prompt. Rurik kniff seine Augen zusammen, während er den leblosen Körper von der Ferne zu identifizieren versuchte. Sein Magen verkrampfte sich.
„Richard!", stiess er aus. „Es ist Richard, der da liegt!"
Hjalmar fluchte laut, dann sprangen sie alle von ihren Pferden.
Rurik knirschte mit den Zähnen. Irgendetwas war in seiner Abwesenheit passiert. Seine böse Vorahnung hatte sich bestätigt. Wenn er doch bloss auf sein Bauchgefühl gehört hätte!
„Wir lassen die Pferde hier und gehen zu Fuss", beschloss Hjalmar. Sein Ausdruck so ernst, wie ihn Rurik schon lange nicht mehr gesehen hatte. „Zückt eure Waffen", fügte er an. „Wir wissen nicht, womit wir es hier zu tun haben."
Mit Axt und Schwert bewaffnet schlichen sich die Männer an den Hof heran. Als sie näher kamen, sahen sie die Blutlache, in der Richard lag. Er war tot.
Hjalmar biss wütend die Zähne zusammen. „Verdammt!", knurrte er. „Wir kommen zu spät."
Rurik verstärkte den Griff um seine Axt. Wer auch immer das getan hatte, der würde bitter dafür bezahlen. Sein Blick richtete sich auf das Wohnhaus. Wenn Richard hier lag, dann mussten seine Schwester und Aveline nicht weit weg sein. Seine Brust wurde eng bei dem Gedanken, was den beiden Frauen zugestossen sein könnte.
Zusammen näherten sie sich dem Wohnhaus. Vor dem Eingang lagen Scherben, die Tür war geschlossen, doch Rauch stieg sowohl aus dem Wohnhaus, als auch aus dem Arbeiterhaus empor. Rurik runzelte die Stirn.
Jemand hatte das Feuer angemacht.
Als Hjalmar die Tür zu seinem Haus öffnen wollte, durchschnitt ein gellender Schrei die Stille auf dem Hofplatz.
Rurik riss den Kopf herum. „Das ist Aveline!", zischte er so leise wie möglich. Ihre Stimme kam vom Arbeiterhaus.
Hjalmars Ausdruck wurde finster, tödlich. Von seinem sonst so friedfertigen Wesen war rein gar nichts mehr zu sehen. Die Wut glühte in seinen braunen Augen. Rurik verstand ihn. Auch er fühlte den blanken Zorn ihn sich aufsteigen.
Mit einem Handzeichen deutete Hjalmar an, dass Audgisil und Rurik im Arbeiterhaus nachschauen sollten, während er und Loki sich das Wohnhaus vornehmen würden.
Geduckt schlichen Rurik und Audgisil über den Platz, an Richards leblosen Leib vorbei. Die Wunde auf seiner Brust glänzte noch feucht. Es musste nicht allzu lange her gewesen sein, seit er gestorben war.
Rurik presste sich an die Aussenwand des Arbeiterhauses und horchte. Avelines flehende Rufe waren vom Inneren zu hören und da war Gelächter. Jemand musste mit ihr da drin sein.
Rurik hörte zwei Stimmen — Männerstimmen — und signalisierte dies seinem Freund mit der Hand. Audgisil nickte und verstärkte den Griff um sein Schwert, sodass seine Knöchel weiss hervortraten.
Unzählige Herzschläge verstrichen, während Rurik weiter horchte. Er wollte den richtigen Moment abwarten, um die Kerle zu überrumpeln. Von Aveline war mittlerweile nichts mehr zu hören. Die dumpfen Stimmen im Inneren sprachen miteinander.
Rurik nickte Audgisil zu. Mit einem kräftigen Tritt brach dieser die Tür ein.
Eine abscheuliche Szene bot sich Rurik, als er ins Haus stürzte. Aveline hing an den Armen gefesselt vom grossen Balken, ihr Oberkörper entblösst, ihr Kleid zerrissen. Blut tropfte ihr vom Gesicht auf ihre Brust und rann ihren Bauch hinunter. Ihr Kopf hing schlaff auf den Schultern, ihre Hände waren violett angelaufen.
Es stank nach verbrannter Haut.
Der Anblick löste etwas in Rurik aus. Sein Verstand erlosch und überliess seinem Kriegerinstinkt die Überhand. Das Blut kochte in seinen Adern — vor Rage. Er löste seine Augen von Aveline und richtete seinen Blick auf die zwei Bastarde, die ihr das angetan hatten.
Ein tätowierter Mann mit Ziegenbart und geflochtenem Pferdeschwanz kniete zu ihren Füssen, eine Axt in der Hand. Der andere Kerl stand neben ihm und hielt Aveline an der Taille fest. Er grinste, als er Rurik und Audgisil hereinplatzen sah.
Der Tätowierte stürzte sogleich mit seiner glühenden Axt auf Audgisil. Dieser blockte den Schlag mit seinem langen Schwert ab und holte zum Hieb aus. Die zwei boten sich einen harten Kampf. Das Eisen blitzte.
Rurik fixierte den Riesen neben seiner Sklavin. Der Zorn schwelte in seinem Inneren. Diesen Kerl wollte er töten. Schritt für Schritt näherte er sich dem Koloss, liess den zwei Kämpfenden den Platz und ging um die Feuerstelle herum.
Keinen Augenblick lang fiel sein Blick von seinem Gegenüber ab. Der blonde Riese grinste ihn an. Er war unbewaffnet, aber er stand zu nahe an Aveline, als dass Rurik ihn angreifen konnte. Er musste ihn von ihr weglocken.
Zu Ruriks Entsetzen berührte der Hüne Avelines Brust und verschmierte das Blut, das ihr über den Körper floss. Mit seinem Zeigefinger zeichnete er Linien und Spiralen, die sich um ihre Brustwarzen, ihre Rippen und ihren Bauchnabel wanden.
„Fass sie nicht an!", brüllte Rurik. Sein Fokus schärfte sich auf seinen Gegner, als sähe er ihn bloss noch durch einen Tunnel.
Diese schmutzigen Finger auf ihrer blassen Haut. Dafür würde er ihm den Kopf abhacken.
„Oh, war das deine?", fragte der Hüne stirnrunzelnd.
Rurik wollte ausrasten, doch knirschte er bloss mit den Zähnen. Noch musste er sich zügeln, seine gewaltige Wut zähmen, ehe er das Monster in seinem Inneren entfesseln würde.
Als der Riese für einen Wimpernschlag die Augen von ihm abwandte, stürzte sich Rurik auf ihn und brachte ihn zu Fall.
Sie krachten in ein paar Kisten. Splitter flogen ihnen um die Ohren. Ruriks Axt glitt ihm aus der Hand in die Ecke des Raumes. Er rollte er sich auf den Riesen und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Dieser wehrte den Hieb an und wälzte sich, sodass Rurik auf den Boden prallte. Der Koloss gewann die Überhand und schlug nun auf Rurik ein. Dieser bekam heftige Schläge ab, die ihm locker den Kiefer gebrochen hätte, wenn er nicht wüsste, wie er sich dagegen schützen konnte. Er liess die Schläge über sich niederprasseln, alle seine Muskeln bis zum Bersten angespannt.
Dann griff der Riese ihm mit den Händen ins Gesicht, die Daumen auf seine Augäpfel gedrückt. Rurik hatte nicht damit gerechnet und schrie vor Schmerzen auf. Seine Finger krallten sich in die Hände des Riesen, im Versuch, sie von seinem Gesicht zu zerren.
Es gelang ihm nicht.
Der Druck auf seine Augen wurde unerträglich, er spürte, wie sich die Fingernägel seines Gegners in seine Lider bohrten.
Da wurde der Koloss mit einer Wucht umgestossen. Rurik keuchte auf und sah, wie Audgisil den Koloss ins Feuer stiess. Da sein Freund den Kampf mit dem tätowierten Typen unterbrochen hatte, um Rurik zu helfen, konnte er es nicht mehr verhindern, dass dieser die Flucht ergriff und aus dem Haus stürzte.
„Verdammt!", grollte Audgisil.
Der Hüne schrie panisch, denn sein roter Fuchspelz brannte lichterloh und entzündete seine Haare. Er kroch zur Seite, während seine ganze Kleidung Feuer fing.
„Meine Axt!", rief Rurik.
Audgisil fand die Waffe am Boden und warf sie Rurik zu. Dieser schwang sie mit einem kräftigen, wütenden Hieb in den Nacken des Gegners. Der Kopf rollte mit brennendem Haar auf den Boden, der Körper kippte zurück in die Flammen.
Allmählich füllte sich die ganze Hütte mit beissendem Rauch.
Rurik drehte sich um und lief zur Sklavin, die reglos am Balken baumelte. „Schnell!", schrie er. „Durchtrenn das Seil mit deinem Schwert, bevor wir hier alle verbrennen!"
Audgisil gehorchte. Mit einem Surren gab das Seil nach und Avelines schlaffer Körper fiel in Ruriks Arme.
Die zwei Wikinger sprangen aus dem brennenden Arbeiterhaus ins Freie.
Draussen standen bereits Hjalmar und Loki auf dem Hofplatz. Vor ihnen lag neben Richard ein weiterer toter Mann.
Aus dem Arbeiterschuppen drang schwarzer, stinkender Rauch.
„Habt ihr den einen erwischt, der aus dem Haus gerannt ist?", fragte Audgisil und hielt sich die Hand vor den Mund. Er hustete und spuckte.
Hjalmar schüttelte den Kopf und zeigte auf den Toten auf dem Boden. „Haben nur den da im Wohnhaus erwischt. Einer ist euch entkommen?"
Audgisil nickte frustriert.
„Dieses verfluchte Schwein hole ich mir noch!", knurrte Rurik und starrte in den Wald. Der Flüchtige hatte sich bestimmt schon einen beachtlichen Vorsprung aufgebaut.
„Dem hinterherzuspringen hat jetzt keinen Sinn, Rurik", sagte Hjalmar und machte eine nickende Bewegung zum Wohnhaus hinter ihnen. „Bring Aveline ins Haus. Salka ist dort ..." Sein Blick fiel auf das Blut und Avelines nackten Oberkörper. Seine Augen schimmerten dabei schmerzlich. „Vielleicht kann sie noch etwas tun."
Audgisil lief zu seinem Pferd. „Ich muss zu meiner Familie. Muss nachschauen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist!", rief er.
Hjalmar nickte wortlos und wandte sich dann an Loki, der wie auf Nadeln neben ihm hüpfte.
„Geh in die Stadt und schau nach, wie viele Bewohner überfallen wurden", ordnete er an. „Rapportiere alles an Ragnar." Loki nickte aufgeregt. „Diese Männer hier sind Schweden, sie tragen das blaue Emblem um den Hals. Ihr Angriff könnte eine Kriegserklärung sein. Ragnar muss unbedingt darüber in Kenntnis gesetzt werden, wenn er es nicht schon mit eigenen Augen gesehen hat!"
Im gestreckten Galopp machte sich Loki auf in die Stadt.
・・・
Rurik stiess die Eingangstür zum Wohnhaus mit dem Fuss auf und trug Aveline über die Schwelle. Ein Chaos empfing ihn. Die gesamte Einrichtung war auf den Kopf gestellt worden. Scherben, Stofffetzen und Holzsplitter lagen auf dem Boden.
Salka sass mit einer Decke über den Schultern am Feuer und schlotterte. Sie blickte hoch, als Rurik mit der leblosen Aveline hereintrat. Ein erschrockenes Stöhnen entkam ihrer Kehle.
Kurzerhand trug Rurik die Sklavin in sein Zimmer. Seine Liege war umgeworfen worden und seine Sachen lagen zerstreut im Raum. Er fluchte und legte Aveline behutsam auf den Boden ab, damit er sein Bett wieder aufrichten konnte. Die Felle und Strohkissen warf er auf die Schlafstätte, sodass sie möglichst weich liegen würde.
Vorsichtig hob er sie wieder auf und legte sie auf die Felle. Sie regte sich nicht. Ihre Hände waren noch gefesselt. Er löste den Knoten und massierte die Handflächen, damit das Blut wieder floss. Ihre Hände waren so unglaublich kalt.
Salka kam langsamen Schrittes in sein Zimmer. „Oh nein", stiess sie aus. Sie klang heiser. „W-Was haben sie ihr angetan?"
Rurik schwieg und deckte Aveline mit seiner Decke zu. Die Wut brodelte in seinem Bauch und es fiel ihm schwer, nicht vor Zorn das ganze Haus zu zerschlagen.
Salka setzte sich auf die Liege und strich Aveline die Haare aus dem blutigen Gesicht. „Sie ist ganz kalt", stellte sie fest.
Das wollte Rurik nicht hören. Er nahm nochmals ihre Finger und begann, sie stärker zu reiben. „Komm schon, Aveline!", murmelte er, während er ihre kleinen Hände in seinen hielt. „Wach auf."
Keine Bewegung. Es schien, als würde sie schlafen. Was ihm mehr Sorgen bereitete, war diese unmenschliche Kälte. Ihr Herz schlug zwar noch. Das hatte er an seiner Brust gespürt, als er sie getragen hatte und ihren zarten Körper an seinen gepresst hatte. Doch sie war zu kalt.
Salka stand auf und lief vor dem Bett hin und her. „Oh nein, bitte Rurik", wimmerte sie. „Mach, dass sie aufwacht. Sie darf nicht sterben. Hörst du? Sie darf nicht. Ich brauche sie. Wir brauchen sie!"
Rurik schluckte schwer. Wie recht seine Schwester hatte. Er tätschelte ihre Wangen, in der Hoffnung, sie würde ihre Augen öffnen. Wie sehr er sich jetzt wünschte, er könnte ihre wütenden Augen wieder funkeln sehen. Er wollte dieses Leuchten zurück haben. Dieses Licht, welches sie ausstrahlte und jedes Mal, wenn sie ihn anblickte, ihn so tief berührte.
Aber ihre Lider blieben geschlossen.
Kein Lebenszeichen.
Etwas in seiner Brust zog sich zusammen.
Da kam Hjalmar ins Zimmer, in der Hand hielt er einen Eimer voll Wasser. „Leg sie auf den Boden", meinte er knapp.
Rurik sah ihn fragend an. „Was, warum?"
„Auf den Boden, habe ich gesagt!"
Rurik gehorchte und hob Avelines kleinen Körper auf die Erde. Hjalmar packte die Decke, die über sie gelegt worden war und streckte sie Salka hin. „Halte das, mein Liebes."
Mit Schwung goss Hjalmar das eiskalte Brunnenwasser über Aveline und auf einen Schlag wurde ihr das Leben wieder eingehaucht.
Die Götter hatten sich umentschieden. Heute war noch kein guter Tag zum Sterben.
Hustend krümmte sie sich auf dem Boden und spuckte. Salka seufzte erleichtert auf und warf die Arme um ihren Mann.
Aveline war klitschnass. Rurik entriss seiner Schwester die Decke und wickelte die zitternde Gehilfin fest darin ein. Er rieb sie, damit das Blut in ihrem Körper wieder zu fliessen begann und sie sich aufwärmen konnte.
Er war so erleichtert, sie am Leben zu sehen. Für einen kurzen Moment war die Zeit für ihn stillgestanden. Wenn sie nicht aufgewacht wäre ... er hätte nicht gewusst, was er dann getan hätte.
Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten ihn an. Die Angst spiegelte sich darin. „Bist du gekommen, um mich zu töten?", krächzte sie.
Er schüttelte den Kopf und half ihr auf die Liege zurück.
„Nein", sagte er mit sanfter Stimme. „Wir haben dich da rausgeholt. Es ist alles gut!"
Sie sah unendlich traurig aus. Der lebendige Glanz in ihren Augen war verschwunden. Das Leuchten, das Rurik so mochte, war nicht da, als hätte jemand einen Vorhang darüber gezogen. Er sah, wie die Erinnerungen an das, was ihr vor wenigen Augenblicken widerfahren war, zurückkamen. Ihre Pupillen weiteten sich. Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln.
„Nein!", schluchzte sie. „Nichts ist gut! Richard ist ... ist ... Oh Gott!" Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Ihr Gesicht vor Schock erstarrt. „Es ist alles meine Schuld!"
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, begann sie zu weinen. Schmerzvoll und unkontrolliert. Salka trat hervor und klopfte ihr auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Aber es half nichts. Aveline schluchzte und krümmte sich auf dem Fell.
Hjalmar schob seine Familie aus dem Zimmer. Er wollte Aveline für einen Moment alleine lassen. Rurik warf einen letzten Blick zurück. Wie sie so verkrampft dalag und sich den Schmerz von der Seele weinte. Er kannte dieses Gefühl. Die Schuld, die einen plagte, wenn man den Tod eines Freundes nicht vermeiden konnte. Er kannte das von den Schlachten. Doch Avelines Trauer war rauer. Sie war aus der Ungerechtigkeit geboren, nicht aus dem Krieg. Das tat mehr weh.
Er folgte seiner Schwester ins Wohnzimmer. Sie setzten sich an die Feuerstelle. Das Wehklagen aus Ruriks Zimmer war weiterhin zu hören.
„Sie leidet so sehr", sagte Salka und warf ihrem Mann einen besorgten Blick zu.
Dieser nahm ihre Hand und drückte sie. Tröstend. „Was ist geschehen, mein Liebling?", wollte er wissen.
Salka seufzte tief und legte ihre Hand auf den Bauch, als wolle sie ihr Ungeborenes schützen.
„Sie standen plötzlich vor der Tür und haben sich ungefragt Zugang verschafft", begann sie. „Sie haben nicht gesagt, was sie wollten, sondern haben mich sofort ins Schlafzimmer geschleppt." Salka schluckte leer und Rurik meinte, ein Grollen von Hjalmar vernommen zu haben. Sein Schwager bebte.
„Haben sie ... haben sie dich ...?" Er konnte den Satz nicht beenden, doch Salka schüttelte den Kopf.
„Sie haben mich nicht angefasst. Richard hat mich schreien gehört und kam zur Hilfe. Sie haben ihn zusammengeschlagen." Salkas Kinn zitterte. „Wenig später kam Aveline ins Haus. Sie haben sie übel zugerichtet ... und als sie sich gewehrt hat, haben sie Richard getötet und wollten dasselbe mit mir tun. Aber dann hat sie sich den Männern anerboten. Für mich! Für mein Leben."
Rurik schloss die Augen und schluckte schwer. Aveline hat das für seine Familie getan.
„Sie war so mutig. So ... furchtlos." Salka legte eine Hand auf ihre Brust. „Oh, mir schmerzt das Herz beim Gedanken, was mit ihr geschehen ist. Was die mit ihr da drin getan haben."
Die Vorstellung schnürte Rurik die Kehle zu, liess die Hitze in ihm wieder aufkochen, als wäre er der Feuerriese Halogi höchstpersönlich. Er wollte sich nicht ausmalen, was in dem Arbeiterhäuschen passiert war, bevor er Aveline da rausgeholt hatte. Welch Grausamkeit ... Wäre er doch bloss früher da gewesen, dann wäre ihr all das erspart geblieben! Er schnaubte laut.
Hjalmar tätschelte Salkas Hand. „Sie lebt", besänftigte er sie. „Das ist alles, was jetzt zählt. Wir wollen dafür sorgen, dass es auch so bleibt." Er wandte sich an Rurik. „Geh in die Schenke und hole das stärkste Aquavit, das die zu bieten haben. Wir müssen sie betäuben, bevor sie die Schmerzen ihrer Wunden zu spüren beginnt."
Das liess sich Rurik nicht ein zweites Mal sagen. Er wollte helfen, wo er konnte. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Dafür, dass diese Sklavin das Leben seiner Schwester gerettet hatte.
In zwei Schritten war er bei seinem Hengst und sprang auf dessen Rücken. Schnellen Galopps ritt er in die Stadt.
Vestervig brannte lichterloh.
Leute rannten umher und versuchten, die Brände ihrer Häuser zu löschen. Es kamen noch immer Männer vom Thing zurück, die nichts von all dem Chaos mitbekommen hatten und beim Anblick der Flammen im Galopp durch die Strassen flitzten, um ihre Familien und Besitztümer zu retten. Hilferufe hallten durch die Luft.
Rurik stürmte in die Schenke und hetzte den Wirt, ihm den stärksten Schnaps in seinen Trinkbeutel zu füllen und so schnell, wie er in die Stadt geritten war, kehrte er zurück. Hjalmar winkte ihn allerdings zu sich, bevor er in sein Zimmer gehen konnte.
„Salka ist gerade da drin und hilft ihr, sich zu waschen und umzuziehen", erklärte er. „Warte."
Rurik legte den Beutel mit dem Aquavit ab und half seinem Schwager dabei, das Wohnzimmer wieder herzurichten. Draussen hatte sich das brennende Arbeiterhaus zu einem grossen Feuer entfacht. Die Flammen stiegen in den Himmel und peitschten im Wind.
Aus seinem Zimmer drangen Schmerzenslaute. Rurik hörte, wie Salka mit ruhiger Stimme Aveline besänftigte. Sie summte ein Lied. Ein Lied, das ihre Mutter ihnen immer beim Einschlafen gesungen hatte, als sie noch Kinder waren. Es schien, als ob die sanften Töne die Gehilfin beruhigten.
Als er sich sicher war, dass seine Schwester die Sklavin angekleidet hatte, trat Rurik ins Zimmer, in der Hand hielt er seinen Trinkbeutel. Aveline lag ausgestreckt in seinem Bett, mit einer Decke bis zur Brust zugedeckt. Ihre Augen matt, ihr Gesicht eine Maske. Das ganze Blut, das an ihr geklebt hatte, war verschwunden.
Er trat näher. Sie drehte den Kopf in seine Richtung.
„Trink", sagte er und reichte ihr den Beutel. „Ist bis oben voll mit dem stärksten Trunk, den du je in deinem Leben getrunken haben wirst." Ihr Blick fiel auf den Trinkbeutel. „Das wird dich umhauen", fügte er an. „Versprochen."
Sie hob die Lider und Rurik meinte, einen Funken Hoffnung in diesem Honigbraun zu erkennen. Hoffnung auf Linderung.
Sie setzte sich vorsichtig auf. Auf ihrem Handrücken war der Abdruck ihrer Zähne zu sehen. Rurik vermutete, dass sie sich so sehr in die Faust gebissen haben musste, um den teuflischen Schmerz an ihren Füssen zu unterbinden.
Sie hob den Beutel an ihr Gesicht. Der Geruch von Nelken und Fenchel füllte den Raum.
„Trink langsam. Das wird dir die Schmerzen nehmen", versprach er.
Sie nahm zwei kräftige Züge und begann sogleich zu husten. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle. Sie kniff die Augen zusammen und trank nochmals.
Rurik wusste, das in diesem Beutel alles war, was sie jetzt brauchte.
Schwerelosigkeit.
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