15 - Herbst
Aveline strauchelte hinter Hjalmar her. Er lief mit hastigen Schritten vor ihr und holte seine Frau auf, die ebenfalls den Heimweg eingeschlagen hatte. Sie wagte es nicht, zurückzublicken, aber sie spürte Ingas Augen auf ihrem Rücken — wie ein Stechen auf ihrer Haut.
„Du kannst hier nicht frei umherlaufen. Das hast du gemerkt, was?", knurrte Hjalmar, als sie den Waldrand erreichten und sich der Bauernhof vor ihnen erhob.
Aveline blieb stumm und ballte die Fäuste, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Herz pochte noch immer aufgewühlt und voller Furcht unter ihren Rippen. Das hätte so schlimm für sie enden können — so schnell.
„Vergiss nicht, was du bist", schärfte er ihr weiter ein, woraufhin Salka ihm von der Seite einen ernsten Blick zuwarf, den Aveline nicht deuten konnte.
Sie senkte den Kopf. Hjalmar hatte recht: Sie war eine Unfreie, eine Rechtlose. Eine Sklavin. Das hier war nicht ihr Zuhause. Hier war sie nur erwünscht, wenn sie folgsam ihre Arbeit verrichtete und den Wikingern die Füsse küsste.
„Verzeih mir, dass ich einen solchen Aufstand ausgelöst habe", murmelte sie. „Das war nicht meine Absicht, mein Herr."
„Nenn mich nicht so", fuhr Hjalmar sie abermals an.
„V-Verzeihung."
Salka schob ihren Mann zur Seite und legte einen Arm um Avelines Schultern. Sie zog sie näher zu sich heran.
„Es tut mir leid, dass du diese Seite von ... von uns kennenlernen musstest", sagte sie. Es klang aufrichtig. Ihr sanfter Blick bestätigte dies. Dann deutete Salka auf das Wohngebäude vor ihnen. „Auf dem Hof und im Wald bis zum See kannst du dich sorglos bewegen", fügte sie an.
Sie schenkte Aveline ein aufmunterndes Lächeln, das ihr wahrscheinlich hätte Trost spenden sollen. Salka wusste, wie gerne Aveline im Wald unterwegs war, um ihre Kräuter zu sammeln. Wie sehr sie die Bewegungsfreiheit genoss. Hjalmar allerdings schüttelte den Kopf.
„Ab sofort gehst du nicht mehr ohne Begleitung in den Wald", beschloss er. Salka blickte ihren Mann durchdringend an, doch er liess sich nicht mehr vom Gegenteil überzeugen. „Das ist zu gefährlich", erklärte er und wandte sich seiner Gehilfin zu. „Wir können es uns nicht leisten, dich wegen einer Dummheit zu verlieren. Nicht bevor das Kind da ist."
Sie blieben vor dem grossen Wohnhaus stehen. Salkas Hand wanderte auf ihren Bauch und der etwas verunsicherte Biss auf ihre Unterlippe verriet, dass sie ihm wohl doch zustimmte.
Aveline faltete die Hände vor ihrer Brust und warf Hjalmar einen flehenden Blick zu. „Aber mein Herr— ich meine Hjalmar, ich würde es nicht wagen zu fliehen!" Bisher zumindest hatte sie es nicht gewagt und das würde eine ganze Weile noch so bleiben. Sie wollte ihre Bewegungsfreiheit nicht verlieren. Das konnte sie nicht! „Ich schwöre es bei Odin!", warf sie hinterher, in der Hoffnung, das würde den Normannen von ihrer Unschuld überzeugen.
Hjalmars strenge Gesichtszüge glätteten sich augenblicklich. Odin war ein gutes Stichwort bei dem Wikinger, das wusste Aveline. Er schmunzelte und legte seine riesige Hand auf ihre Schulter. Seine Finger waren kräftig und schwielig.
„Du musst nicht auf unsere Götter schwören", sagte er und klopfte ihr sanft auf die Schulter. Ein Lächeln machte sich hinter seinem buschigen, braunen Bart erkenntlich. „Ich vertraue deinen Worten."
Aveline führte ihre gefalteten Hände an die Lippen und warf ihm einen letzten, inständigen Blick zu. Doch Hjalmar blieb hart.
„Du gehst nicht mehr alleine in den Wald. Wenn du etwas brauchst, nimmst du entweder Rurik oder Richard mit dir mit."
Ihre Hände fielen schlapp herunter. Sie senkte den Kopf, während Hjalmar ihre Schulter losliess. Salka trat einen Schritt heran, nahm ihr Kinn zwischen die Finger und bat Aveline, den Kopf zu heben, um ihr in die Augen zu blicken. Sie gehorchte. Die hellen Augen ihrer Herrin strahlten sie an. Gutmütig, mitfühlend.
„Du musst verstehen", sprach sie. „Es gibt gewisse Leute hier in Vestervig, die nicht damit einverstanden sind, wie wir dich und Richard behandeln." Sie schluckte leer und liess Avelines Kinn los. „Auch wenn es mir anders lieber wäre, es ist zu deiner und unserer Sicherheit das Beste, wenn du nicht mehr alleine unterwegs bist. Hast du verstanden?"
Sie blickte ihrer Gehilfin tief in die Augen. Aveline nickte stumm, die Lippen hart zusammen gepresst. Ihre Besitzer hatten sich klar und deutlich ausgedrückt, da gab es keinen Raum für Diskussionen.
Ihre Herrin seufzte, als wäre damit eine Last von ihr gefallen und als hätte sich somit alles erledigt. Für sie hatte sich die Sache erledigt, nicht aber für Aveline. In ihrem Kopf herrschte ein Sturm. Ein Chaos zwischen Verzweiflung, Frust und Angst.
„Ich hoffe, dir hat die Zeremonie genau so gefallen wie mir!", wechselte Salka das Thema. Ihre Augen glänzten vor Begeisterung.
Aveline rang sich ein müdes Lächeln ab. Die Zeremonie hatte ihr nicht gefallen, aber das wollte sie ihrer Herrin nicht offen sagen.
„Es war eine sehr sonderbare Sache", erwiderte sie.
Hjalmar schritt zum Wohnhaus, blieb im Türrahmen stehen und drehte sich ein letztes Mal um. Seine Worte waren nicht mehr an Aveline gerichtet, sondern an seine Frau.
„Die Götter sind für die nächsten paar Tage sicher milde gestimmt", meinte er. „Morgen kannst du zum Hohepriester gehen und eine Prophezeiung für unseren Sohn erbitten."
Salka schien von dieser Idee begeistert und begann, aufgeregt zu plappern, dass sie dem Priester ein Geschenk bringen würde und dass sie dies morgen früh gleich erledigen wolle. Hjalmar gab Aveline mit einem Handwinken zu verstehen, dass es Zeit für sie war, ins Bett zu gehen.
Sie steuerte auf das Arbeiterhaus zu, während es in ihrem Kopf arbeitete. Die Übelkeit, die sie in ihrem Magen verspürt hatte, war einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit gewichen.
Wie würde sie es je schaffen, sich unbemerkt vom Hof zu schleichen?
Sie kannte Hjalmar bereits gut genug. Sie wusste, dass er es ernst meinte. Seine Frau war ihm zu kostbar, als dass er riskieren würde, dass seine Gehilfin aus Dummheit von blutrünstigen Dorfbewohnern hingerichtet werden würde. Sowas würde er nicht zulassen. Aveline durfte nicht mehr alleine auf Wanderschaft.
Das warf ihre ganze Planung auf den Kopf.
Eigentlich wollte sie vor Wintereinbruch fliehen. Eigentlich.
Ihre Vorbereitungen waren in den letzten Tagen allerdings nur mässig vorangeschritten. Aus dem Grund, weil Aveline schlicht die Zeit dafür fehlte. Es gab so viel auf dem Hof zu tun und es wurde von Tag zu Tag schwieriger, Momente zu finden, an denen sie in Ruhe ihre Fluchtpläne schmieden konnte. Dass man sie nun nicht mehr alleine in den Wald lassen wollte, war sehr nachteilig, wenn nicht sogar katastrophal. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, bevor der Frost sich über das Land legen würde. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie unbeschreiblich kalt es hier werden konnte.
Allein in der Wildnis im kalten, nordischen Winter — das würde sie nicht lange überleben.
Aveline blieb mitten auf dem Hofplatz stehen und ballte die Fäuste. Ihr blieb wirklich kaum noch Zeit.
Den schnellsten Weg durch den Wald und um den See herum hatte sie erst kürzlich gefunden. So weit war sie schon gekommen. Den Weg konnte sie auch bei dunkelster Nacht durchschreiten, daran zweifelte sie nicht.
Doch das weite Feld, welches nach dem Wald und dem See folgte, bereitete ihr weitaus mehr Sorgen. Bei Tag würde man sie auf dem offenen Terrain mühelos erspähen können. Das Risiko war zu gross, von einem vorbeiziehenden Bauer oder Reiter entdeckt zu werden.
Das beschränkte die Tageszeit ihrer Flucht auf die Dämmerung, oder gar auf die Nacht, wo sie im Schutz der Dunkelheit unbemerkt über das Feld hasten könnte. In der Nacht allerdings würde sie selbst kaum etwas sehen können und die Vorstellung, welch grässliche Biester sich im Wald tummelten, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wenn es hart auf hart kommen musste, dann würde sie das wohl oder übel in Kauf nehmen müssen.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Nebst den Gefahren in der Wildnis, stellte der Hunger eine weitere, ziemlich grosse Hürde dar. Aveline wollte möglichst leicht bepackt reisen und konnte somit nicht viel Proviant mit sich schleppen. Sie musste sicherstellen, dass sie während ihrer Flucht jagen konnte.
Etliche Male hatte sie Rurik bei der Jagd begleitet. Nicht, weil sie seine Anwesenheit genoss, sondern, weil sie von ihm lernen wollte. So unauffällig, wie sie konnte, hatte sie ihn beobachtet, sich jeden Schritt, jede Bewegung einzuprägen versucht, damit sie für ihre eigene Flucht gerüstet sein würde. Ob das ausreichte, um selbst ein Tier zu erlegen, wusste sie nicht. Es musste einfach ausreichen.
Das Einzige, was ihr für die Jagd noch fehlte, war die entsprechende Ausrüstung. Sie brauchte einen Speer, um Fische zu jagen, ein Seil, um Fallen zu stellen und Pfeile. Einen Speer konnte sie sich mit ihrem Dolch schnitzen. Darüber machte sie sich keine Gedanken. Das Seil hatte sie bereits. Es fehlte nur noch der Pfeil und Bogen.
Ruriks Jagdausrüstung.
Aveline schluckte leer. Das würde eine grössere Herausforderung werden, ihm unbemerkt sein Werkzeug zu entwenden, wo er es doch beinahe täglich um seine Schultern trug.
Sie seufzte laut.
Es gab noch so viele Sachen, die sie organisieren musste, bevor sie die Flucht wagen konnte. So viele Risiken, die sie eingehen musste, ohne dass irgendjemand Wind von ihrem Plan bekommen könnte.
Und dann war da noch das letzte, weitaus grösste Problem von allen: Der Zeitpunkt ihrer Flucht.
Ingas Verdacht war nicht ungerechtfertigt gewesen. Sie hätte sich durchaus aus dem Tempel schleichen können, während fast das ganze Dorf darin versammelt war. Wäre sie besser vorbereitet gewesen, hätte sie sich davonmachen können.
Diese einmalige Gelegenheit hatte sie jedoch verpasst.
Nun musste sie auf einen weiteren, geeigneten Moment für ihr Entkommen warten. Einen Moment, an dem alle abgelenkt waren, sodass sie davonschleichen und sich einen möglichst grossen Vorsprung erlaufen konnte. Einen Vorsprung, den sie dringend brauchte, sobald man ihre Flucht entdeckte.
Rurik war nämlich schnell. Sehr schnell. Sie hatte ihn einmal einem Hasen hinterher sprinten gesehen, der von dem Pfeil nicht getötet worden war. Falls er ihre Abwesenheit zu früh bemerkte, würde er sie mit seinen scharfen Instinkten aufspüren und innert kürzester Zeit einholen. Dagegen war sie beinahe chancenlos.
Alles, was sie brauchte, war ein Moment der Unaufmerksamkeit. Nur ein paar unbeaufsichtigte Augenblicke ...
Aveline grübelte weiter und schritt auf das Arbeiterhaus zu.
Auf halbem Weg über den Hof erblickte sie im Dunkeln die Holzbretter, welche Hjalmar an die Wand des Schuppens gelehnt hatte. Er wollte daraus eine Kinderwiege zimmern.
Da ging Aveline ein Licht auf. Sie zuckte vor Schreck zusammen.
Die Geburt!
Die Geburt war Ablenkung genug.
Der vollkommene Plan entfaltete sich vor ihren Augen. Die Geburt würde die Aufmerksamkeit der ganzen Familie auf sich lenken. So sehr, dass niemand merken würde, wie sich Aveline davon machen würde. Geburten dauerten lange. Das würde Aveline in die Hände spielen und ihr genug Zeit geben, um einen beachtlichen Vorsprung aufzubauen.
Allerdings würde der Säugling selber bestimmen, zu welchem Zeitpunkt er auf die Welt kommen wollte. Das war das einzige Element ihres Planes, welches sie nicht steuern konnte. Sobald es soweit war, würde sie schnell handeln müssen.
Salka würde durch die Wehen ans Bett gefesselt sein. Hjalmar und Rurik würden die Geburt wahrscheinlich in der Schenke verbringen, so war es zumindest im Frankenreich Tradition — die Männer wohnten nie einer Geburt bei, das war Frauensache. Aveline vermutete, dass das auch bei den Wikingern so sein musste.
Nur Salka und sie selbst würden bei der Geburt anwesend sein. Aveline würde dann im richtigen Moment die Tücher wechseln wollen und fliehen.
Sie nickte gedankenverloren und trat ins Arbeiterhaus.
Der Gedanke, Salka bei der Geburt alleine zu lassen, gab ihr zwar ein schlechtes Gewissen, aber der heutige Abend hatte es ihr wieder bewiesen. Sie musste hier weg. Hier gehörte sie nicht hin und hier wollte sie nicht bleiben. Um jeden Preis wollte sie ihre Freiheit zurück, auch wenn dabei ein unschuldiges Leben daran glauben musste.
Die Welt war ungerecht. Für alle.
・・・
Richard kniete vor der Feuerstelle.
„Um Himmels willen, was ist geschehen? Du bist ja schneeweiss", stiess er aus, als er Aveline eintreten sah.
Sie setzte sich auf ihre Liege und rieb sich die Schläfen. „Mir ist übel", murmelte sie.
Richard reichte ihr einen Becher Wasser, den sie in wenigen Zügen leerte. Die Bitterkeit in ihrem Magen verflog allmählich.
„Was ist los?", hörte sie ihren Zimmerkollegen vorsichtig fragen. Er musste gemerkt haben, wie schwer ihr die Zeremonie zugesetzt hatte.
Schwer schluckend hob Aveline den Kopf, um Richards Blick zu begegnen. Das kleine Feuer in der Mitte flackerte schwach und tauchte sein Gesicht in ein dunkelrotes Licht. Eine Hälfte lag im Schatten.
Sie atmete tief ein und begann sodann, ihm von ihrem Abend zu erzählen. Sie versuchte jedes Gefühl, welches die Zeremonie in ihr ausgelöst hatte, in verständliche Worte zu fassen. Die unheimliche Aura des Priesters, die Hitze der Kerzen, der Gestank von Blut und Rauch, das Dröhnen des Gesangs, der immer noch in ihren Ohren hallte, als sängen die Geister das Lied weiter. Alles. Sie erzählte ihm alles.
Richard hörte ihr mit ernstem Gesichtsausdruck zu und nickte ab und an. Er hatte einst auch einem Ritual der Normannen beigewohnt, meinte er. Doch war dort kein Hohepriester dabei gewesen.
Avelines Stimme versagte, als sie ihm von der Opferung des Bäckerjungen aus ihrer Heimatstadt erzählte und wie sie danach fast in Schwierigkeiten geraten wäre. Heisse Tränen stiegen ihr in die Augen und trübten ihr die Sicht.
Ein leises Schluchzen schlich sich ihre Kehle hoch. „Ich halte es hier nicht mehr aus, Richard!", jammerte sie. „Ich kann hier nicht leben." Sie machte eine ausladende Bewegung mit den Armen, welche das Innere des Arbeiterhaus umfasste.
Richard nickte, als wüsste er, wovon sie sprach. Doch sagte er nichts. Weder fand er tröstende Worte, noch tat er etwas, um ihr Geborgenheit zu schenken. Denn es gab nichts, was er gegen ihren Schmerz tun konnte. Das wusste sie. Alles, was er tun konnte, war, für sie da zu sein. Mit ihr zu leiden und zu warten, bis sich die Trauer und die Verzweiflung wieder gelegt hatten.
„Ich will nach Hause." Dies flüsterte sie so leise, dass sie nicht sicher war, ob Richard sie gehört hatte.
Er sagte jedoch nichts mehr, fragte nicht nach weiteren Einzelheiten und liess sie weinen.
Aveline weinte so lange, bis das Feuer nur noch in glühenden Kohlen vor ihnen glimmte. Als die letzten Schluchzer sich gelegt hatten, räusperte sie sich.
„Richard?"
„Hm?"
„Warum sind den Wikingern eigentlich die Krähen so wichtig?"
Er hob überrascht den Kopf. „Wie meinst du das?"
Er lag auf seiner Pritsche und starrte an die Decke. Aveline tat es ihm nach und blickte aus ihrer Liege an die hölzernen Balken.
„Im Tempel gab es diese Schnitzereien an den Säulen", fuhr sie fort, „und auf dem grossen Stein in der Mitte, da waren auch zwei Raben eingeschliffen. Dieselben wie in Ragnars Festhalle." Sie machte eine Pause, während ihre Gedanken um die zwei Vögel kreisten. „Sind das Odins Krähen?"
„Hugin und Munin. Ja", kam die Antwort.
„Wofür stehen sie eigentlich? Die müssen doch irgendwas bedeuten, wenn die in allen wichtigen Gebäuden eingeschnitzt sind."
Aveline hatte diese Vermutung vor einiger Zeit aufgestellt. Warum sonst waren die grosse Hallen und der Tempel so meisterhaft verziert worden? Richard schien einen Moment zu überlegen.
„Weisheit", sagte er dann.
„Raben stehen für Weisheit?" Aveline linste ungläubig zu ihm rüber. „Du scherzt, oder?" Krähen konnten doch nicht für Weisheit stehen! Das waren fiese Viecher.
Richard zuckte bloss mit den Schultern. „Nein, ist kein Scherz. Sie stehen für Klugheit. Sie überschauen die ganze Welt und berichten Odin davon. Er würde nur die besten Gefährten an seine Seite nehmen."
„Sie stehen also nicht für den Tod?", hakte Aveline weiter nach.
Richard streckte sich in seinem Bett, sodass es leise unter ihm knirschte.
„Nein", entgegnete er, „das tun sie nicht. Sie sind die Überbringer von Nachrichten. Wenn du zwei Krähen zusammen siehst, dann bedeutet das, dass sie dir eine Botschaft überbringen wollen."
Das Feuer zwischen den beiden knisterte leise. Aveline schwieg. Sie hatte von zwei Krähen geträumt. War das eine Botschaft von den Göttern? Sie schüttelte schnell den Kopf. Das konnte nicht sein. Sie glaubte nicht an diese Geschichten.
„Warum?", wollte Richard wissen.
Sie überlegte weiter, was diese Krähen aus ihrem Albtraum bedeuten konnten. Wollten sie ihr wirklich eine Nachricht überbringen? Eine verschlüsselte Botschaft, vielleicht? Oder waren sie eher ein schlechtes Omen?
Der Traum hatte sie in Schweiss gebadet. Ihr Herz raste nur schon beim Gedanken an die Einzelheiten.
„Warum fragst du?", wiederholte sich Richard und setzte sich auf. Sein Blick fiel auf Aveline, die an ihrer Unterlippe kaute.
„Ich hatte da so einen Traum", gab sie schliesslich preis. „Den habe ich jetzt schon zweimal hintereinander geträumt."
„Welchen Traum?" Richard blickte sie neugierig an.
Aveline hatte ihm noch nie von ihren merkwürdigen Träumen erzählt, die sie manchmal plagten. Es grenzte an ein Wunder, dass er sie bisher noch nie laut schreiend aus dem Bett springen gesehen hat.
Sie drehte sich zur Seite um, sodass die Glut ihr Gesicht erhellte.
„In meinem Traum stehe ich in völliger Finsternis. Ich beginne zu rennen. Tief in mir spüre ich, dass ich davonlaufen muss. Etwas jagt mir hinterher. Um mich herum ist es stockdunkel. Es gibt kein oben und unten. Es ist alles dasselbe. Ich sehe nicht, wohin ich laufe, aber ich weiss, dass ich rennen muss. Mein Herz rast in meiner Brust. Ich will noch schneller laufen, aber meine Beine können nicht. Da höre ich dieses schreckliche Kriegshorn in der Ferne. Es bläst zwei Mal. So laut, dass es mir den Hals zuschnürt. Dann falle ich um. Und als ich da auf dem pechschwarzen Boden knie, erspähe ich zwei Krähen, die über mir in der Finsternis kreisen. Sie krächzen und starren mich mit ihren Knopfaugen an. Dann verwandelt sich der Boden in heisse Glut und ich verbrenne."
Richards Mund klappte auf. Die Empörung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Was für schreckliche Sachen träumst du denn?", stiess er aus.
Aveline richtete ihren Blick auf ihn. „Was, wenn die zwei Raben ein schlechtes Omen sind? Ein Zeichen ..."
Er legte den Kopf schief. „Wofür?"
„Für meinen Tod."
Auf seiner Stirn bildeten sich etliche Falten, eine tiefer als die andere.
„So ein Quatsch!", winkte er ab. „Das ist doch alles dummes Zeug. Nur eine zufällige Zusammensetzung von wirren Sachen. Ich glaube nicht, dass dein Traum irgendwas bedeutet."
Aveline zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht, was sie darüber denken sollte. Doch da war etwas, das ihr den Magen zusammenzog. Ein Gefühl. Eine merkwürdige Vorahnung, die sie nicht in Worte fassen konnte.
Sie schwiegen und lauschten dem leisen Knistern des Feuers. Die Wärme machte sie beide schläfrig.
„Und was ist mit dir, Richard?", lenkte Aveline das Gespräch in eine andere Richtung. Es war zwecklos, sich über ihre wilden Träume zu viele Gedanken zu machen. „Wovon träumst du in der Nacht?"
Richard gähnte und legte sich wieder auf seine Liege hin, die Decke zwischen die Beine geklemmt.
„Ich träume oft, dass ich unterwegs bin, mit meinem alten Karren von damals, als ich noch Kaufmann war", begann er. „Vor kurzem habe ich geträumt, dass Thomas — so hiess mein kleiner Esel — mich und den Karren mühsam durch die schlammige Strassen einer unbekannten Hafenstadt zieht. Der Wagen ist voll mit frischen roten Äpfeln, die ich auf dem Markt verkaufen möchte. Keine Ahnung, woher ich diese Äpfel habe. Eine Möwe landet auf meiner Bank und stiehlt mir einen Apfel."
Avelines Lider fühlten sich schwer an. Sie schloss erschöpft die Augen, während sie Richards Traumgeschichte weiter zuhörte.
„In einem anderen Traum, stehe ich auf einer Landstrasse", fuhr er fort. „Thomas iaht, weil er zu faul ist, um den Karren voll Zwiebeln den Hügel hinaufzuziehen. Er bockt und bewegt sich nicht mehr. Ich versuche, ihn an seinem dicken Hinterteil zu stossen, aber er bleibt stur. Ich fluche, doch es ist alles umsonst. Da kommt ein einsamer Reiter auf mich zu und fragt mich ..."
Er driftete ab.
„Was fragt er dich?", wollte Aveline wissen, aber Richard hatte sich selbst in den Schlaf geredet. Wahrscheinlich träumte er bereits von seinem Esel Thomas und seinem Karren voll Gemüse.
Träume hatten sehr wohl eine Bedeutung, dachte sich Aveline. Das wusste sie. Richard träumte von seiner eigenen Freiheit, auch wenn er es selbst nicht realisierte. Sein Karren, sein Esel. Das waren für ihn die Symbole seiner eigenen Unabhängigkeit.
Sie musste schmunzeln, als das leise Schnarchen von Richards Liege aus zu hören war. Wie sehr sie ihren Freund doch mochte. Sie war froh, dass sie in ihm einen Verbündeten gefunden hatte. Jemand, der für sie da war und ihr zuhörte. Jemand, der sie verstand und mit dem sie über die Eigenartigkeiten des Lebens sprechen konnte.
Hier, bei Richard im staubigen Arbeiterhaus, fühlte sie sich ein bisschen zuhause. Und dieses kleine bisschen Zuhause war alles, was sie jetzt gerade brauchte.
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