14 - Herbst
Die Festlichkeiten zum Einzug des Priesters hatten bereits begonnen. Am Eingang des Tempels brannten zwei Fackeln, die im Wind zitterten. Auf dem grossen Platz vor dem Tempel stachen weitere Leuchten in einem weiten Kreis aus dem Boden. Eine beträchtliche Gruppe hatte sich bereits auf dem Vorplatz versammelt. Die Leute kannten sich, plauderten gelassen und lachten.
Salka stand mit Hjalmar neben der Treppe, die zum Tempel führte. Sie massierte sich mit einer Hand den geschwollenen Bauch. Das Kind hatte sie letzte Nacht nicht schlafen lassen und sie befürchtete, dass sie auch diese Nacht wieder von den kleinen süssen Fusstritten in ihrem Inneren wach gehalten werden würde. Sie konnte es kaum erwarten, den kleinen Kämpfer, mit dem sie ihren Körper teilte, bald kennenzulernen.
Hjalmar berührte ihren Arm und deutete mit der Hand in die Menschenmenge. „Hab ihn gesehen. Dort steht er."
Salka folgte seinem Blick und erkannte ihren Bruder. „Muss er wieder so betrunken sein?", seufzte sie.
„Dem ist dieser Beutezug nicht gut bekommen. Er trinkt sich den Schmerz vom Leib", meinte Hjalmar.
Salka nickte gedankenverloren, ihre Augen noch immer auf ihren Bruder gerichtet. Er und sein bester Freund Loki lagen sich in den Armen, grunzend und grölend. Dann warf sich Loki auf Ruriks Schultern, im Versuch, auf seinen Rücken zu klettern. In dem benebelten Zustand, in welchem sich die beiden offensichtlich befanden, war es unmöglich, das Gleichgewicht lange genug zu halten, sodass Loki stabil auf Ruriks Schultern hätte sitzen können. Sie kippten um und stiessen dabei ein paar genervte Leute zur Seite. Die beiden Männer lachten laut über ihr eigenes betrunkenes Scheitern.
„Es beginnt", sagte jemand.
Salka löste den Blick von ihrem Bruder.
Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. Die Tür zum Tempel öffnete sich und der Tempelober trat ins flackernde Licht. Er trug ein weisses Leinengewand, welches ihm bis zu den Schienbeinen reichte. Seine nackten Füsse waren mit roter Farbe bemalt und sämtliche Haare waren ihm vom Kopf rasiert worden. Nur die Augenbrauen hatte man stehen lassen. Diese stachen schwarz in seinem bleichen Gesicht hervor. Seine Haut war fast so weiss wie das helle Gewand, welches er trug. Er wirkte gespenstisch.
Stille kehrte ein, die Versammelten warteten gespannt auf das, was kommen würde. Der Tempelober streckte seine Arme aus und reckte sie dem Nachthimmel entgegen. Die weisse Gestalt leuchtete im Licht der Flammen und liess die Dunkelheit um die Gemeinschaft noch verschlingender wirken. Es herrschte Totenstille. Nur der Wind zerrte an den Gewändern der Menschen und liess den Stoff leise rascheln.
Ein Hornstoss erklang und hallte durch die Nacht. Salka zuckte vor Überraschung zusammen.
Man schaute um sich, um auszumachen, woher der Ton gekommen war. Da richtete der Tempelober seinen Blick geradeaus und senkte seine Arme. Die Menschenmenge vor ihm öffnete sich, als zwinge sie eine unsichtbare Kraft auseinander.
Aus der Dunkelheit trat eine lange Gestalt.
Im Rhythmus dumpfer Trommelschläge schritt der Hohepriester durch die Passage, gefolgt von neun Dienern, welche in tiefen Tönen eine mystische Melodie summten. Sie trugen kleinen Schalen mit Nahrungsmitteln in ihren Händen und zwei zogen eine Ziege und einen Sklaven an einem Seil nach sich. Der Ziege hatte man einen Blumenkranz um den Nacken gehängt. Der Sklave trug eine Krone aus grünen Zweigen. Sein Blick war leer. Die Melodie klang düster und schwermütig.
Einige Zuschauer standen auf ihre Zehenspitzen, um einen Blick auf den vorbeiziehenden Hohepriester zu erhaschen, andere waren vor Ehrfurcht erstarrt.
Salka griff nach Hjalmars Hand.
„So aufregend!", flüsterte sie. Sie hatte schon immer einem Priestereinzug beiwohnen wollen. Ihr Herz pochte ganz aufgeregt in ihrer Brust.
Der Hohepriester erreichte die Treppe vor dem Eingang des Tempels und hielt inne. Er trug ein schwarzes Bärenfell über den Schultern. Der Kopf des Bären thronte auf seinem Schopf, die oberen Fangzähne bohrten sich in seine Stirn. Es sah aus, als würde er von dem Biest verschlungen werden.
„Man munkelt, Ragnar hätte den Bären mit baren Händen getötet, um ihm dem Priester zu schenken!", tuschelte jemand in den vorderen Reihen.
„Wenn das wahr ist, dann muss Ragnar unheimliche Kräfte haben!", hauchte jemand anderes.
Der Mann stieg die Treppe empor und begrüsste den Tempelober mit einem Nicken. Die Passage schloss sich. Die Zuschauer, welche in den hinteren Reihen gestanden hatten, versuchten, nach vorne zu drängeln. Jeder wollte den Priester und seine Gefolgschaft mit eigenen Augen sehen.
Die Diener summten und die Trommeln schlugen weiterhin in einem rauschenden Takt. Als der Hohepriester sich seinem Publikum zuwandte und die Hand hob, verstummten die unheilvolle Melodie und die Schläge umgehend.
Salka hielt die Luft an. Sie konnte ihren Blick nicht von diesem faszinierenden und gleichzeitig furchterregenden Priester lösen. So sehr hatte sie sich auf seine verheissungsvolle Ankunft gefreut und nun, da er vor ihr stand, glaubte sie zu träumen.
Es schien vielen Zuschauern gleich zu gehen. Dieser Mann zog alles in seinen Bann, als hielte er unsichtbare Fesseln in seinen Händen. Seine Augen glänzten im Flackern der Lichter. Sein Blick war intensiv, er wirkte präsent und gleichzeitig doch fern, als lebe ein Teil von ihm ausserhalb seiner selbst.
Sein Blick schweifte durch die Menschenmenge. Seine Augen verweilten bei einigen Personen, so als ob er etwas Besonderes in ihnen sah. Als ob er versuchte, sie zu lesen oder, als ob er durch ihre Augen hindurch ihre Schicksale sehen konnte. Andere würdigte er keines Blickes.
Ragnar tauchte aus der Menschenmenge auf und stellte sich neben den Hohepriester. Er widmete sich seinen Anhängern.
„Vestervig!", rief er. Seine Stimme riss Salka aus ihrer Trance. „Es ist mir eine Ehre, euch heute Abend zur Feier des grossen Priestereinzugs begrüssen zu dürfen!" Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Zuschauer. „Radvaldur hat eine lange Reise hinter sich", fuhr der Jarl fort. „Nun ist er endlich in seiner neuen Heimat angekommen." Ein verschmitztes Lächeln huschte über seine schiefen Lippen, als er die Hand auf der Schulter des Hohepriesters ablegte, den Blick allerdings weiterhin auf seine Anhänger gerichtet. „Brüder und Schwestern von Vestervig, bitte begrüsst inbrünstig den ehrenvollen Hohepriester. Der Beschützer und Wahrer unserer Ideale. Der Wanderer zwischen Schatten und Licht. Die Zunge unserer Götter!"
Tosender Applaus brach aus. Endlich konnten die Zuschauer ihrer Aufregung und Begeisterung freien Lauf lassen. Die Pforte zum Tempel wurde aufgestossen und setzte die Menschenmasse in Bewegung. Man folgte dem Tempelober, dem Hohepriester, den Dienern und Ragnar ins Innere des Gebäudes.
Der Hörgr sollte in dieser Nacht geweiht werden. Salka verkeilte ihre Finger in jene ihres Mannes. Er schenkte ihr ein Lächeln, dann traten sie gemeinsam in den Tempel.
Die Halle erstrahlte im Kerzenschein. Der Stein erhob sich in der Mitte, seine ovale Spitze ragte stolz und majestätisch in den Nachthimmel, wie ein Zeigefinger, der auf Odin und die Götter in Asgard deutete. Durch die Öffnung in der Mitte des Daches drang das fahle Licht des Mondes.
Salka betrachtete das Kunstwerk, das der örtliche Steinmetz auf der rauen Oberfläche eingeritzt hatte. Etliche Linien und Formen wanden sich ineinander, auseinander, zueinander und bildeten ein atemberaubendes Abbild von Odin. Der Stein war mit roten Runen verziert worden. Runen, welche die die Geschichten der Götter und Ahnen erzählten. Eine Gänsehaut spannte ihr bei dem Anblick dieses wunderschönen Steines über die Haut.
Mit einem kräftigen Trommelschlag wurde die Zeremonie eingeläutet.
Radvaldur stellte sich vor den Stein und begann in einer unverständlichen Zunge zu murmeln. Die Sprache der Asen und Wanen, munkelte man. Seine Dienerschaft legte nacheinander die Opfergaben auf den Boden. Bier, Milch, Honig, Brennnesseln, Äpfel, Gerstenkörner, Weizenmehl, die Ziege und der Sklave wurden um den Hörgr im Kreis platziert. Als die Diener ihre Opfergaben abgelegt hatten, stellten sie sich im hinteren Teil der Halle auf und begannen, ein Opferlied zu singen.
Salkas Herz ging auf. Hier an diesem heiligen Ort fühlte sie sich den Göttern näher. Es war, als könne sie ihre Präsenz in der Halle beinahe spüren.
Kräuterbündel wurden angezündet. Ein feiner Rauchfaden verbreitete sich in der Halle und hüllte die Gemeinschaft in einen trüben Dunst. Es roch nach Thymian und Lorbeeren.
Der Hohepriester begann sein Gebet: „Göttinnen und Götter unseres Landes und unserer Ahnen! Die Welt habt Ihr geschaffen und geordnet. Ihr schenkt uns Leben, Liebe und Kraft und segnet uns mit Willen, Weisheit und Wachstum. So wie unsere Ahnen Euch ehrten, wollen es auch wir tun! Für all Eure Segnungen bedanken wir uns und vergelten Gabe mit Gabe ..."
Ragnar reichte dem Hohepriester einen Dolch.
Radvaldur packte das Seil, an welchem der Ziegenbock angebunden war und schnitt dem Tier die Kehle durch. Das Blut floss in einem pulsierenden Fluss der Ziege den Hals hinunter und tropfte auf den Holzboden. Der Tempelober trug das sterbende Tier einmal um den Stein herum, sodass sich ein blutiger Kreis bildete. Sein weisses Gewand färbte sich dunkelrot. Als er den Stein einmal umkreist hatte, legte er das Tier behutsam an den Platz zurück, wo es soeben noch gestanden hatte.
Nun wandte sich der Hohepriester dem Sklaven zu. Dieser zitterte am ganzen Leib, seine Augen weit aufgerissen. Zwei Diener kamen dem Priester zu Hilfe, hielten den Sklaven an den Armen fest und zwangen ihn auf die Knie.
Radvaldur packte den Sklaven am Hinterkopf und fuhr fort: „Wir flehen euch an. Gewährt uns weiter, was wir erbitten ..." Der Dolch blitzte im Kerzenlicht, als er seine Kehle durchschnitt.
・・・
Blut. So viel Blut.
Und dieses grässliche Gurgeln.
Aveline presste beide Hände auf den Mund. Ihr wurde übel. Sie wollte schreien, brüllen, doch sie durfte nicht. Heisse Tränen schossen ihr in die Augen.
Claude verblutete vor dem grossen Stein, während der Priester hinter ihm stand und seinen Kopf in den Nacken drückte. Das Blut floss wie ein Wasserfall aus der Kehle des Bäckerjungen. Pulsierend. Im Rhythmus seines immer langsamer werdenden Herzschlages.
Aveline stand in den hinteren Reihen im Dunkeln. Sie war ihrer Herrin zum Tempel gefolgt, weil sie ihr versprochen hatte, am Fest des Priestereinzugs teilzunehmen. Salka wollte ihr das unbedingt zeigen und so war sie mitgegangen. Nun bereute sie den Entschluss, ihrer Besitzerin kulturelles Interesse vorgeheuchelt zu haben.
Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem.
„... und belohnt unsere Treue und Ehrfurcht mit Reichtum und Ehre", hörte sie den Priester sprechen. Seine Stimme war so tief. Erdig. Urtümlich. Als könne er damit die Toten zum Leben erwecken. „So war es bei unseren Vätern und Müttern, so sei es bei uns. Heil den Asen! Heil den Wanen! Heil unseren Göttern!"
„Heil unseren Göttern! Heil Odin!", riefen die Diener des Priesters unisono.
„Heil unseren Göttern! Heil Odin!" Die ganze Halle vibrierte, als die Bewohner mit dem Priester einstimmten.
Aveline spürte ihren Herzschlag an den Schläfen. Der Raum drehte sich. Sie klammerte sich an einer Säule fest. Eine unangenehme Hitze kroch ihr ins Gesicht. Sie hatte noch nie einen Menschen verbluten sehen. Sie konnte Claude nicht mehr länger beim Sterben zuschauen.
Zittrig drehte sie dem Geschehen den Rücken zu. Hinter ihr standen ein paar junge Frauen im Dunst, die belustigt der Opfergabe beiwohnten. Eine davon grinste Aveline an. Sie erschrak, denn sie kannte das Gesicht, aber konnte es in dem Moment nicht einordnen.
Hinter ihr nahm das Ritual seinen letzten Lauf. Der metallische Geruch des Blutes mischte sich mit dem Rauch der verbrannten Kräuter. Der Gesang der Priesterdiener wurde lauter. Beschwörender.
Avelines Magen drehte sich um. Sie stürzte aus der Halle und übergab sich auf dem Boden. Der Platz, auf dem zuvor alle noch gestanden hatten, war menschenleer. Nur die Fackeln flackerten einsam in der Dunkelheit.
Mit wackeligen Knien setzte sich Aveline auf die Treppe, den Rücken zum Eingang des Tempels gerichtet. Ein sanfter Wind strich ihr durch die Locken. Die Schweissperlen auf der Stirn kühlten ihren heissen Kopf. Der Singsang der Diener drang nach draussen und wurde vom Wind in die Dunkelheit der Nacht getragen.
Eine Hand hielt sie auf ihren Bauch gepresst. Sie schluckte den bitteren Gallengeschmack runter und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Vorsichtig hob sie den Kopf. Niemand schien sie gesehen zu haben. Sie sass alleine auf der Treppe.
Ein letzter ohrenbetäubender Hornstoss beendete die Zeremonie. Das Geräusch liess Aveline zusammenzucken. Wie sehr sie diesen Ton verabscheute! Sie kniff die Augen zusammen und atmete die Nachtluft ein, um ihren aufgewühlten Magen zu beruhigen. Um die Angst in ihrem Herzen zu stillen.
Das Gemurmel wurde lauter, als hinter ihr die Bewohner der Stadt allmählich aus dem Tempel strömten. Aveline rutschte zur Seite, damit man an ihr vorbeigehen konnte.
„Bist du nicht die Unfreie der Jarsons?", fragte jemand.
Aveline erhob sich und drehte sich zur unbekannten Person um. Die junge Frau, die an ihrem erstem Arbeitstag aus Ruriks Zimmer gestolpert war, stand mit verschränkten Armen vor ihr: Inga. Ein Grinsen zierte ihr Gesicht.
„Sind denn Sklaven im Tempel überhaupt erlaubt?", fragte Inga und beäugte Aveline von oben bis unten.
Ihre blonden Haare waren kunstvoll zu einem Kranz geflochten worden, der sich um ihren ganzen Schopf wand. Sie trug ein moosgrünes Kleid mit einer silbernen Brosche auf der linken Schulter. Ein Langschiff mit gehisstem Segel glänzte Aveline entgegen. Inga gehörte zur Familie der Schiffsbauer.
Aveline benetzte sich die trockenen Lippen mit der Zunge. „Meine Herrin hat mir befohlen, an der Zeremonie teilzunehmen", erklärte sie.
Ingas Augenbrauen jagten in die Höhe. „Ah ja?" In ihrem Blick lag reines Misstrauen.
Aveline spürte, dass sie vorsichtig sein musste. „Sie will mir eure Rituale zeigen", führte sie aus, denn genau so war es gewesen. Salka hatte ihr voller Begeisterung von dem Fest erzählt und Aveline dazu überredet, mitzukommen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie wahrscheinlich lieber in ihrer Arbeiterhütte geblieben. Wenn sie bloss gewusst hätte, dass ...
Ein lautes Schnauben kam von der Wikingerin. „Wozu das denn?" Ihre Stimme klang wie das Zischen einer Viper. „Als Sklavin hat dich das nicht zu interessieren. Du bist nur dazu da, unseren Dreck wegzuwischen."
Aveline senkte ihren Kopf als Zeichen ihrer Unterwürfigkeit. „Ich tue nur, was meine Herrin verlangt hat", murmelte sie. „Es tut mir leid, wenn dir meine Anwesenheit unangenehm ist." Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich für ihre Existenz zu entschuldigen. Das Zittern ihres Kinns verbarg sie, indem sie den Kopf gesenkt hielt.
„Deine Anwesenheit stört nicht nur mich", knurrte Inga und schubste die Sklavin von sich, „sondern auch die Götter!"
Der plötzliche Stoss traf Aveline so unerwartet, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings auf den Boden fiel. Inga stellte sich breitbeinig vor ihre Füsse, während sie sich wieder aufrappelte und die Tannennadeln und den Schmutz von den Händen klopfte.
„Du bist eine Andersgläubige." Das Feuer der Fackeln flackerte in Ingas Augen wie eine Warnung. „Du hast nicht das Recht unseren Göttern nah zu sein!"
Aveline traute sich kaum, der wütenden Wikingerin ins Gesicht zu blicken. Sie hatte kein Recht sich zu wehren. Als Sklavin musste sie solche Misshandlungen und Beschimpfungen über sich ergehen lassen.
„Bitte entschuldige, Inga", bat sie um Verzeihung. „Es ist wohl besser, wenn ich jetzt zurück zum Hof gehe." Sie machte Anstalten, sich umzudrehen.
„Willst du etwa abhauen?", rief Inga plötzlich und packte sie am Oberarm.
Aveline riss entsetzt die Augen auf. „Nein!", stiess sie aus.
„He, aufgepasst!", schrie Inga über die Schulter. „Ich glaube hier will eine Unfreie fliehen!"
Avelines Blut gefror in ihren Adern. Eine solche Anschuldigung könnte ihr Ende bedeuten. Sie wollte ihren Arm aus Ingas Umklammerung ziehen, doch diese drückte die Finger nur fester in ihr Fleisch. Es scharten sich immer mehr Leute um sie. Männer und Frauen, die sie misstrauisch taxierten.
Die Angst kroch in ihr hoch. „Nein, Inga. Bitte—", flehte sie, doch da surrte Ingas Handfläche über ihre Wange.
„Nenn mich nicht beim Namen!", fauchte sie.
Neben der Wikingerin stellte sich eine zweite Frau in einem blauen Kleid dazu, die Haare braun und zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing.
„Was ist mit der?", fragte sie.
Inga drehte den Kopf. „Die will davonrennen", antwortete sie mit einem hämischen Lächeln im Gesicht.
Die Frau im blauen Kleid schmunzelte. Ein interessierter Ausdruck zog über ihr Gesicht.
„Nein, ich—", wollte Aveline zu ihrer Verteidigung sagen, doch da wurde sie von einer dritten Frau mit blonden Locken unterbrochen, die sich zu den anderen beiden gesellte.
„Das darfst du nicht, du Dreckstück!"
Aveline biss sich auf die Unterlippe. Ihre Augen suchten die Menschentraube ab, die sich um sie geschart hatte — auf der verzweifelten Suche nach Hilfe. Nach Hjalmar oder Salka. Oder Rurik. Aber da war niemand.
„Wir sollten Ragnar rufen", meinte die Frau im blauen Kleid.
„Das finde ich auch", schloss sich Inga ihr an.
„RAGNAR!", rief die Dritte. „Ragnar, komm mal her! Ich glaube wir haben eine Kandidatin für eine Hinrichtung."
„Bitte", flehte Aveline und hob die Hände beschwichtigend vor ihren Körper. Es war ihr einerlei, wenn nun alle ihre Angst am Zittern ihrer Hände sahen. „Das ist ein Missverständnis", sagte sie. „Ich will nur zu meiner Herrin zurück!"
„Unsinn!", zischte Inga. „Du wolltest davonlaufen! Dann, wenn niemand hinschaut!"
Aveline öffnete ihren Mund, in der Absicht, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen, doch ihr wurde abermals das Wort abgeschnitten.
„Dir werden wir noch Manieren beibringen, Miststück", fügte die Frau mit den Locken hinzu. In ihren Augen glänzte die Mordlust. „Hier in Nordjütland laufen die Dinge anders als in deinem niederträchtigen Land. Hier wird man für seine Fehler bestraft." Sie blickte um sich. „Ragnar, wo bleibst du verdammt nochmal?"
Die drei Frauen wurden allmählich ungeduldig.
Aveline strauchelte rückwärts, doch wurde sie von jemandem hinter ihr wieder in den Kreis geschubst, der sich um sie herum gebildet hatte. Man starrte sie an. So viele unbekannte Gesichter, Fratzen, Barbaren. Aveline drehte sich um ihre eigene Achse, wie ein Tier in der Falle. Es gab kein Entkommen. Man hatte sie umzingelt.
„Was passiert hier?", drang eine tiefe Stimme durch die Menge.
Aveline drehte sich ruckartig um. Hjalmar drückte sich durch die Zuschauer. Verwirrung und Bestürzung zeichneten sich in seinem Gesicht ab, als er um sich blickte und realisierte, was gerade geschah.
„Diese Sklavin wollte davonrennen", sagte die im blauen Kleid.
„Ich habe das verhindert", ergänzte Inga.
„Ragnar soll sie hinrichten", meinte die Dritte.
Hjalmar blieb stehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich, mit jedem tiefen Atemzug, den er nahm. Es war, als versuche er sich zu beherrschen. In seinen Augen tobte allerdings ein fürchterlicher Sturm.
„Niemand wird hier hingerichtet." Der Ton, den er angeschlagen hatte, liess keine Widerrede zu. Er schritt in die Mitte des Kreises, packte Aveline am Ellbogen und zog sie an sich. „Die gehört mir", sagte er und liess seinen Blick durch die Menge schweifen, als wolle er sichergehen, dass man ihn verstanden hatte, „und wegrennen kann die eh nicht. Sie kann nicht einmal Norden und Süden voneinander unterscheiden."
Jemand schnalzte mit der Zunge. Hjalmar ignorierte das und drückte sich mit seiner Gehilfin durch die Leute. Man liess den stämmigen Jütländer durch.
・・・
Inga und ihre Freundinnen starrten den zwei enttäuscht hinterher. Sie hatten sich einen anderen Ausgang dieser Konfrontation gewünscht. Wenn es nach Inga gegangen wäre, hätte die verdammt schöne Sklavin in dieser Nacht ihr Ende gefunden. Nur leider kam ihr dieser dumme Bauer dazwischen.
Die Schaulustigen, die sich in der Hoffnung auf ein Spektakel um sie geschart hatten, verliessen den Vorplatz, bis nur noch die drei Frauen vor dem Tempel standen.
„Heute hat sie Glück gehabt", zischte Inga in die Finsternis, als die Silhouetten von Hjalmar und der Sklavin zwischen den Bäumen verschwanden.
Torvi, die neben ihr in ihren blauen Kleid stand, stützte die Hände in die Hüfte. Als treue Freundin hatte sie das böse Spiel natürlich mitgemacht.
„Warum mögen wir sie nicht?", wollte sie wissen.
„Weil sie eine Sklavin ist", antwortete Inga. „Die neue von Salka." Bei den Worten bleckte sie ganz unwillkürlich die Zähne. Es war ihr überhaupt nicht recht, dass Ruriks Familie eine weitere Sklavin aufgenommen hatte.
„Ich wette, die lässt Hjalmar ran", meinte Helga neben ihr und strich sich eine Locke von der Stirn.
Torvi — so töricht, wie sie war —, glaubte ihrer Freundin das natürlich sofort. „Meinst du?", fragte sie mit einem Hauch Neugierde in der Stimme. „Lebt nicht auch Rurik bei seiner Schwester?"
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Inga nickte wortlos.
„Vergnügt er sich echt auch mit ihr?", bohrte Torvi weiter nach, ohne zu merken, dass ihre Freundin neben ihr zusammenzuckte.
Inga drehte sich ruckartig zu ihr um und verpasste ihr eine Ohrfeige. Das laute Klatschen gemischt mit Torvis überraschtem Schmerzensschrei wurde vom Wind davongetragen. Torvi starrte sie entsetzt an, eine Hand auf der roten Wange.
„Sag sowas nicht!", fauchte Inga. „Rurik würde das nie tun. Er liebt mich!" Ihre Worte waren hart, aber deutlich. Inga wusste, dass ihre weinerliche Freundin sowas nicht ertrug und wahrscheinlich gleich zurück zu ihren Eltern rennen würde, um sich den Rest der Nacht die Augen auszuheulen. Doch Inga war das einerlei.
Niemand stellte ihren Rurik in ein schlechtes Licht. Niemand. Auch nicht ihre beste Freundin.
Torvis Unterlippe zitterte. Sie kämpfte mit den Tränen, doch sagte sie nichts, um ihr zu widersprechen.
Helga seufzte laut daneben. Recht gelangweilt strich sie sich ihr braunes Kleid glatt. „Es ist spät", sagte sie, ohne auf den Zwist der beiden einzugehen. „Ich geh dann mal." Sie verabschiedete sich mit einem Winken und lief zurück in Richtung Dorf.
Torvi blickte Inga eine ganze Weile noch entsetzt an, als würde sie auf eine Entschuldigung warten. Doch die gab sie ihr nicht. Für sowas würde sich Inga nie entschuldigen.
Wie erwartet, verliess Torvi den Vorplatz, ihre leise Schluchzer verbergend, eine Hand noch immer auf ihrer brennenden Wange, den Blick gesenkt.
Inga stand alleine in der Dunkelheit und starrte weiterhin in die Richtung, in welche Ruriks Sklavin verschwunden war. Sie würde dieser Kuh das Leben schwer machen, beschloss sie.
Bei dem Gedanken formte sich ein Lächeln auf ihren Lippen.
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